Sturmflut
Mittwoch, 14. Dezember 2011
Please, Mr Music, will you play...?
Schon gestern stellte ich übereinstimmend mit Frau Tama fest, dass Musik bisweilen den Tag retten kann.

Nachdem es mir in der letzten Zeit irgendwie eher mies ging und ich eine gewisse Anspannung nicht wirklich loswurde, stellte ich heute fest, dass man auch unsagbar angenehm in den Morgen starten kann. Erst einmal habe ich von der Hektik, die der Gemahl morgens verströmt, nicht anstecken lassen, sondern mir ganz in Ruhe noch die drei Minuten Warmlaufzeit in meinem Deckenkokon gegeben, habe bei eingeschaltetem Licht Löcher in die Luft gestarrt und bin wach geworden. Er lief schon wieder auf Hochtouren, was ein mir völlig unverständliches Verhalten ist, so früh am Morgen.

Der Gatte startete dann mit dem Auto zur Arbeit, und ich beschloss, später mit dem Fahrrad zu fahren. Da öffnete der Himmel seine Schleusen, und es schüttete wie aus Eimern. Also der Bus. Noch eine gute halbe Stunde bis zu dessen Abfahrt - Gelegenheit, ganz in Ruhe alles auf die Reihe zu bringen.

Das verleitete mich dazu, einem blueslastigen Ohrwurm nachzugeben und Musik anzumachen. Richtig laut. Claptons "Old Love" schwebt vor sich hin, der Raum ist erfüllt von Tönen, ich singe mit und fühle mich plötzlich sehr, sehr lebendig.

Die Gitarre bringt mich beinahe zum Heulen, und meine auseinandergesplitterten Bestandteile fügen sich wieder zusammen. Danke, Eric.

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Montag, 12. Dezember 2011
Entwicklungen
S. ist schon wieder zusammengebrochen. Sie ist für anderthalb Wochen krankgeschrieben. Ohne dass jemand genau wüsste, weshalb. Das, was sie Burn-Out nennt, hat wieder zugeschlagen.

Ich kann mir denken, wieso. Es geschieht sicher nicht einfach zufällig so kurz vor Weihnachten. S. neigt dazu, über ihre Grenzen zu gehen, und sie lebt davon, das zu tun. Klingt bestimmt paradox, aber ihr geht Sicherheit verloren, wenn sie nicht für andere da ist. Sie spürt sich nur über andere. Vor dem Alleinsein mit sich selbst läuft sie davon. Sie sagt niemals Nein.

Ich nehme an, S.s Liste wurde jetzt zunehmend länger. Die kleinen und großen Gefälligkeiten, die sie für Familie und Freunde erledigt, werden sich gehäuft haben. Nur noch kurz was für den Chef erledigen. Durch die halbe Republik reisen, um hier und da noch einen Vortrag zu halten. Initiativbewerbungen und Vorstellungstermine. Dem Lebensgefährten beim Leben helfen. Ein neues Auto kaufen. Weihnachtsbesuche organisieren. Geschenke kaufen. Den Liebeskummer der Schwester besänftigen. Die Eltern besuchen. Fast jedes Wochenende. An den anderen die Schwiegereltern. Zwischendurch hat sie mich postalisch an meinen Hochzeitstag erinnert und sich für Geburtstagswünsche bedankt. Konflikte und den Zusammenbruch vermieden. Und gleichzeitig verzweifelt den Sinn ihres Lebens gesucht und das eigene Wollen.

S. hat sich entwickelt. Sie ist ganz sicher nicht mehr die Person, die sie war, als wir noch zusammen studierten - oder bin ich anders? Vielleicht beides. Ich überlege ziemlich angestrengt, was mich an dieser Entwicklung so sehr verunsichert.

Ich möchte sie anrufen, und ich möchte es doch wieder nicht. Denn dieses Gefühl, sie nicht zu erreichen, gefällt mir nicht. Ich weiß nicht, was es genau ist. Auf jeden Fall ist es Ärger und Kränkung und ein Gefühl von Zurückweisung, was ich dabei empfinde. Ich habe großes Mitgefühl, ich möchte S. gern etwas Kluges sagen, etwas, das ihr hilft. Ich spüre ihren Schmerz unmittelbar, ich kann nachfühlen, wie unglaublich müde und erschöpft sie sein muss. Ich würde sie gern in den Arm nehmen (aber zwischen uns liegen nicht nur Kilometer). Ich würde gern für sie da sein - nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie meine Freundin ist und ich sie lieb habe.

Aber sie lässt mich nicht an sich heran. Ich mache mir Gedanken, was ich ihr sagen kann. Ich mache mir Sorgen und versuche, das auch auszudrücken. Ich setze mich hin und wähle meine Worte sorgfältig, klebe den Umschlag zu und schicke ihn ins Nichts. Ich versuche, ihr nicht zu sagen, was sie fühlen sollte, sondern Trost und Halt zu vermitteln.

Was ich spüre: Ich bin damit nicht willkommen. Sie spricht nicht - nicht über das, was sie bewegt, nicht über ihren Zustand, nicht darüber, was ich ihr zu sagen hatte. Sie ist immer die Fröhliche, sekundenlang auch verpflichtet dankbar, oder manchmal auch müde, aber sie "kommt irgendwie zurecht". Würde sie mein Mitgefühl an- und meine Sorge wahrnehmen, dann bedeutete das, dass sie zugeben müsste, es überhaupt nötig zu haben. Nicht stark zu sein.

Ich bin beleidigt. Beleidigt darüber, dass ich mir so viele Gedanken um sie mache und im Gegenzug nur ein Punkt auf ihrem Terminkalender bin. Ich bin beleidigt darüber, dass ich jetzt, da ich selbst nicht mehr so bedürftig bin, als Projektionsfläche für ihr Helfersyndrom wegfalle und plötzlich spüren muss, dass es nicht das reine Interesse an meiner Person war, das ausschlaggebend dafür war, dass sie "immer für mich da" war. Ich bin beleidigt darüber, dass ich ihr zur Selbststabilisierung diente und jetzt, da ich die Kriterien dafür nicht mehr erfülle, weitestgehend uninteressant bin. Ich bin beleidigt darüber, dass ich nicht für sie da sein darf.

Und ich bin zutiefst erschrocken. Dieses Erschrecken ist jedes Mal neu, und es trifft mich unvermittelt und hat mit meiner oberflächlichen, narzisstischen Kränkung über den Ausschluss aus ihrem Leben nichts zu tun. Ich bin erschrocken darüber, dass sie so für alle offensichtlich vor die Hunde geht, das selbst aber nicht sehen kann. Das Ausmaß des Schmerzes muss riesig sein, wenn sie so davor wegrennt. Mich trifft mit einem Keulenschlag meine eigene Hilflosigkeit in dieser Hinsicht. Es gibt nichts, was ich tun kann, so lange sie es selbst nicht will.

Sie dreht am Rad. Steht ständig unter Strom. Beschwindelt sich selbst, bis ihr schwindlig wird. Die Zwangspausen schieben den Totalzusammenbruch nur hinaus. So ähnlich muss es sein, wenn ein geliebter Mensch sich mit Drogen oder Alkohol zugrunderichtet.

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Montag, 28. November 2011
Zu viel
Bäh. Ich bin müde. Ich habe keine Lust. Ich bin zu keinerlei geistreichen Äußerungen fähig zur Zeit, ich habe eh schon zu viel herumgekramt.

Ich merke, wie sich die Überforderung langsam anschleicht und wie ich mehr und mehr das Bedürfnis entwickle, mich zu verkrümeln, mich einzukapseln, nur noch das zu tun, was ich wirklich muss und das, was mir wirklich gut tut. Dabei bin ich eigentlich nicht schlecht gelaunt, auch nicht traurig, nicht einmal so höllisch erschöpft, wie ich das normalerweise kenne. Vielleicht kriege ich nur einfach ein Gefühl dafür, wann es Zeit ist, die Reißleine zu ziehen und auf mich zu achten.

Trotzdem habe ich das Gefühl, getröstet werden zu müssen, und ich wüsste nicht einmal, weswegen. Es ist gar kein konkreter Trost, den ich suche, sondern so ein bisschen Heile-Welt-Gefühl. So, wie es sich auch einstellte, als wir bei der Arbeit einen künstlichen Miniweihnachtsbaum aufstellten und ihn mit Kunststoffkugeln behängten. Gefällt mir überhaupt nicht, würde ich mir zuhause nie hinstellen, aber trotzdem leuchtet der mich jetzt so tröstlich von der Seite an. Ein Gefühl wie Honigkuchen.

Keine Debatten. Keine Tiefschürferei. Keine langen Texte. Kein Problemewälzen. Nicht jetzt.

Heute auch kein Tai Chi - die Atmosphäre ist so im Eimer, dass mich das überhaupt nicht mehr entspannt. Es stresst nur noch. Vielleicht auch gar kein Tai Chi mehr. Das ist schade, es hat mir mal so viel gegeben. Dann eben in den eigenen vier Wänden.

Ich bin mal weg.

Meine Musik des Tages:
Vienna Teng - The Atheist Christmas Carol

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Freitag, 18. November 2011
Das Auge des Betrachters
Ich stieß gestern beim Stöbern in einem Fotografie-Blog auf den Namen Sally Mann. Ich folgte der Verlinkung auf die Seite der Fotografin und stöberte in ihren Bildern.

Was ich sah, fand ich auf eine seltsam ästhetische Art verstörend. Menschen in Schwarzweiß, die irgendwie inszeniert wirken und zugleich so, als sei die Fotografin nach einer Autopanne in einen Ort verschlagen worden, in dem schon seit Jahrzehnten lediglich inzestuöse Verbindungen bestehen und deren Bewohner sich aus seiner abgeschlossenen Existenz lange Zeit nicht mehr herausbewegt haben. Mit ein wenig mehr Zuckerguss und etwas weniger hervorstehenden Rippen hätte das alles auch als Reklame für skandinavische Mode herhalten können. Aber dafür taugen die Bilder eben doch nicht. Dazu sind sie zu wenig unbefangen. Die Abgebildeten blicken in die Kamera, als seien sie provoziert worden, als wollten sie sich verteidigen. Manchmal auch nur leer. Selten lächelnd. Es wirkt, als sei die Kamera ein Fremdkörper, der diese Menschen bei ihrem heimlichen Tun unterbrochen oder sich in voyeuristischer Absicht unbemerkt unter sie gemischt habe.

Da sind hagere Kinder, da ist viel Körperkontakt, aber es fehlt der warme Ton. Da sind ein paar Flecken zu viel auf Haut und Bettdecken, als dass alles idyllisch, harmlos und schick wirken könnte. Sehr viel behaarte Männerarme um schmale Kinderleiber. Menschen ohne Gesicht. Die Landschaften, die sie fotografiert hat, bleiben hinter dunklen Schleiern. Zerkratzte, alte Fotoplatten vermitteln kein klares Bild, allenfalls eine Ahnung. Ein wenig wie die Bilder, die ich in den Pappkistchen im Schrank meiner Großmutter fand, nachdem sie gestorben war. Und Gesichter. Sie hat sie serienweise abgelichtet, und wenn man sie anschaut, weiß man nicht, ob sie tot sind oder lebendig. Sie wirken wie wächserne Exponate einer anatomischen Sammlung.

Kein Wunder, dass sich Frau Mann auch von der sogenannten Body Farm in Tennessee angezogen fühlte. Auf dem Gelände dieser Einrichtung beobachten Forensiker den Verfall menschlicher Körper unter verschiedenen Bedingungen am nicht mehr lebenden Objekt. Bilder von der Body Farm habe ich schon einmal bei einem Vortrag von Mark Benecke gesehen, aber diese hier sind anders. Dem entsprechenden Link zu folgen empfehle ich nur Hartgesottenen. Wie bei ihren Landschaften auch verwendete sie eine alte Fototechnik. So bleibt manches im Diffusen, und das, was die menschlichen Körper zunehmend zerstört hat, scheint sich wie übergreifender Verfall auch auf die Bilder von ihnen zu übertragen. Mit morbider Faszination und tiefem inneren Schrecken zugleich klickte ich mich durch die Strecke.

Mir ging immer wieder durch den Kopf: "Ja, das ist, was geschieht, wenn das Leben endet." Ein Standardvorgang, etwas ganz Natürliches, das nur deshalb, weil es weitestgehend ignoriert wird, nicht weniger real ist. Unschön, auf jeden Fall. Fotografiert von Sally Mann noch unschöner, weil die Distanz irgendwie fehlt, die hochauflösenden Farbfotos innewohnt. Das Bild, das sie macht, gleicht viel eher dem damit verbundenen, in unserem Inneren verborgenen Grundgefühl.

"Noch nicht, noch nicht!", flüstert es in mir, und: "Ich lebe!" Und ich habe auf einmal ein großes Bedürfnis, mich zu fühlen. Die Wärme meiner Haut, die Unmittelbarkeit des eigenen Herzschlags, den Glanz in den eigenen Augen.

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Montag, 14. November 2011
Schnauze voll
Ich könnte Urlaub brauchen. Mindestens zwei Wochen am Stück. Ein Dutzend solcher Tage, an denen ich nichts, aber auch bitte gar nichts tun muss, wenn ich nicht will. Keine Termine, keine Verabredungen, keine Arbeit, keine Besorgungen, keine Amtsgänge, keine Entscheidungen.

Nicht, dass irgendwas in den letzten Wochen anders gelaufen wäre als sonst.

Arbeit - ganz okay. Bloß nervt mich das frühe Aufstehen. Eine Stunde länger schlafen wäre nicht schlecht, dann wäre ich taufrisch wie der junge Morgen. Mich nervt das anatomisch unkorrekte Bildschirmhocken. Mich nerven Tage, die nur aus Arbeit bestehen und aus den paar Stunden abends, an denen ich nur die Beine von mir strecken möchte. Mich nervt es, im Dunkeln morgens loszufahren und im Dunkeln nach hause zu kommen. Mich nervt das halb ernst gemeinte Rumgezicke zweier Kollegen untereinander, die sich anstellen wie die schlimmsten Waschweiber. Mich nervt das belanglose Gejaule aus dem Radio. Alles eigentlich bloß Kleinigkeiten, aber trotzdem.

Aktivitäten, die mir eigentlich Ausgleich verschaffen sollten, gehen mir zur Zeit auch eher auf den Keks. Tai Chi ist toll. Ich würde am liebsten Einzelstunden bei unserer Kursleiterin nehmen, einer zierlichen, muskulösen Person mit dem Haarschnitt einer buddhistischen Nonne. Sie ist toll. Sympathisch, offen, sie geht in dem auf, was sie macht. Was mich ankotzt sind die alternden Hausfrauen im Kurs, die aus der Angelegenheit eine Leistungsschau machen, mit sauertöpfischer Miene und kiebiger Stimme die anderen Kursteilnehmer ungefragt korrigieren und am Kursende jedes Mal Weisheiten von sich geben wie "Üben, üben, üben - das ist das A & O!"

Die Besuche bei I. sind jedesmal sehr erholsam, und die stundenlagen Zugfahrten machen mir eigentlich nichts aus. Aber wenn der Tag eh schon stressig ist, wenn sich die Züge verspäten und vollgestopft sind mit Schülern, alkoholisierten Kegelschwestern und Punks, dann wird meine grundsätzlich vorhandene Reisefreude deutlich weniger. Wenn ich vor lauter Unterwegssein nicht dazu komme, etwas zu essen, und das Bedürfnis auch erst dann verspüre, wenn mir die Knie weich werden. I. ist nun zum Glück eine Person, die weiß, dass Energie begrenzt sein kann und mir und sich selbst zumindest für diese Woche - quasi gedankenleserisch vorwegnehmend - eine Auszeit verordnete.

Dann ist da der ganze Rummel. Die Entscheidung in Sachen Uni, über die ich nachts grübele und die immer wieder einen schwarzen Schatten über alles zieht, was eigentlich schön sein könnte. Die Tatsache, dass die Krankenkasse meint, ich habe zu viel verdient, und mir jetzt horrende Nachzahlungen aufs Auge drückt, gegen die ich noch Einspruch einlegen muss. Dem ganzen Papierkram, der damit verbunden ist. Der Geburtstag meines Neffen, den ich verpennt habe und anlässlich dessen ich noch ein Päckchen mit dem von meiner Schwester vorgeschlagenen völlig überteuerten Wunsch-Spielzeug schicken muss.

Im Hintergrund lauern die Dinge, die ich gern erledigen möchte, für die ich aber keine Energie habe. Mit der neuen (ausgesprochen netten) Kollegin ins Café und vielleicht konsequenterweise auch zum Sport gehen. Einen ausgiebigen Allergietest bei der Ärztin anfordern und dann mit einer Hyposensibilisierung beginnen, bevor der Februar kommt und die verdammten Pollen wieder fliegen. Außerdem um Physiotherapie bitten, bevor mein Rücken tatsächlich zu einem ernsthaften Problem statt nur zum kleinen Ärgernis wird. Freundin S. endlich mal anrufen, um ein ausgiebiges Gespräch mit ihr zu führen - was ich schon viel zu lang nicht mehr getan habe. Die Schwiegereltern einladen, einen Kuchen backen.

Aber mir reicht es echt. Ich möchte mich verkriechen. Nicht so, wie wenn die Depression zuschlägt. Sondern um die Ressourcen zu schonen, um mich aufzuladen, zu entstressen, auszuruhen. Nicht nur ein bisschen, sondern mal wirklich richtig. Nicht nur für's Wochenende. Ich möchte mich ausklammern, mich aus dem Betrieb herausnehmen, um mich mal gründlich zu warten. Keine Anrufe, keine offenen Tasks.

Und um die Dinge zu tun, die mir wirklich Spaß machen. Stundenlang mit Photoshop herumbasteln, ohne hinterher mit Erschrecken feststellen zu müssen, wie die Stunden davongerauscht sind. Meine Einmachgläser dekorieren. Schreiben. Auf dem Sofa herumgammeln und Episode auf Episode schrulliger Fernsehserien von DVD angucken, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen, morgens wieder früh rauszumüssen. An meinem Sofa-Plaid weiterhäkeln. Rezepte abschreiben und ausprobieren. Mal wieder in die Sauna gehen. Und so weiter, und so weiter.

"I feel thin, sort of stretched, like butter, scraped over too much bread." sagt Bilbo Baggins in "Herr der Ringe". Ich habe das Gefühl, wegzuwehen wie Sand am Strand, Krümel für Krümel. Ich bin unendlich müde. Ich habe das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben für das, was ich bin, und zu viel mit dem zu verbringen, was ich muss. Ich fühle mich zusammengedrückt, verschnürt wie ein Paket.

Bäh!

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Montag, 7. November 2011
Crash
Ach je, wenn einem plötzlich der Rechner abraucht, dann weiß man erst, wie abhängig man von dem Ding ist.

Meiner hat zwei Festplatten - eine für Betriebssystem und Programme, eine für all die bunten, lustigen Daten, die im Laufe der Zeit anfallen: Texte, Urlaubsfotos, Photoshop-Basteleien, Playlists für Cassetten, Fonts und so weiter und so fort. Letzte Woche überhitzte die CPU, und das nahm das Betriebssystem übel. Nach dem Start nur noch Schwärze, unbeweglich, anklagend und hartnäckig. Mein Magen machte ein Drehmanöver, und in meinem Schädel blubberten die Worte "Hätt' ich nur..." und "Back-up!" abwechselnd vor sich hin.

Aber die Platte mit den Daten blieb unversehrt, manchmal habe ich unverschämtes Glück. Also hat der Gemahl die andere Platte ausgebaut, vollständig geprüft, formatiert und alles neu installiert, was es zu installieren gibt. Jetzt ist es also wieder mal an der Zeit, meinen Rechner neu einzurichten. Mailkonten. Browser. Hintergrundbild. Programme. Scannertreiber. Java.

Also habe ich am Samstag in der Mall unserer Nachbarstadt erst einmal eine externe Festplatte gekauft. Das Anfertigen von Back-ups scheiterte nämlich immer an der Faulheit, den ganzen Rummel auf mehrere CDs zu brennen - was im Übrigen inzwischen natürlich eine völlig veraltete Methode ist. Ab jetzt wird synchronisiert. Und praktisch ist so ein Teil natürlich auch.

Was mich wirklich schmerzt: Allein meine Mails habe ich nicht auf der heil gebliebenen Platte gespeichert. Die lagen auf der anderen. Das heißt, all die lieben Worte, die mir manche Menschen im Lauf der Zeit schrieben, sind fort. Naja, zumindest die Möglichkeit, sie nachzulesen. Mir bleibt das, was im Herzen ist. Das Grundgefühl. Und das, was noch kommen wird.

Wenn ich auf diese Weise mit dem Gefühl konfrontiert werde, loslassen zu müssen, dann wird mir wieder mal klar, was wesentlich ist. Bilder, Texte, all diese Dinge, an die sich Erinnerungen knüpfen, können schlagartig verloren gehen. Wie bei einem Hausbrand. Die ideellen Dinge, das, was man in den Koffer packen würde, wenn man nur ganz wenig mitnehmen könnte - auch das ist flüchtig. Was bleibt ist das, was sich im Kopf, im Herzen befindet.

Ich bin froh, dass es nicht zum Super-GAU gekommen ist, dass meine kreativen Ergüsse, meine Gedankenstränge, meine schrift- und bildgewordenen Erinnerungen geblieben sind. Ich klammere mich an sie. Ich werde auch zukünftig Back-ups anfertigen.

Aber komisch ist es schon, das Gefühl, dass eigentlich nichts bleibt.

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Montag, 24. Oktober 2011
Dicke, dunkle Wolken
Ich bin wirklich eine Prokrastinatorin und Selbstsaboteurin ersten Ranges. Das ist mir bewusst, und das auch schon seit Jahren. Jetzt aber bleiben mir nur noch ein paar Monate zum Aufschieben, dann entscheidet das Leben für mich. Die Entscheidung, um die sich schon seit Jahren alles dreht: Studium abbrechen oder noch einen Abschluss druntersetzen?

Denke ich an jegliche Abschlussarbeit, dann kommt die Totalblockade. "Ich kann nicht...!" sagt mir mein Inneres, aber ich weiß nicht mal genau, warum. Mit Magister ist eh nichts mehr zu machen - die Studiengänge, für die ich mich einst einschrieb, sind mausetot. Es bliebe nur ersatzweise, mit Hakenschlagen, Studiengangsumschreibung und Flickwerk einen Bachelor-Abschluss zu erreichen. Falls überhaupt.

Versager, Versager!! bellt meine innere Stimme. Und trotzdem, der Gedanke an Exmatrikulation scheint mir Erleichterung. Ich möchte das alles eigentlich nicht mehr. Das Gefühl, nicht richtig fertig zu sein. Der dauernd offene Task im Hintergrund, der das ganze System verlangsamt bis zum totalen Stillstand. Das Gefühl, erst noch etwas erledigen zu müssen, bevor ich endlich einfach nur sein kann. All das wäre mit einem Schlag vorbei, wenn ich mich Ende des nächsten Semesters ausklinken würde.

Ich habe einen Job. Als Werksstudentin. Wenn Chef mich fest anstellen würde, hätte ich den auch weiterhin. Ich weiß, ich mache das gut. Ich bräuchte das Studium nicht. Aber im Nacken sitzt mir auch "Was wäre, wenn...?" Was wäre, wenn ich diesen Job verliere? Was wäre, wenn Chef bankrott geht? Was wäre, wenn mir das alles mal stinkt?

Ich frage mich, ob ich mit Abschluss zwangsläufig besser dran wäre. Geisteswissenschaftler müssen sich ohnehin immer fragen lassen, was sie "denn damit mal machen" wollen. Ich habe mein Geld immer mit völlig fachfremden Tätigkeiten verdient. Bei der Zeitung und im Rundfunk (lausige Bezahlung), in der Großküche und im Feinkostladen, im Büro. Studieren hat mir was für's Leben gebracht, aber nicht für's Portemonnaie.

Gibt es so etwas wie die letzte Sicherheit? Werde ich über verpasste Chancen knirschen, wenn ich jetzt "aufgebe"? Kann ich in den Spiegel gucken, wenn ich den einfachsten Weg nehme? Was will ich, was brauche ich? Heule ich über verschüttete Milch, wenn ich mir sage, dass ich schon zuviel Geld und Mühe in dieses Studium investiert habe? Was bedeutet das für mich?

Ich weiß, das sind alles Fragen, die ich nur selbst beantworten kann.

Ich weiß, dass ich endlich Ruhe will. Endlich ankommen. Energien, die jetzt gebunden sind, freisetzen für Wichtigeres. Ich könnte zufrieden sein, wenn "das" nicht wäre.

Ich weiß vor lauter "Müssen" immer noch nicht, was ich will. Es wird Zeit, endlich Altes loszulassen - auf die eine oder andere Art.

Aber jetzt gerade ist mir nur zum Heulen.

Versager, Versager!!

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Dienstag, 11. Oktober 2011
Gemischte Gefühle
Bevor mir mein Kopf irgendwas über den Zustand meiner Seele sagt, sagt es mir mein Körper. Oder vielleicht eher noch: Bevor mein Kopf zuhört, muss erst der Körper mit dem Holzhammer kommen, damit der gesamte Mensch glaubt, dass irgendwas im Busch ist.

Bei kleineren Sorgen und Problemen äußert sich das in verspannter Nackenmuskulatur und den daraus folgenden Kopfschmerzen und gern auch nächtlichem Zähneknirschen. Wenn es schlimmer wird, kommt Schlaflosigkeit dazu. Aber am heftigsten ist es, wenn die Migräne zuschlägt.

Das tat sie dann auch, am Freitag. Ich hatte gerade erst eine Stunde lang gearbeitet, da spulte sich das bekannte Programm ab. Blinde Flecken im Gesichtsfeld, Flimmern – weiteres Arbeiten am Bildschirm vollkommen ausgeschlossen. Da ließ ich mich nach hause fahren, um in sicherem und ruhigen Rahmen den Rest der ganzen Angelegenheit abzuwarten. Den Tag schrieb ich ab und harrte unter der Wolldecke auf dem Sofa dem Einsetzen der Taubheit in den Händen, dem Aussetzen von Sprache und Denkvermögen und schließlich der totalen Erschöpfung und der bohrenden Kopfschmerzen. Am Abend bilanzierte ich dann gemeinsam mit dem Gatten: Die Aussicht auf den für Samstag bevorstehenden zweitägigen Besuch bei meiner Schwester hat wohl meine Seele mehr in Anspruch genommen, als mir bewusst war. Vielleicht auch, als ich mir eingestehen wollte.

Wir hatten diesen Besuch recht spontan vereinbart. Bekannte meiner Schwester hatten für das Wochenende abgesagt, und wir wollten die Kinder und auch meinen Schwager endlich mal wieder sehen. Außerdem hatten wir das neugebaute Haus noch nicht in Augenschein genommen. So war das alles ziemlich kurzfristig zusammengekommen.

Man kann sich fragen, was mich an so einem Besuch eigentlich so sehr umtreibt (und das tat ich auch selbst). Der Haken an der Sache ist, dass ich meiner Schwester einfach nicht traue. Am Telefon war sie entspannt und fast schon vergnügt, und das hatte mir gefallen. Aber tief in mir lauert eine Angst vor ihren verdeckten Spitzen und Gehässigkeiten. Ich kenne sie mein Leben lang, und ich habe mir mein Leben lang etwas aus ihr und ihren Ansichten gemacht. Sie war für mich oft Vaterersatz und hat lange Zeit definiert, wie "man" zu fühlen und zu denken hat. Dieser langjährigen Erfahrung gegenüber stehen nun erst neuerdings wenige Jahre voller großer persönlicher Entwicklungsschritte, die mich aber leider längst nicht immer dahin bringen, gelassen oder sogar gleichgültig ihr gegenüber zu sein. Diesen Umstand anzuerkennen, ist ja schon mal ein Anfang. Aber tief in mir ist diese Angst, die ähnlich beschaffen ist wie die vor meinem Vater - beide sind sie Menschen, die sich die Deutungshoheit über mein Leben angemaßt haben. Es ist zwar nicht mehr bestimmend, aber dennoch schmerzhaft, wenn sie mich mit diesem Blick anschaut und es sich für mich anfühlt, als würde sie mich im nächsten Atemzug irgendwo einweisen lassen wollen. Da muss ich erst noch vollständig begreifen, dass nicht sie es ist, die die einzig richtige Sichtweise auf die Welt hat, auch wenn sie das für sich in Anspruch nimmt.

Ich ging am Abend mit der Erleichterung ins Bett, den Migräneanfall überstanden zu haben. Die Kopfschmerzen blieben zwar zurück, aber ich hatte die Hoffnung, darüber hinwegzuschlafen. Den nächsten Tag starteten wir mit einem gemütlichen Frühstück bei einer alten Episode von "A bit of Fry and Laurie", die mich zum Lachen brachte und den Schmerz fast verscheuchte. Dann packten wir unseren Kram und fuhren los. Und sobald ich auf dem Beifahrersitz saß, legte sich ebenso pünktlich wie bilderbuchmäßig wieder ein neuer flimmernder Schleier über die an mir vorbeiziehende Landschaft. "Wir fahren trotzdem!" verkündete ich in Richtung Gemahl, nicht bereit, zu kapitulieren und die Angst sich weiter verfestigen zu lassen. Die zweieinhalbstündige Fahrt ging unter in allen schon geschilderten hässlichen Begleiterscheinungen. Unterwegs schloss ich die Augen. Als wir dann vor dem brandneuen Wohnhaus meiner Schwester parkten, war es endlich vorbei, und der sogar die Kopfschmerzen verzogen sich.

Das Wochenende war ein Gemisch aus Eindrücken, eher wie die Komposition eines Musikstückes oder Gemäldes denn zwei halbe miteinander verbrachte Tage. Ich hatte endlich mal Gelegenheit, meine Nichte und meinen Neffen etwas länger zu sehen. Die Kleine ist jetzt vier Jahre alt und ein zartes, liebes und ungeheuer folgsames Geschöpf, dass fast immer brav fragt "Darf ich...?", bevor es etwas tut, anfasst, isst oder vor die Tür geht. Berührt hat mich ihre Art der vertrauensvollen Kontaktaufnahme, wie ich sie auch bei meinen anderen Nichten erlebt habe und immer wieder erlebe. Da findet sich plötzlich eine kleine warme Hand in der meinen, das hohe Stimmchen fragt mich etwas, macht kluge Bemerkungen. Das Kind schaut mich aus großen Augen an, und ich finde, es gibt an ihm wenig bis gar nichts auszusetzen. Junior robbt inzwischen mit kaum enden wollender Begeisterung über den frisch verlegten Fliesenboden und ist nur durch Wände, Türen und Gitter zu stoppen. Er ist allerdings verquollen und hat rote Augen und eine Triefnase.

Hübsche, liebenswerte Kinder insgesamt. Auch, worauf ich von den Eltern wiederholt hingewiesen werde, sind die beiden typisch Mädchen, typisch Junge. Der Kleine sei ja motorisch so viel weiter als meine Nichte zur selben Zeit war, während sie verbal alle an die Wand gespielt habe. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht. Schon gerade nicht mit Medizinern, denn die wollen jeden Widerspruch auch gern gleich empirisch belegt haben, sonst fällt ihnen die Anerkennung von Einwänden eher schwer.

Wir sprechen viel über das Haus. Mir gefällt es. Ich würde die Bauweise nicht als innovativ bezeichnen, aber gemessen am Umfeld, in dem sie sich niedergelassen haben, ist natürlich ein modifizierter Bauhaus-Stil schon recht gewagt. Das finden auch die Nachbarn (die alle Siedlungshäuschen aus den Dreißigern mit Giebeln bewohnen), und die haben alle Möglichkeiten bis hin zu juristischen ausgeschöpft, um ihren Unmut kundzutun. Was ihnen aber nicht geholfen hat. Ich lerne daher auch von meiner Schwester: Man weiß (weil Ärzte ja miteinander sprechen), dass die Frau Nachbarin, der das Projekt so missfällt, unter einer bipolaren Störung leidet. Das erklärt natürlich alles. Auch, dass sie an einem Tag so griesgrämig schaut und nicht einmal die Tür öffnet, als sich die neu Zugezogenen vorstellen wollen, am anderen aber großherzig eine Betreuung der Kinder anbietet, falls Bedarf bestünde. Dieses Verhalten lasse sich vollständig aus ihrem manisch-depressiven Zustand ableiten. Den Zusammenhang erläutert man mir am Mittagstisch aber bloß lapidar und in knappen Sätzen dahingehend, dass Depressive nunmal nicht leicht mit Neuem fertig würden. Offenbar auch nicht mit Bauhaus-Häusern. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht.

Es folgen noch Spaziergänge mit den Kindern, Kaffeetrinken, Plaudereien, gemeinsame Mahlzeiten. Wir haben Fotos mitgebracht von Ibiza, die wir uns noch auf dem Fernseher anschauen, als die Kinder im Bett sind und mein Schwager zur Notarzt-Nachtschicht. Meine Schwester vererbt mir eine Jeans, die zu schmal für sie geworden ist, und ich bin dankbar, denn für lange Beine ist immer schwer etwas zu finden. Wir haben dieselbe Länge. Dieser Umstand beschränkt sich aber auf die Beine. Es wird nicht viel gehaltvolles geredet, und ich bin froh darüber, denn ich weiß, dass ich mich keinem Rechtfertigungszwang aussetzen möchte und keiner tiefen Schürferei. Sonst bekommt sie nämlich wieder diesen Blick. Andererseits spüre ich, sie würde gern gemeinsam mit mir über unsere Eltern lästern, wie wir es früher taten. Das geht nicht. Ich habe nicht mehr viel zu sagen, was unsere Eltern betrifft.

Irgendwann geht mir auf, wie freudlos dieses Umfeld eigentlich ist. Alles ist durchdacht, sortiert, geordnet, geplant. So sauber, wie es mit Kindern eben sein kann. Alles aufeinander abgestimmt. Aber Lachen höre ich wenig. Wenn mein Schwager mit der Kleinen scherzt, dann. Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine Schwester lebt und lacht oder vielleicht mal singt. Vielleicht ist sie nur in meiner Gegenwart so angespannt, aber so fühlt es sich nicht an. Eher so, als habe sie in ihrem Leben die Bremse angezogen. Als sei sie auf der Hut vor dem verwilderten, überwältigenden Leben, das links und rechts des Weges lauert. Wenn sie Anflüge von Humor zeigt, dann wirken sie entweder sehr herablassend oder fast schon kindlich-albern. Erwachsen und aufrecht fast nie, unbefangen auch nicht.

Außerdem bemerke ich, wie sehr sie sich abgrenzen müssen gegen andere, alle beide. Wie sie es unseren Verwandten übel nehmen, dass die das neue Haus nicht mögen. Das schreiben sie deren hinterwäldlerischer Art zu, die ja typisch für den Landstrich sei, aus dem wir gebürtig kommen. Gegen die Vorortbewohner, mit denen sie das gutsituierte Wohnviertel teilen, müssen sie sich auch abgrenzen. Das wiederum - so lassen sie durchblicken - seien alles Spießer. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht.

Ab und an überkommt mich durchaus auch Wohlgefühl. Immerhin, mit meiner Schwester auf dieser Basis zusammenzutreffen ist möglich, selbst wenn sich die Gespräche auf Smalltalk beschränken. Es fühlt sich so an, als habe ich noch eine Schwester. Innig waren wir nie, und wenn sich nicht ganz viel ändert, werden wir es auch nicht. Mir geht wieder Vienna Tengs "Antebellum" durch den Kopf: The borderlines we drew between us keep the weapons down, keep the wounded safe..." Das ist es, nicht mehr, nicht weniger.

Ihre Art hilft mir irgendwie auch, mich selbst anders und besser wahrzunehmen. Die Lebendigkeit, die ich bei ihr vermisse, spüre ich in mir.

Nur eines schmerzt wirklich.

Die Kleine sitzt am Esstisch, vor sich ein angeknabbertes Käsebrot und ein Obstpüree, und mag nicht mehr essen. Viel zu aufgekratzt, abgelenkt, überdreht. Sie hibbelt ein bisschen hin und her. Meine Schwester ist der Ansicht, sie sollte aufessen. Ihr Ton wird scharf. "Hör auf, herumzuzappeln! Du isst das jetzt auf!" Sie greift das Kind sehr hart am Arm und versucht wiederholt erfolglos, es zu füttern, das Brot in den kleinen Mund hineinzuzwingen. Die Augen der Kleinen werden feucht. "Mama, hör auf, Du tust mir weh!" sagt sie. In mir dreht sich alles um. Mein Mann und ich schauen uns an. Er sagt später: "Das war Schlagen ohne Schlagen." Ich verbuche es unter: Wie man eine Vierjährige erfolgreich demütigt. Als alle vom Tisch aufgestanden sind (sie hat das Brot natürlich nicht mehr gegessen), schnauzt meine Schwester das Mädchen an: "Ich glaube, Du willst mich ärgern!"

Seitdem beschäftigt mich diese Szene. Ich sehe sich die Geschichte wiederholen. In den Augen meiner Schwester sehe ich die Härte meines Vaters, gepaart mit der Kälte meiner Mutter. Ich sehe unter allem Perfektionismus und aller Beherrschtheit nach außen einen Schimmer ihres eigenen Schmerzes, den nun meine kleine Nichte zu spüren bekommt, weil meine Schwester ihn selbst nicht spüren will. Ich spüre Mitgefühl. Für beide. Ich weiß, wie es ist.

Am Sonntag abend fahren wir in die Dämmerung hinein nach hause, mit diesem Konglomerat an Gefühlen. Ich glaube, ich muss noch oft darüber sprechen, es immer neu widerkäuen, es hin- und herfließen lassen, nachschauen, ob sich dieses Bild verändert, ob es verblasst oder plötzlich etwas anderes zeigt. Ich bin nicht in der Lage, es zu bewerten. Es ist nicht gut oder schlecht, es ist jetzt gerade einfach da, und sieht höchst eigenartig aus. Durstig, traurig, einsam, gespannt, starr, unerreichbar, gläsern, monochrom. Die gemeinsam verbrachte Zeit wie eine Art seltsamer Kokon, den man eine Weile teilte, aber nicht wirklich bewohnte. Erkenntnisse werde ich posten.

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Freitag, 23. September 2011
Von Schwere, Faulheit und der Gnade der Geburt im Frühling
Ich hasse meinen Wecker. Lange Zeit fiel es mir schwer genug, überhaupt zu schlafen. Grübeleien, Herzklopfen und Schmerz über das eigene Dasein verhinderten oft, dass ich ein Auge zutat. Der Griff zu einem Glas Wein, Gin Tonic oder Wodka hat in meiner Zeit des Alleinlebens schließlich die bösen Geister besänftigt. Nicht, dass ich damals die Übersicht gehabt hätte, um zu verstehen, dass ich das brauchte und warum.

Heute kann ich schlafen. Was für eine Gnade! Allerdings werde ich selten vor Mitternacht wirklich müde, was ein Problem darstellt, wenn man spätestens um halb sieben wieder raus muss. Wenn der Wecker klingelt, scheint es mir, dass ich mich gerade erst in mein warmes Nest gekuschelt habe, dass ich gerade erst begonnen habe, erholsam, ruhig und entspannt zu schlafen. Dann ist da dieses unbarmherzig piepende Monster, das sich alle fünf Minuten meldet und mir hämisch die Zeit zeigt.

Stehaufstehaufstehaufstehaufstehauf!! Losmachdufaulesau!!

In dieser Phase träume ich noch mal sehr intensiv, immer in Abschnitten, immer sehr bunt und absurd. Der Gatte ist schon längst aktiv und stellt das Haus auf den Kopf, meist recht lautstark, denn es besteht ja auch kein Anlass, auf meinen Schlaf Rücksicht zu nehmen. Aufstehen muss ich sowieso.

Ich kann aber nicht. Alles sträubt sich in mir. Es ist, als ob mich die Schwerkraft tiefer in die Kissen zieht und mich mit aller Macht daran zu hindern versucht, das Bett zu verlassen. Ein morgendlicher Kampf gegen Naturgewalten, der nur am Wochenende ausgesetzt wird. Ließe man mich nur eine, anderthalb Stunden länger, dann fiele das Aufstehen leicht und geschähe freiwillig.

Obwohl man heute weiß, wie es um das Schlaf- und Aufstehverhalten der Menschen bestellt ist und das auch nachweisen konnte, hält sich in meinem eigenen wie auch in den Köpfen anderer hartnäckig die Ansicht, ein Morgenmuffel zu sein und schlicht zu faul und undiszipliniert, um fristgerecht den Allerwertesten aus den Federn zu heben. Ebenso hartnäckig hält sich die Mär, die morgendlichen Schwierigkeiten ließen sich allein dadurch bewältigen, dass man sich ein bisschen zusammenreiße.

Was habe ich mir alles anhören dürfen deswegen. "Geh doch einfach früher schlafen!" ist nur ein wenig hilfreicher Ratschlag von vielen, und das funktioniert ganz einfach nicht. Ich habe nichts davon, mich um zehn Uhr abends ins Bett zu legen, das Licht auszumachen und zu beschließen, jetzt einfach mal zu schlafen. Es geht nicht. Ich ticke noch auf Hochtouren.

Mein Körper lässt sich nicht vom Wecker zum Aufwachen überreden. Morgens liege ich unter der Decke, eingemummelt bis zum Kinn. Sobald das unsägliche Ding piepst, schießt mein Arm unter der Decke hervor wie die Zunge eines fliegenfangenden Frosches, um in einer einzigen fließenden Bewegung den Schlummer-Knopf zu drücken, das Teil zum Schweigen zu bringen und dann wieder im Wohlig-Warmen zu verschwinden.

Ich habe alles probiert, um die Aufstehmotivation zu steigern. Den Wecker außerhalb meiner Komfortzone platziert, um mich dazu zu zwingen, den warmen Kokon zu verlassen. Was nur dazu führte, dass ich aufstand, das Teil stumm stellte und wieder unter die Decke schlüpfte. Den Schlummer-Rhythmus unterschiedlich eingestellt (ich habe es mit drei, fünf, zehn, zwanzig Minuten versucht). Die Weckzeit vor- und zurückverlegt. Beim ersten Piepsen das Licht angemacht, um die Melatoninproduktion zu drosseln. Etcetera, etcetera. Es funktioniert nicht.

Ich bin und bleibe eine Eule. Theorien besagen, möglicherweise läge es daran, dass ich eine Herbstgeborene bin und zu Beginn meines Lebens vorerst nur kurze Tage mit späten Morgenden erlebt habe. Dazu passt auch, dass der Gemahl im Frühjahr geboren und ein ausgesprochener Morgenmensch ist.

Die Stimme in meinem Inneren bemerkt allerdings voller Herablassung: "Was für eine lahme Ausrede für Deinen chronischen Mangel an Disziplin, Du faule Sau!" Letztlich halte ich es für ein Gerücht, das alles dem Willen unterworfen ist und man durch ausreichende Anstrengung eine Änderung herbeiführen kann. Aber das hilft mir wenig, vor allem im Bezug auf meine persönliche Verträglichkeit mit dem Lerchen-Rhythmus des Gatten - der früh einschläft und ebenso früh aufsteht, herumwuselt und schließlich aufbricht - und mit dem sauber getakteten Büroleben.

Ich ticke wohl einfach nicht richtig.

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Mittwoch, 21. September 2011
Geschenkt.
Ich mag es nicht sonderlich, Geburtstag zu haben. Es soll ja Leute geben, die es total genießen können, im Mittelpunkt zu stehen und sich von Hans und Franz abknuddeln zu lassen, ein Gläschen Prosecco dazu, alles fluffig. Aber zu denen gehöre ich nicht. Das ist einfach nicht mein Feld. Im Übrigen weiß ich, dass diejenigen Menschen, denen ich wirklich wichtig bin, öfter als nur einmal im Jahr an mich denken und dass dieser Tag, an dem ich zur Welt kam, nur so viel Bedeutung hat, wie ich ihm beimesse.

Gestern kam der Gemahl nach hause und drückte mir einen dicken Umschlag in die Hand, den er aus dem Postkasten gefischt hatte. Darauf die Handschrift meines Vaters - schon mal keine gute Voraussetzung für eine positive Überraschung. In den letzten Jahren hatte ich alle Zuwendungen, die seitens meiner Eltern kamen, rigoros abgelehnt. Das mag auch daran liegen, dass ich es nicht gelernt habe, unbefangen Geschenke entgegen zu nehmen. Immer war alles mit einem Deal verbunden. Geschenk gegen Dankbarkeit. Geschenk gegen Aufmerksamkeit. Geschenk gegen Zuneigung. Geschenk gegen Verbundenheit. In der braunen Papiertüte war auch ein Geschenk. Zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag ein Jahresabonnement auf "Die Zeit". In der Sache ist dagegen nichts einzuwenden. Lesen bildet.

"Was soll ich jetzt tun?", fragte ich den Gatten. Der gab zu bedenken, dass dieses Geschenk mich überhaupt nicht in Zugzwang setzt, wenn ich daran die Maßstäbe anlege, die üblicherweise für Geschenke gelten, nicht in der Welt meiner Eltern. Denn ein Geschenk ist ein Geschenk. Ich müsste gar nicht reagieren. So weit, so gut.

Als ich heute morgen darüber nachdachte, fiel mir allerdings auf: Ein Abonnement ist ein Geschenk, dass ich nicht zurückschicken kann. Und: Es "zwingt" mich quasi wöchentlich dazu, an meine Eltern zu denken. Ob hinter diesen beiden Umständen unbewusste Wünsche, kaltes Kalkül oder lediglich die besten Absichten stecken, weiß ich nicht.

Jedenfalls setzt bei mir noch immer reflexartig der Mechanismus ein, nach dem mein Leben mein Leben lang funktioniert hat: Die Erwartungen meiner Eltern zu erraten und in der Folge das Gefühl der Verpflichtung zur Dankbarkeit und zu einer Gegenleistung. Fesselung und das Gefühl, gekauft worden zu sein. Käuflich zu sein. Eine Hure, die ihre Prinzipien über Bord wirft, sobald ein Vorteil am Horizont sichtbar wird. Aber was soll schon auch anderes dabei herauskommen als eine Hure, wenn meine engsten Verwandten mich dafür bezahlen, dass ich sie "liebe".

Ich liebe sie nicht. Das ist das Problem.

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