Sturmflut
Dienstag, 1. Dezember 2009
Familienministerin
Ja, ich weiß, ich soll nichts auf die Schlagzeilen gewisser Boulevard-Medien geben. Trotzdem brachte die BamS am vergangenen Sonntag meinen persönlichen Aufreger.

Deutschland hat nach dem Fauxpas des Ex-Arbeits- und Ex-Ex-Verteidigungsministers jetzt eine neue Familienministerin. Mit Kristina Köhler eine junge (wow, 32!!) Frau im Amt, worüber ich mich zugegebenermaßen sehr freue, auch wenn sich erst noch herausstellen muss, ob sie ihre Sache besser macht als Zensursula.

Also, die BamS: Die Titelschlagzeile sagte etwas wie "Die Generation Facebook kommt an die Macht!", was einen Aussagewert hat, der gegen null tendiert. Das an sich überrascht uns auch nicht weiter. Aber außerdem: "Sie ist kinderlos!"

Was will uns der Autor damit sagen?

Mein Gott! Sie ist kinderlos! Was für ein Affront!! Sie hat keine Ahnung von den Freuden des Windelnwechselns und davon, wie die Vitamine in Zitronenbonbons kommen und dass überall Keime lauern und das Wohl unserer Kinder gefährden. Sie weiß nichts von der unbarmherzigen Aufgabe, ein "erfolgreiches kleines Familienunternehmen" zu führen und muss keine kleinen Krümel von einer Frühüberforderung zur nächsten kutschieren. Das disqualifiziert sie natürlich völlig als Ministerin.

Würde die Zahl der Kinder etwas über den Qualifikationsgrad einer Person für das Amt der Familienministerin aussagen, dann hätten wir Großes von Frau von der Leyen erwarten dürfen.

Jetzt, da nachgewiesen ist, dass solcherlei Schluss wenn nicht sogar unzulässig, dann aber zumindest in diesem Fall umkehrbar ist, besteht im Bezug auf die kinderlose Kristina Köhler zumindest noch ansatzweise berechtiger Anlass zur Hoffnung.

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Montag, 23. November 2009
Glaubensfragen
Im Ohr heute habe ich (und deswegen ist es auch meine Musik des Tages) den wunderbaren Titel "Belief" von John Mayer.

Er spricht mir aus dem Herzen, wenn er feststellt "Everyone believes, from emptiness to everything..." Das ist wohl so, keiner kann sich wirklich hundertprozentig davon freisprechen, an irgendwas zu glauben. Manche glauben an Gerechtigkeit, andere an die Demokratie, wieder andere an den Zusammenhalt der Familie, die menschliche Vernunft oder das Fliegende Spaghetti-Monster. Einige glauben an Gott, andere an Jahwe und wieder andere an Allah.

Glaube ist etwas, über das sich schwer streiten lässt, und dennoch würde ich es manchmal gern. Aber ich weiß auch, dass ein Streit über Glauben keine Früchte tragen würde. Ich wäre nichts besser als der fanatischste Glaubensverfechter selbst, wenn ich darauf beharren würde, sein Glaube sei nichts, und das, was ich ihm entgegenzusetzen habe, alles.

Dennoch, wenn mir eines gewaltig zum Halse heraushängt, dann ist es der missionarische Eifer und das starre, dogmatische Denken von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, das bei so vielen gottgläubigen Menschen leider erkennbar ist. Es scheint für so manchen Gläubigen nichts wichtigeres zu geben, als die eigene Glaubenswelt als glühendes Beispiel für den richtigen Weg allen Andersdenkenden und -fühlenden entgegenzuschleudern.

Mich ficht das in meiner eigenen Haltung weniger an. Ich habe mir einen gewissen Relativismus im Bezug auf viele Dinge ohnehin schon angeeignet - zumindest aber in soweit, als dass nicht meine eigenen "Wahrheiten" für andere Menschen gültig sein müssen. Alles, was ich zu sagen habe, fußt auf meiner persönlichen Erfahrung. Daraus ableiten kann ich auch, dass die persönlichen Erfahrungen anderer nicht für mich gültig sein müssen - es aber durchaus noch werden könnten. Oder eben auch nicht.

Was ist aber mit denen, die das System von Sündigkeit und Strafe, von rechtem und falschem Leben internalisiert haben? Wenn nun jemand daherkommt und großspurig verkündet "Ohne Jesus ist alles nichts!" oder "Wem es schlecht geht, der hat nur noch nicht genügend gelernt, auf Gott/die Bibel/Jesus Christus zu vertrauen!!", kann das entsprechend erzogene Menschen in abgrundtiefe Löcher ziehen und sie davon überzeugen, nichtswürdig zu sein und ihr Elend verdient zu haben. Das ist grausam und unmenschlich.

Schön, wenn jemand mit seligem Lächeln bezeugen kann, die Gegenwart Gottes erfahren zu haben. Weniger schön, wenn jemand im Brustton der Überzeugung kundtut, dies sei die einzige aller möglichen Formen der Erlösung, und Erlösung sei der einzig anzustrebende Sinn, und Sinn sei nur in Gott zu finden, und Gott sei nur der Gott, wie er ihn auffasse... In der Tat ist auch ein Disput mit einem solchen Fanatiker absolut unfruchtbar. Schließlich kennt er die Wahrheit schon.

Wo ist die Gelassenheit, die eigentlich einhergehen könnte mit der Erkenntnis einer persönlichen Wahrheit? Warum nur müssen zwanghaft auch alle anderen davon überzeugt werden, als verlöre man diese eigene Wahrheit allein dadurch, dass man sie für sich behält und bisweilen mal mit guten Freunden diskutiert? Wie vermessen zu meinen, eine einzige Wahrheit könnte für 6,8 Milliarden Menschen gelten, die sich nichtmal immer mit sich selbst einig sind.

Ich finde es nicht im Geringsten göttlich, auf diese Art zu eifern - es ist zutiefst menschlich. Wäre der Mensch nicht so ein gefährliches Tier, könnte ich das sogar so akzeptieren.

Meine Musik des Tages:
John Mayer - Belief

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Sonntag, 15. November 2009
"Feiglinge" und das Teddybär-Syndrom
Letzte Woche starb ein Torhüter. Einer, dessen Gesicht doch so manchem, wenn auch längst nicht jedem bekannt war, trat vor einen fahrenden Zug und setzte auf diese Weise seinem Leben ein Ende. Dass es so weit kam, ist traurig. Verdammt traurig.

Heute durfte ich mir von einem Bekannten anhören, das sei doch schlicht und ergreifend feige gewesen. Das sei doch jemand, der sich "dem Leben nicht stellt"...

Alle Welt beurteilt jetzt diesen Menschen, und alle Welt meint es zu können. Die einen plädieren für "mehr Menschlichkeit im Fußball", die anderen meinen, man hätte genauer hinsehen müssen. Plötzlich hat der medial beteiligte Zuschauer auf alles eine Antwort.

Wer aber im Elend einer tiefen Depression Dinge zu hören bekommt wie "Reiß Dich doch zusammen!" oder "Kopf hoch, das wird schon wieder...!" oder weitere ähnliche Floskeln, der muss verzweifeln. Denn es ist für viele Menschen nicht so selbstverständlich, dass es "schon wieder wird". Und zeitgleich wird klar: Der Betrachter von außen kann nicht begreifen, wie es sich anfühlt, wenn man intensiv am eigenen Leib spürt, dass es keinen Ausweg mehr gibt.

Todessehnsucht spürt nur, wer weiß, dass er das Leben nicht mehr leben kann. Nicht dieses Leben, das so ist, wie es ist. Es ist so leicht für Außenstehende zu sagen, dass ein Depressiver nur darüber hätte reden müssen. Wenn er dafür verurteilt wird, es nicht getan zu haben, spürt man noch im Nachhall, wie wenig der Zustand der Depression akzeptiert und verstanden wird.

An die Stelle des Verstehens und Akzeptierens tritt kollektive Betroffenheit. Ob die nun "echt" ist oder nicht, sei dahingestellt. Massenweises Weinen im Stadion, das Aufstellen von Grablichtern, Teddybärchen und Trauerbriefchen schützt. Es schützt und behütet davor, einen unverstellten Blick auf das Geschehene zu werfen. Die Frage "Warum?" bleibt oberflächlich.

Was ist denn eigentlich geschehen? Jemand hat sich das Leben genommen. Das geschieht oft und hat so häufig mit Depression zu tun. Wäre es ein arbeitsloser Jugendlicher gewesen, eine traurige Hausfrau oder ein vereinsamter alter Mensch, dann hätte das keine Stadien gefüllt. Das würde (und wird) lediglich verbucht als etwas, das nun einmal geschieht, das wir aber nicht verstehen, denn "er/sie hatte ja eigentlich gar keinen Grund". Aber wer sich das Leben nimmt, hat einen Grund, das wird so gern übersehen.

Die Mehrheit der Menschen hat wohl Angst, diesen Gründen ins Auge zu blicken. Genau wie nach Amokläufen oder anderen Gewalttaten auch wird zwar fleißig geteddybärt und gegrablichtert. Dahinter tritt aber zurück, was der Mensch nicht sehen will: Dass wir eine dunkle, eine irrationale Seite haben. Und zwar wir alle. Dass wir die Umstände nicht kalkulieren können, die uns in eine Depression stürzen. Oder in die Aussichtslosigkeit. Oder in unbegründbare Aggression. Allenfalls haben wir eine Ahnung, aber viel lieber wollen wir nicht sehen, was in anderen Menschen (und damit auch in uns) geschieht.

Diese mangelnde Akzeptanz, dieses Nicht-Sehen-Wollen ist das, was spürbar ist. Auch oder gerade weil es nicht ausgesprochen wird. Für Depressive vielleicht noch mehr als für andere. Das intensive, untrügliche Gefühl, unwert, nicht akzeptabel, nicht aushaltbar zu sein ist das, was einen Menschen schließlich in den Abgrund stürzen kann. Wenn jemand fühlt, dass er mit seiner unerklärlichen Innenwelt (oder auch Gefühlsleere) zu einem blinden Fleck auf der gesellschaftlichen und sozialen Landkarte wird und zu etwas, das es auszublenden gilt, dann ist der Schluss nicht mehr so fern, schließlich wirklich zu verschwinden. Einen Schritt vor den Zug zu machen. Das Lenkrad loszulassen, nachts auf der Straße. Zu springen.

Mitnichten ist das feige - nicht einmal im Ansatz. Es ist nur die Konsequenz von Umständen, die einen Menschen in all seiner Persönlichkeit ersticken, negieren können.

Der Mensch schafft sich Distanz von Leuten wie dem Torhüter. Nach offizieller Solidarität, nach den Beileidsbekundungen und dem Begräbnis ist ein jeder für sich wieder heilfroh, ganz "normal" zu sein. Es ist eben einfacher, sich einzureden, das Leben und die eigene Seele sei berechenbar.

Meine Musik des Tages:
Alexi Murdoch - Song For You

"Zuerst kommt, was die Leute hören wollen. Dann kommt, was die Leute glauben wollen. Dann kommt ganz lange nichts. Und dann kommt die Wahrheit!" - Aus dem Film "The International"

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Freitag, 13. November 2009
Gesundheits-Wirtschaft
Der Begriff hat das Zeug zu meinem persönlichen Unwort des Jahres, auch wenn er sicher nicht erst 2009 entstanden ist.

Gesundheits-Wirtschaft - das muss man sich mal ganz bedächtig auf der Zunge zergehen lassen. Ich las den Terminus heute in einem Wirtschaftsmagazin. Gewinnorientierung und -maximierung sind ja nichts Neues. Dennoch...

Ich bin ja nicht befremdet durch die Tatsache, dass man mit der Krankheit von Menschen Gewinne erwirtschaften kann. Das ist so, und das wird wohl auch so bleiben. Jemand muss die Medikamente herstellen, medizinische Apparate fabrizieren, Journale herausgeben. Aber jetzt "unter" der neuen konservativ-neoliberalen Regierung, die den Markt vergöttert, als sei er ein eigenständiges Wesen, wird wohl auch der letzte Rest des Gesundheitswesens ver-wirtschaftet und ver-wertet.

Dabei ist das absurd. Einer, der krank ist, produziert nichts. Wer mal im Krankenhaus war, weiß, dass er nichts produziert. Statt dessen ist da nur das Angewiesensein auf möglichst mitmenschliche Hilfe. Das ist im medizinischen Bereich ganz besonders so.

Nur - genau diese mitmenschliche Hilfe lohnt sich nicht. Menschliches Miteinander ist etwas, das sich nicht in wirtschaftliche Kategorien fassen lässt, und genau deswegen fallen diese Aspekte durch das Raster. Gespräche, Aufmerksamkeit, Privatsphäre, Würdigung des Menschen - das sind die Punkte, die in der Wirtschaft lediglich als Kostenfaktoren in Erscheinung treten. Einige Mediziner stemmen sich tapfer dagegen, lassen sich nicht von Pharmavertretern kaufen und haben noch den Überblick über das absurde Gesundheitssystem.

Aber wenn es an die Kritik geht, dann rutschen ganz schnell die USA ins Blickfeld, wo es den Menschen noch schlechter geht und eine Krebsbehandlung einen ganz locker umbringen kann - wenn nicht körperlich, dann finanziell. Meistens beides.

Schlechter geht es allerdings immer. Gesundheits-Wirtschaft ist ein Paradoxon und ein Symptom dafür, wie krank dieses System und die Gesellschaft an sich eigentlich ist.

Wenn ich daran denke... Hohlköpfige Anzugträger mit acht Semestern BWL-Studium und heißester Anwärterschaft auf den Bullshit-Bingo-Award halten Entscheidungen über meine, deine, unsere Gesundheit (und im übrigen auch Pflege im Alter) in den Händen... brr... Dann geht es letzten Endes nur noch darum, mir mehr und mehr Dinge zu verkaufen, die ich für meine Gesundheit nicht bräuchte, und mir gleichzeitig diejenigen Maßnahmen möglichst effektiv vorzuenthalten, die nötig wären. Gleichzeitig erzählt man uns dann noch, alles werde sich schon schön von selbst optimieren, wenn man der "freien" Marktwirtschaft und der mit ihr einhergehenden Konkurrenz freien Lauf ließe. Aber wie soll das wohl vonstatten gehen, wenn demnächst schnöselige WiWi-Jüngelchen über unsere gesundheitlichen Bedürfnisse entscheiden und nicht mehr der (mehr oder weniger) unabhängige Arzt?

Um die Abwehrkräfte gegen diese Art der Ver-Wertung von Menschenmaterial zu stärken hilft auch die "Immunkur" aus der Apotheke nicht mehr... Mir jedenfalls ist schlecht bei solchen Aussichten.

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