Sturmflut
Normal's not normal
when you're not normal.
Als ich meinen Mailanbieter wechselte, geschah das nicht ohne ein gewisses Gefühl von Erleichterung. GMX ist schließlich mittlerweile auch nicht unbedingt bekannt für Fairness. Der Grund meines Wechsels war ein Fehlklick meinerseits auf ein dem Postfach vorgeschaltetes Upgrade-Werbungs-Angebot - meine Augen waren leider schneller als der Verstand, und dort, wo sich üblicherweise der "Weiter zum Postfach"-Button befunden hatte, hatten die cleveren Leute von GMX dieses Mal einen "Angebot ausprobieren"-Button stationiert. Farblich genau gleich, und wie gesagt, Augen und Hände schneller als der Kopf. Es brauchte Nerven, Aufwand und eine ernst gemeinte Androhung rechtlicher Schritte, um die selbstverständlich kostenpflichtige Sache rückgängig zu machen. Dass ich fürderhin nicht bei GMX bleiben wollte, versteht sich von allein. So viel vorweg.

Nach einigem Hin und Her bin ich bei freenet gelandet, was allerdings bezüglich des dem Freemail-Angebot angeschlossenen sogenannten News-Portals im Vergleich zum Regen bei GMX die sprichwörtliche Traufe darstellte. Mit dem Service bin ich recht zufrieden, aber die "Meldungen" bei freenet verdienen nicht einmal die Bezeichnung "unterste Schublade". Man mag lapidar fragen, was ich denn wohl erwartet habe, denn Freemail-Anbieter sind ja nun nicht unbedingt für ihr Niveau berühmt und schließlich kostenlos - dafür müsse man schon ein bisschen was ertragen. Aber was sich bei freenet an Sexismus niederschlägt (von dem restlichen Rummel mal ganz abgesehen), das ist schon haarsträubend. Ganz gleich, ob man dort die Formel für die perfekten Brüste präsentiert, ob es gilt, die 10 intimsten Wünsche der Frauen zu enthüllen oder die 10 definitiven Merkmale, an denen der geneigte Leser erkennen soll, dass eine Frau sofort Sex will - es gilt mehr denn je die Maxime "Sex sells". Kein Tag vergeht, an dem mir freenet nicht ein paar neuer, überdimensionierter Titten um die Ohren haut oder ein in zarte Wäsche gehülltes, dämlich-lasziv dreinblickendes Magermodel.

Nun bin ich nicht prüde, ich habe nichts gegen Nacktheit, nichts gegen zwischenmenschliche Körperlichkeiten, aber was einem dort serviert wird, hat weniger mit der Realität als mit den von den "Redaktions"-Mitgliedern vermuteten Wünschen der Leserschaft zu tun - wobei der empirische Nachweis über diese Wünsche noch aussteht und vermutlich auch nicht mehr nachgeliefert wird. Ich persönlich finde sie zum Kotzen, diese platinblonden Abziehbildchen mit ihren halboffen stehenden, belipglossten Mündern, in den Himmel gereckten Stilettofüßchen und glattretuschierten Arschbacken.

Heute lautete die Überschrift eines Artikels "Foto-Projekt zeigt normale Frauen nackt!"

Die Neugier packte mich, insbesondere angesichts der Formulierung "normal", weil ich herausfinden wollte, was die freenet-Autorenschaft denn so für normal hält. Der Artikel war schnell überflogen, aber doch wieder in freenet-typischer Manier verfasst, also blätterte mich mit wachsender Faszination durch die Fotografien der verlinkten Original-Webseite Nu Project. Matt und Katy Blum haben Frauen nackt fotografiert, die sich für dieses Projekt freiwillig bei ihnen meldeten. Sie durften in die Wohnungen der Frauen kommen und erhielten auf diese Weise einen äußerst intimen Einblick in das Leben dieser Menschen, die sich also in mehrfacher Hinsicht nackt zeigten. Dazu gehört enormes Vertrauen, und ich empfinde Dankbarkeit dafür, dass die Fotografierten selbiges aufbringen konnten. Die beiden Blums zeigen mit ihren Fotos nicht nur, dass wohl die meisten Frauen von dem kruden Ideal, das in unseren Köpfen existiert, abweichen. Sie zeigen auch eine natürliche Nacktheit, die zuvorderst etwas mit Körperlichkeit zu tun hat und erst nachrangig und nur möglicherweise mit Erotik.

Der besagte freenet-Artikel, der mich auf die Spur dieser Fotografien brachte, hat nun allerdings so einiges vollkommen missverstanden und setzt, wie üblich, lediglich auf das Zugpferd "Bilder von nackten Frauen". Alles sexuell aufzuladen ist halt auch so eine Marotte dieser Konsorten. Bezeichnend ist, dass in der kleinen Bildershow bei freenet nur eine schmale Auswahl der Fotos gezeigt wird, die im Nu Project entstanden sind. Das sind - bis auf eine einzelne Ausnahme - Bilder derjenigen Frauen, deren Körper sich eben doch relativ nah am gesellschaftlichen Ideal bewegen: Schmal und schlank, mit glatter Haut, langen Beinen. Das einzelne Foto einer Frau mit Hängebrüsten und Cellulite am Bauch hat wohl lediglich Alibi-Funktion und bleibt in der Reihe wieder das Unnormale. So sagt freenet den Frauen eben doch, wie sie als "normale" Frauen auszusehen haben, denn durch die Selektion der Bilder klammern die Schreiberlinge all die Facetten aus, die Katy und Matt Blum in den Galerien auf ihrer eigenen Seite zeigen. Zur Erklärung der Bilderstrecke fügt der Mailanbieter hinzu: "Wir zeigen exklusiv ein paar daraus, denn perfekte, retuschierte Models können wir nicht mehr sehen." Mehr Heuchelei war selten.

Die freenet-"Autoren" schreiben: "Das "The Nu Project" ist ein sehr authentisches Projekt mit einem Ziel: Frauen zu zeigen, wie sie eben wirklich aussehen. Rund, aber sexy! Kurvig, aber glücklich!" Stimmt, das Projekt ist sehr authentisch, weil die fotografierten Frauen authentisch sind und weil die Fotografen ihnen den Raum dafür geboten haben. Wer jetzt allerdings nur rundliche Frauen erwartet, die ebenso "sexy" in die Weltgeschichte drapiert sind, wie es bei freenet üblich ist, der wird enttäuscht. Denn "sexy", "kurvig" und "glücklich" trifft auf die Abgebildeten nicht durchweg zu. Die freenet-Schreiberlinge führen konsequent ihr Frauenbild weiter - da konnten Matt und Katy Blum noch so gute, authentische Fotografenarbeit leisten. Der freenet-Artikel spricht beispielsweise unter anderem von der Notwendigkeit einer gepflegten Intimzone, um dann im Anschluss großzügig zuzugestehen, dass es aber schon irgendwie okay sei, wenn eine Frau dunkle Härchen auf den Armen habe und diese auch dort belasse. "Sich unter der Dusche fotografieren zu lassen, nackt, nass und schön, dass ist vorbildlich. Und keine samtige Haut." Man möchte gar nicht weiter denken, was bei freenet noch alles für "vorbildlich" gehalten wird. Und auch die nächste Feststellung liegt voll daneben: Sie zeigen sich schamlos und mutig." Das sind nichts weiter als hohle Phrasen - Buzzwords für Leser, die sich gern sexuell inspirieren lassen möchten und freenet als zuverlässige Quelle in diesen Dingen zu schätzen wissen.

So schamlos wie behauptet sind die von Katy und Matt fotografierten Frauen überhaupt nicht. Manch eine lächelt verlegen oder gar nicht, hält die Arme um den eigenen Körper geschlungen oder die Hände vor schützenswerte Partien und ist damit erst recht menschlich. Die Wunschvorstellung der schamlosen, allzeit bereiten und sich stets über die eigene Außenwirkung bewussten Frau wird beim Nu Project eben nicht erfüllt. Die Fotos zeigen viele verschiedene Frauen. Offene und schüchterne, dünne und dicke, sie zeigen faltige Haut und glatte, tätowierte und unbebilderte, und gerade das macht die Fotos so interessant. Die Vielfalt der Fotografierten bietet jeder Betrachterin die Möglichkeit, sich ganz oder zum Teil wiederzufinden und festzustellen, dass es Menschen gibt, die ihr unähnlich, Menschen, die ihr ähnlich sind. Das ist in Zeiten, in denen uns ein sehr monochromes, starres Idealbild allerorten (nicht nur bei freenet) vorgehalten wird, schon beinahe so etwas wie eine kleine Revolution. Die Bilder stellen das, was ist und die, die sind, in den Vordergrund.

Auch die Artikelverfasser bei freenet merken an, da seien "(...) dicke, dünne, schwangere, brustamputierte, abgemagerte, selbstbewusste, kritische, farbige, kranke und unperfekte Frauen dabei.". Aber diese werden bei freenet konsequenterweise nicht gezeigt. Weder die Frau ohne Haare mit magerem Körper und langer Narbe auf dem Bauch, die vielleicht gerade eine Chemotherapie hinter sich hatte, noch die dicke Frau mit den Dehnungsstreifen auf den Brüsten, noch die zierliche Südamerikanerin mit den offensichtlichen Spuren einer Brustoperation. freenet zeigt in seiner kleinen Fotostrecke nicht die blassen, ungebräunten mit den Speckfalten und auch nicht die eher burschikosen Frauen, von den älteren mal ganz abgesehen. Ein Makel bleibt in diesem schlechten Amateurartikel nach wie vor ein Makel und das Auftauchen der makelbehafteten Frauen vor der Kamera ein Trotzdem!, keine Selbstverständlichkeit. Dass in der Reihe der genannten vermeintlichen Makel auch das Attribut "farbig" mit auftaucht, ist eigentlich nur logisch. Das Andere ist immer noch anders, immer noch exotisch, immer noch unnormal, trotz anderslautender Behauptungen.

Im Grunde sollte niemand mehr Frauen (und auch Männern) sagen, wie sie aussehen müssen. Dass Matt und Katy Blum mit ihren Bildern zeigen, wie Frauen tatsächlich aussehen, ist meines Erachtens ein großer Verdienst. Die Vielfalt und vermeintliche Fehlerhaftigkeit als Normalität zu begreifen ist wichtig, wenn man sich selbst annehmen will. Viele Frauen wollen das indes aber nicht und arbeiten hart daran, sich zu optimieren, sich in den Griff zu kriegen, sich zu formen und zu gestalten und sich die Illusion von Kontrolle zu geben. Die Diktatur, die den Frauen sagt, wie sie zu sein haben, wird auch durch diejenigen Frauen mitgetragen, die sich selbst an diesen Richtlinien orientieren. Am Strand wird brav ein Pareo um die Hüfte gewickelt, weil man der Auffassung ist, der Welt die Dellen am eigenen Hintern nicht zumuten zu können. Man fürchtet das Starren der anderen und die Verurteilung der körperlichen Mängel. Bei den ersten Falten am Hals bricht die große Krise aus. Die Hakennase wird abgehobelt, die Zornesfalte weggespritzt. Auf diese Weise kommen Menschen, die nicht nach den gängigen Maßstäben perfekt sind, immer weniger oder gar nicht mehr ans Tageslicht - ergo gibt es sie praktisch nicht. Das wiederum verändert den Blick.

Diese Form der massengetragenen Diktatur beraubt uns unseres Menschseins. Frauen, aber auch Männer werden zunehmend zu Kunstwesen, die die Grunderfahrung machen müssen, in ihrem Sein nicht akzeptabel zu sein. Die Frauen aber, die die Blums fotografiert haben, wirken auf eine Art präsent, die jeglichen Zweifel an ihrer Existenzberechtigung ad absurdum führt, und das macht sie für mich so unglaublich anziehend. Der breite Filzstift eines plastischen Chirurgen hätte an diesen Menschen eine Menge zu markieren, man könnte gut an ihnen verdienen. Sich mit etwas Geduld durch die Bildergalerien zu klicken, bietet ein angenehmes Gegengewicht zu den gängigen täglichen Medien, die uns mit realitätsfernen Images bombardieren und uns vollkommen ungerechtfertigt Komplexe einreden. An diesem hoch errichteten Ideal hängen ganze Industrien, die nicht schlecht von eben jenen Komplexen leben. Mit sich selbst zufriedene Menschen sind nicht profitabel. Die Tatsache, dass sich Frauen so zeigen wie sie sind, ist ein erster Schritt in die Richtung, so manchem das Geschäft gründlich zu verderben.

Nicht nur inhaltlich sind die gängigen Schönheits-Attribute problematisch. Problematisch sind sie auch deshalb, weil sie einen Frauenkörper als etwas noch zu Werdendes definieren, als Ansammlung ungelebter Möglichkeiten, als Potential, das nicht auszunutzen eine sträfliche Verfehlung wäre. Du bist mangelhaft, Du bist fehlerhaft, Du musst korrigiert werden. Das macht die Maßstäbe der herrschenden Wahrnehmung so total und zieht alle vorhandene Energie fort von wirklich wichtigen Dingen, hin allein zur Beurteilung der Optik. Auch die Fotos des Ehepaares Blum bleiben natürlich optisch, aber sie weiten den Blick wieder, hin zum Menschlichen in seiner ganzen Bandbreite.

Beim Betrachten von Katy und Matt Blums Aufnahmen wird klar, dass Schönheit viel mehr ist als äußerliche Erscheinung. Schönheit entsteht in der Tat im wohlwollenden, liebevollen Blick des Betrachters auf das, was ist. Damit Schönheit diesen Kalibers entstehen kann, muss nicht vorhanden sein, was man gemeinhin als schönes Äußeres bezeichnet. Eigentlich eine simple und kraftvolle Philosophie, die sich gut gegen die grellen, künstlichen Idealbilder stellen lassen sollte.