Sturmflut
Dienstag, 29. Mai 2012
Be prepared!
Heute habe ich meine zwei Sparpreis-Tickets für die Wandertour erstanden. Knapp einen Monat ist es noch hin. Die ersten beiden Unterkünfte sind gebucht.

Wir werden weder Zelt noch Isomatten oder Kochtöpfe mitschleppen, und die klugen Planer der neuen Weserbergland-Route haben vergessen, dass es am Ende der von ihnen vorgeschlagenen ersten Etappe keine Unterkünfte gibt - es sei denn, man man möchte noch "mal kurz" ein paar Kilometer von der Strecke abweichen. Also habe ich in OSM eine Routenänderung vorgenommen, die uns nahe eines schönen alten Klosters nächtigen lassen wird - mit Blick auf die Weser. Zweimal Fährefahren inklusive.

S. ist mir dankbar dafür, dass ich so viel plane, aber ich komme mir ein bisschen vor wie die Mutter der Kompanie. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so eine Macher-Type bin, aber anscheinend bin ich es. Ich liebe das Rumgewurstel mit den Karten, das Herausfinden spannender und schöner Ecken auf der Route, das Planen und Vorfreuen.

Letzte Woche traf meine teuerste Anschaffung seit langem ein: Der Rucksack. Ein Riesenteil, wahrscheinlich könnte ich mich damit auch drei Wochen durch norwegische Wälder schlagen. Möglicherweise mache ich das aber auch irgendwann noch mal.


Der Strohhut kommt natürlich mit. Hoffentlich brauche ich ihn auch. Neue Trekkingstiefel sitzen aber erst nach der nächsten Gehaltszahlung drin.


Stöcke sind von den Schwiegereltern entliehen. GPS-Empfänger habe ich ohnehin. Topo-Karten sind zum Teil da, zum Teil noch in Bestellung. Ein paar nette Geocaches muss ich mir für die Route noch suchen - da muss S. dann durch.

Und sonst so? Ich bin schon fast weg. Fehlen bloß noch die Butterkekse.

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Mittwoch, 23. Mai 2012
Balsam.
Im übrigen, finde ich, hat das System doch immer so funktioniert, Deine Mutter leidet, andere fühlen sich unter Druck gesetzt und Dein Vater bekommt das, was er will. Da darf man/frau nicht mitspielen.

Aus der Feder meiner Cousine (die meine Handynummer ebenfalls für sich behalten hat).

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Mittwoch, 16. Mai 2012
Anrufe aus einer anderen Welt
Wir hatten Muttertag. Wir haben morgen Vatertag. Zweifelhaft sind mir diese "Feiertage" ohnehin schon immer gewesen.

Nun erinnern sie ganz offensichtlich meinen Vater daran, dass er Vater ist. Oder es fiel ihm aus anderen Gründen ein. Er rief an und sprach mir auf den Anrufbeantworter. Er wolle nur mal hören, wie es mir so gehe. Er probiere es dann später noch mal. Sprachs mit einem leicht gekränkt wirkenden Knackser in der Stimme und legte auf.

Ich dachte mir, ich warte mal ab und schaue, was passiert. Ich wüsste nicht, was ich denn groß mit ihm zu bereden hätte. Deswegen habe ich ja auch seit mehr als drei Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen.

Gestern dann ein zweiter Anruf. Während ich noch überlegte, ob ich drangehe oder nicht, hörte das Klingeln auf. Aber er hatte seinen zweiten Versuch ja angekündigt, also verbuchte ich das recht gelassen unter "Ja, wenn er unbedingt meint..."

Nervig wurde es erst, als ich mein Handy noch einmal anmachte. Ich wollte vor dem Schlafengehen noch nachsehen, ob mein frisch bestellter Trekkingrucksack in der Packstation eingetroffen sein könnte. Das Handy machte sein übliches Schwuppdiwupp-Geräusch, auf das ich inzwischen in Erwartung neuer Nachrichten konditioniert bin, und zeigte mir schließlich im Display die Nummer meiner Eltern. Da kroch mir dann doch der Ärger in den Bauch. Zunächst, weil ich meine neue Nummer meinen Eltern wohlweislich nicht gegeben hatte und sie also jemand ungefragt weitergegeben haben musste. Meiner Cousine traute ich desgleichen nicht zu, Freundin G. nur begrenzt - nach allem, was ich ihr berichtet habe. Blieb nur noch meine Schwester. Ich habe sie per Mail gefragt. Mal sehen, ob sie dazu etwas zu sagen hat.

Der Ärger, der leiser und nachhaltiger ist als der über die verratene Telefonnummer, dreht sich um die plötzliche Dringlichkeit. Darin schimmert diese Bedürftigkeit meines Vaters auf, die nach unbedingter Aufmerksamkeit schreit, und zwar, wann es ihm passt, nicht irgendwem sonst.

Be! Ach! Te! Mich!!!

Dieses Verhalten war einer der Gründe, warum ich ihn nicht mehr ertrug.

Ich bin ratlos. Ich wüsste nicht, was ausreichend erfolgversprechend, emotional wertvoll oder anderweitig bedeutsam wäre, um zwischen uns besprochen zu werden. Ich schätze, den nächsten Anruf werde ich annehmen. Wie das ausgeht, weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht bereit bin, dieser Person größeren Raum in meinem Leben zu gewähren, weil es sich nun einmal ohne sie besser lebt. Ich will mich nicht um meinen Vater kümmern. Dieses Kind!

Ich bin zwischenzeitlich glücklich, und zwar so sehr wie noch niemals vorher in meinem Leben. Ich werde nicht zulassen, dass sich das seinetwegen noch einmal ändert. Ich bin ein anderer Mensch.

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Samstag, 28. April 2012
Zu Fuß
Wenn S. und ich zu Studienzeiten gemeinsam in irgendeinem Café oder in meiner Wohnung bei einem Glas Wein saßen oder auf der Decke am nahegelegenen See, fabulierten wir gern darüber, wie es wohl wäre, mal gemeinsam den Jakobsweg zu wandern. Nicht aus religiösen, sondern eher aus Entschleunigungsgründen. Zur Schaffung gemeinsamer Erlebnisse, zum Verbringen gemeinsamer Zeit, zu einer neuen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und generell zum Durchatmen. Was natürlich auch Blasen an den Füßen, unbequeme Betten und das Schleppen von Rucksäcken mit eingeschlossen hätte. Ein paar Wochen hätten wir dafür schon investieren müssen. Ein Zeitraum, der zu Studentenzeiten längst nicht so verschwenderisch üppig erschien wie jetzt, da wir beide Bekanntschaft gemacht haben mit der Realität des Arbeitslebens und der Neubewertung von Freizeit. An Zeit hatten wir damals reichlich, was uns heute fehlt. Dafür haben wir heute finanzielle Möglichkeiten, an denen es damals mangelte. Das scheint so etwas wie ein höheres Gesetz zu sein.

Also scheiterte die erträumte Wallfahrt seinerzeit am leeren Portemonnaie, aber auch daran, dass sich schließlich zumindest geografisch unsere Lebenswege trennten und wir kaum Möglichkeiten für gemeinsame Pläne hatten. S. war ständig in der Weltgeschichte unterwegs, promovierte und veröffentlichte, hielt Seminare. Bis hin zum Burn-Out, der schließlich zu ihrem Entschluss beitrug, ihre Stelle zu kündigen und aus dem Wissenschaftsbetrieb auszusteigen. Jetzt ist sie arbeitslos und also frei, was die Zeitgestaltung betrifft, schreibt natürlich auch weiterhin Bewerbungen und sucht nach einer neuen Richtung. Ich meinerseits war damit beschäftigt, mich parallel zum schlecht bezahlten Werksstudentendasein durch die Tiefe meiner Vergangenheit zu wühlen, Wunden zum Heilen zu bringen und manchmal auch nur damit, mich einfach über Wasser zu halten, was eher dem reinen Überleben als wirklichem Leben glich. Komisch, dass S. und mich so gegensätzliche Umstände wieder näher zueinander bringen - sie arbeitslos, ich mit Festanstellung.

Sie rief an und sprach mit meiner Antwortmaschine. Wir hätten doch schon so oft übers gemeinsame Wandern gesprochen und jetzt - naja, ob ich nicht Lust hätte? Nicht gleich nach Santiago de Compostela, sondern in erreichbarem Umkreis, aber dennoch auf den eigenen zwei Beinen, gemeinsam mit ihr, eine Woche lang. Vielleicht Ende Juni?

Es freut mich besonders, das aus S.' Mund zu hören, weil ich mir nie sicher war, ob sie so viel Zweisamkeit und Langsamkeit eigentlich wirklich möchte. Grundsätzlich ist sie ja doch eher der Typ Mensch, der flüchtet und nirgends ankommt. Aber vielleicht ist das gerade der Grund, warum sie es vorschlägt. Gerade jetzt, weil sich bei ihr und in ihr so viel verändert. Weil sie weiß, wir zwei haben uns immer noch etwas zu sagen nach all der Zeit, würden es problemlos miteinander aushalten und vielleicht ein wenig näher kommen - zueinander, zu uns selbst und zur Natur. Also rief ich zurück, und wir begannen, Pläne zu schmieden. Das Zielgebiet und die Route sollen gegen Mitte, Ende Mai feststehen. Vom Fortgang der Planungen werde ich sicher immer wieder hier berichten.

Es wird nichts Großes, nichts Weites, es wird Deutschland bleiben. Zwanzig oder fünfundzwanzig Kilometer pro Tag, vielleicht manchmal mehr, manchmal weniger.

Wie aufregend sowas sein kann, erfuhr ich im Wortsinne bereits schon mal, als ich mit dem Gemahl im Sommer eine dreitägige Fluss-Radtour machte. Wir kannten die Gegend, wir fuhren von W. aus einfach mit dem Rad nach hause. Es war faszinierend, was mit der Zeit geschah. Sie schien sich plötzlich zu dehnen, obwohl man doch immer sagt, dass die Zeit fliegt, wenn man Spaß hat. Wir haben den Tagen mehr Leben gegeben (auch wenn ich diesen Spruch eigentlich etwas kitschig finde, trifft er doch zu). Die drei Tage waren gefühlt wie eine Woche und der Erholungswert ohnehin unbezahlbar.

Es ist etwas besonderes, morgens loszufahren, wenn der Nebel noch über den Feldern liegt. Sich im Gewitterregen unter ein Scheunendach zu ducken, nachdem man einige Kilometer weit ziemlich eilig den dunklen Wolken davon gefahren ist. Nach einem Tag im Fahrradsattel in einen Baggersee zu springen und die Kühle zu genießen. Schließlich abends in einem Biergarten zu sitzen mit Kies unter den Füßen und einem eiskalten Bier vor der Nase. Es schläft sich anders, es isst sich anders, es atmet sich anders. Der Blick auf die Landschaft ist anders. Diese Art des Reisens abseits der Autobahnen und Bundesstraßen erschließt einen vollkommen anderen Blick auf die Landschaft und die Natur. Man sieht Viecher, die man sonst nicht gesehen hätte und bleibt an Plätzen stehen, die sonst unbeachtet an einem vorbeigestreift wären.

Ich weiß nicht, in wie weit meine Vorstellung des gemeinsamen Wanderns mit S. von der Realität entzaubert werden wird. Ob uns möglicherweise schmerzende Füße, Dauerregen und Mückenschwärme piesacken werden. Aber ich muss sagen, dass ich mich auf die Erfahrung über alle Maßen freue. "Wer weiß," meinte S. schließlich am Telefon, "vielleicht gehen wir nächstes Jahr dann zwei Wochen, übernächstes drei und schließlich doch noch nach Santiago!" Wer weiß. Jede Tradition findet irgendwo ihren Anfang.

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Samstag, 21. April 2012
Bleibt alles anders
Seit Dienstag bin ich wieder angemeldet im Fitness-Studio. Ich habe das alles schon mal gemacht, aber es ist Jahre her. Vergessen habe ich es doch nicht. Jetzt gibt es also wieder zweimal die Woche Kraftausdauertraining, und ich freue mich. Ich wollte eigentlich schwimmen. Vorher habe ich auch mal mit dem Gedanken gespielt, mit meiner inzwischen nicht mehr ganz so neuen Kollegin einmal wöchentlich zum Sport zu gehen. Aber die Motivation hielt sich doch irgendwie in Grenzen. Komisch, dass es die vielgeschmähte Mucki-Bude ist, die mir jetzt gerade den Spaß zurückbringt. Ich freue mich über Muskelkater und darüber, dass ich längst nicht so schwach abschneide, wie ich dachte und kriege auf dem Crosstrainer ein Runner's High ohne Knieschmerzen und Heuschnupfen.

Irgendwie ist alles anders. Ich muss an die Zeit denken, als ich das Fitnesstraining in meiner Uni-Stadt aufgab. Es war nach meiner ersten Ohren-OP, ich war schlapp von dem wochenlangen Herumliegen im Krankenhaus und fing nicht wieder an. Nach der zweiten OP stürzte ich in ein richtiges Loch, scheinbar grundlos, körperlich war ja alles wieder halbwegs in Ordnung. Trotzdem blieb ich die meiste Zeit in meiner Wohnung, tat kaum einen Schritt vor die Tür und blieb nachts wach bis zwei Uhr, um so todmüde zu sein, dass ich auch wirklich schlafen konnte. Die Depression mit ihren widerlichen, langen Fingern. So ganz hat sie mich seitdem nicht wieder verlassen. Bis jetzt.

Ich kann endlich mal wieder sagen, dass es mir richtig, richtig gut geht. Natürlich gibt es Hochs und Tiefs, aber jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, mich nicht mehr abquälen zu müssen, Dinge mühelos zu schaffen oder Freude an der Mühe zu haben, mich nicht überwinden zu müssen, angekommen zu sein.

In Gedanken ließ ich heute nachmittag, dösend auf dem Sofa liegend, ein bisschen Vergangenheit Revue passieren. Ich stelle fest, dass ich heute anderswo bin als zuvor. Nicht mehr in einsamen Wohnungen, nicht mehr unter Erwartungsdruck, nicht mehr diese verkrampfte, traurige Person, die bis mittags nicht aus dem Bett kam und manchmal kaum fähig war, sich überhaupt anzuziehen. Die Rechnungen ungeöffnet liegen ließ bis zur zweiten Mahnung. Die mit der Straßenbahn bis zur Endstation fuhr und dann wieder zurück, um die kahlen Wände des WG-Zimmers nicht sehen zu müssen.

Diese Zeiten sind vorbei, ich bin geborgen, ich bin zuhause und nicht allein, bin mir meiner selbst sicher, kann von der Arbeit meiner Hände und meines Kopfes endlich leben. Ich werte die neue Freude an der eigenen Kraft und der Bewegung als Ausdruck des Ankommens in meiner eigenen Haut, als Kongruent-Sein. Trotzdem ist das alles auch ein Teil von mir, dieses Verzerrtsein, die Zerrissenheit. Ich bin so stolz auf mich. Ich stehe wieder aufrecht, das alles hat mich nicht umgebracht - wider Erwarten.

Es ist ein bisschen, als müsste ich mich erinnern, um mich lebendig zu fühlen. Um komplett zu sein. Aber weh tut es nicht mehr. Es ist einfach.

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Freitag, 30. März 2012
Welcome to the Machine
Arbeitsvertrag, Festanstellung, Vollzeit. Dann gestern die letzte Fahrt mit dem Semesterticket.

Mal sehen, ob ich richtig abgebogen bin...

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Dienstag, 20. März 2012
Zum Wohl!
Ich erwache nachts um halb drei mit heftigem Herzklopfen, Schweißausbrüchen und massiver Übelkeit. Das zugrundeliegende Problem ist ausnahmsweise nicht seelischer Natur. Es liegt darin begründet, dass ich nicht "nein" sagen konnte. "Nein" zu vier lächerlichen Gläsern Sekt und einem Ramazzotti mit Eis bei den Schwiegereltern. Die Folgen sind zu unschön, um hier ausführlich beschrieben zu werden. Mein Magen macht so etwas einfach nicht mehr mit. Und nach meiner nächtlichen Begegnung mit der Keramik schmecken Atemluft und Leitungswasser unerträglich süß - so süß, dass mir allein davon beinahe wieder schlecht wird. Die Kohlensäure beißt im Hals. Zum Glück ist der folgende Tag ein Sonntag. Ich kann aber vorweg nehmen: Dieser Sonntag ist völlig für die Tonne.

Ich ärgere mich. Ein wenig über mich selbst und meine mangelnde Konsequenz, was den Umgang mit Alkohol angeht. Ich weiß ja, dass ich nur wenig vertrage. Vor allem aber ärgere ich mich über die Rollenzuweisung als Spaßbremse, über die verschwindend geringe Akzeptanz des Satzes "Nein danke, ich habe genug!" oder "Ein halbes Glas...!" Der Schwiegervater schenkt mehr nach als gewollt, denn "...da ist ja nur Schaum drin!", und die Schwiegermutter beschwert sich, sie habe ja "niemanden zum Trinken", denn dem Schwager wurde heute die Aufgabe des Familienchauffeurs zugewiesen. Normalerweise ist er derjenige, der problemlos und gewohnheitsmäßig mehr wegsteckt als wir alle zusammen. Meine Schwägerin, die sich ausgebeten hatte, heute diejenige zu sein, die Alkohol trinken darf, trinkt allerdings in den Augen ihres Herrn Gemahl so wenig, dass sich dafür seine eigene Abstinenz nicht lohnt. Also ist er vergrätzt, und diese Stimmung hängt greifbar in der Luft. Seine Frau ist schuld, dass er keinen Spaß haben kann, was er sie auch deutlich spüren lässt. Der Zustand hält an bis zu dem Zeitpunkt, als Schwiegermama vorschlägt, der Familie ein Taxi für die Heimfahrt zu zahlen. Da schleicht sich ein Strahlen auf des Schwagers Gesicht, und er nimmt freudig einen "Absacker" aus Schwiegermutters Hand entgegen.

Als ich das nächste Mal hinsehe, ist das Gesicht meiner Schwägerin tränenüberströmt. Schwiegermama ist betreten, alles ist auf einmal nicht mehr so lustig, und weder Schwager noch Schwägerin haben plötzlich noch Lust auf Alkohol. Sie schauen sich nicht mehr in die Augen und sind beim Kartenspiel sehr still. Als wir alle schließlich aufbrechen, gehen die beiden wortlos.

Mir und meinem Magen geht es noch gut. Zuhause lesen der Gemahl und ich noch ein paar Seiten und knipsen dann das Licht aus. Bis mich der Krieg in meinen Eingeweiden wieder weckt, unsanft, nachhaltig, heftig, und mich daran erinnert, was ich eigentlich von der Sauferei halte: Sie stößt mir so richtig sauer auf.

Für manchen scheint es schwer verständlich, dass es Menschen gibt, die wegen generell äußerst maßvollen Alkoholkonsums nur noch geringe Mengen von dem Zeug vertragen. Wenn ich bei Schwiegers sitze und sage "Ich vertrage es nicht!", dann meine ich das so. Ich trinke nicht jeden Abend. Ich trinke nicht jede Woche. Ich trinke nicht einmal unbedingt jeden Monat. Ich trinke sehr selten. Eine Flasche kühles Radler oder Bier nach der Gartenarbeit oder an lauen Abenden in Gesellschaft. Ein Gläschen von dem erinnerungsbehafteten, ibizenkischen Hierbas, oder wenn im Hause, Single Malt Whiskey oder Gin Tonic, wenn mir wirklich mal danach ist. Mein Leben ist weitestgehend suchtmittelfrei (wenn man einmal absieht von gelegentlichen Schokocroissant- oder Döner-Attacken). Wie langweilig!

Das war nicht immer so. Ich erinnere mich noch gut, wie ausgezeichnet sich Alkohol zur Betäubung ins Bewusstsein drängender Ängste eignet, wie einfach sich Zweifel und Sehnsüchte mit einem Schluck besänftigen lassen. Wie sich hopfenbetäubter Schlaf anfühlt. Ich habe gern gefeiert, mit Kommilitonen und Freunden. Nur irgendwann zog ich das Klar-Sein der zuckerwattigen Betäubung vor und die entspannten Sonntage den verkaterten. Vielleicht, weil mein Fluchtimpuls vor mir selbst weniger drängend wurde.

Mit der Perspektive der Außenstehenden entsetzt mich nun, was ich sehe. Möglich, dass ich vorher zum Sehen gar nicht imstande war. Ich hätte nicht gesehen, wie abartig es eigentlich wirklich ist, wenn eine Gruppe besoffener Freunde inklusive Bräutigam den Abend einer Hochzeitsfeier lallend auf Bierkisten sitzend in einer stinkenden Lache beschließt. Ich hätte nicht gesehen, dass es durchaus bemerkenswert ist, dass kein Treffen zum Frühstück, kein Grillen, kein Kartenspiel in der Schwiegerfamilie ohne den obligatorischen Sekt auskommt. Ich hätte nicht den silbernen Flachmann mit Whiskey gesehen, den sich zehn Minuten vor seiner kirchlichen Trauung der Schwager an die Lippen führte. Alles ganz normal.

Es scheint mir beinahe schon absurd, dass eine Gesellschaft, in der Trinken so akzeptiert und an der Tagesordnung ist, sich tatsächlich Sorgen um Jugendliche mit Alcopops macht. Trinker, Alkoholiker sind immer die anderen. Man selbst ist niemals süchtig, man muss nur zufällig gerade etwas feiern, auf etwas anstoßen, einen fetten Braten verdauen, ein paar Sorgen vergessen, sich entspannen, sich entstressen, neue Nuancen im Abgang des Weins herausschmecken, verköstigen, sich wärmen oder kühlen... Das hat natürlich nichts mit dem Rotnasigen gemein, der jeden Tag im Bus hinter Dir sitzt und der den Alkoholdunst aus jeder Pore atmet, so dass Du Dich umsetzen musst. Wir sind anständige Trinker.

Was, Du willst nichts? Du verträgst nichts? Sag mal, verstehst Du denn keinen Spaß? Willst Du nicht dabei sein? Bist Du plötzlich unter die Asketen gegangen? Willst Du etwas beweisen? Ach, komm, einem schaffst Du doch noch... Prösterchen!

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Sonntag, 22. Januar 2012
Fragebogen, ansteckend...
Ein Aspekt der täglichen Kommunikationsvernetzung ist zweifelsohne der Blick ins Blog, nicht nur in mein eigenes, sondern in immer mal wieder das eine oder das andere, ob nun im Kreise der üblichen Verdächtigen von der eigenen Blogroll oder aus der Liste der Aktualisierten aufgepickt.

Da stellte ich heute fest, als ich bei Herrn Tomkin vorbeischaute, dass ich "getagged" wurde (und habe gerade meine Schwierigkeiten damit, das Denglisch korrekt zu verwenden - ach, was soll's). Da dieser Fragebogen anscheinend ansteckend ist, gehe ich der Einladung nach und "fülle" ihn aus. Nicht, dass Herr Tomkin am Ende lediglich ein Blatt am Baum bliebe...

1. Wann hast du mit dem bloggen angefangen?

Heute bin ich blogtechnisch online seit 1180 Tagen, also seit drei Jahren (und 'nem bisschen), aber ich muss der Fairness halber sagen, dass das der Start meines "ersten Versuchs" war und das Blog zwischenzeitlich noch mal ein bisschen schlief. Der neue erste Eintrag mit dem Titel "Zweiter Versuch..." stammt vom 20. Oktober 2009.

2. Wieso?

Ich habe mich zu der Zeit viel in Internet-Foren "ausgeschrieben", aber festgestellt, dass das letztlich nicht die richtige Form für mich ist. Dazu kam die Ermutigung eines Freundes, öffentlich zu schreiben, anstatt meine Texte auf der Platte des Rechners verschimmeln zu lassen. Ich mag es, zu schreiben und manchmal meine Gedanken zu bestimmten Themen essayartig zusammenzufassen, und hier bekomme ich ein Feedback dazu - das macht den Unterschied zum Tagebuchschreiben aus.

3. Wirst du noch weiter bloggen?

Na sicher.

4. Was ist deine Lieblingsfarbe?

Blau.

5. Wieso?

Ich mag die kühle Ruhe, die die Farbe vermittelt, unaufgeregt und ein bisschen distanziert. Außerdem steht sie mir.

6. Lieblingsjahreszeit?

Der Frühsommer, Ende Mai, Anfang Juni, wenn es warm genug ist, um wieder draußen sein zu können und alles üppig wächst. Ich mag aber auch den Frühherbst im September, wenn allem schon ein Hauch von Verfall innewohnt.

7. Hast du ein schräges/außergewöhnliches Hobby?

Ich habe Hobbies, würde aber keines davon als schräg bezeichnen.

8. Gehst du ihm auch fleißig nach?

Ja, ich bin der Ansicht, der Tag hat zu wenig Stunden dafür. Würde ich nicht mehr arbeiten müssen, würde mir sicher nicht langweilig.

9. Was ist dein Lieblingsfilm?

Welcher von den vielen? Weil ich mit einem ausgesprochenen Cineasten verheiratet bin, habe ich eine unendlich große Auswahl. Ich mag z.B. "Die Verurteilten", "Children of Men", "Into the Wild", "Der Ghostwriter", "Déjà vu"... die Liste könnte noch viel länger werden. Aber ich habe natürlich auch was übrig für Klassiker, Klamauk und gute (!) Fernsehserien.

10. Und zu guter letzt: Wen taggst du?

Wenn sie getagged werden mag, Frau Tama.

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Montag, 16. Januar 2012
Na traumhaft: sex and violence.
Ich träume immer sehr intensiv. Mal realistisch, mal surreal, mal abgefahren und kompliziert, mal sachlich. Ich kann mich an vieles von dem, was ich träume, erinnern - auch längerfristig. Oft ist es so, dass sich gegen Abend, wenn ich müde werde, die Tore zum Unterbewusstsein wieder öffnen und das Geträumte der letzten Nacht wieder zurückkehrt. Nicht einfach nur als bildhafte Erinnerung, sondern in Form des erlebten Gesamtgefühls. Eigentlich war mir das auch immer recht angenehm. Selbst, wenn ich nichts Schönes geträumt habe, fand ich das Nachdenken darüber meistens konstruktiv, und es weckte die detektivische Ader in eigener Sache, die ohnehin bei mir vorhanden ist.

Jetzt allmählich wird's mir aber doch ein bisschen viel. Die letzten drei, vier Nächte waren derart geprägt von lebendigen Träumen, dass ich mich schwer damit tue, das alles zu fassen. Es sind auch immer mehrere Träume pro Nacht, an die ich mich erinnere. Vermutlich, weil ich oft wach werde. Sobald ein Traum seine "Pointe" erreicht hat, werde ich wach und analysiere.

Ich habe jüngst allerhand Unfug getrieben im Traum.

Ich habe ein Auto geklaut und mir dann den Kopf darüber zerbrochen, wie es wieder loszuwerden sei. Und alle möglichen Parkplätze der Stadt in Betracht gezogen und wieder verworfen, weil Parkgebühren zu entrichten wären, oder weil die zugegebenermaßen etwas eigenartige Kreuzung aus einem VW Golf 1 und einem Pick-up zu sehr aufgefallen wäre. Ich habe das Teil über Schotterstraßen in einen alten Steinbruch gefahren, nur um festzustellen, dass dort ein paar junge Männer eher rechter Gesinnung das Terrain zwecks Schießübungen in Beschlag genommen hatten, und habe dann eine Kehrtwendung gemacht, bevor mich noch jemand dumm anmachen konnte. Schließlich beschlossen, das Automobil im "Problemviertel" der Stadt zu parken, wo man allerhand andere Leute des Diebstahls verdächtigen würde, aber mich nicht. Nicht gerade nett, ich weiß. Wieso träumt man so einen Mist? Und dann wurde ich wach, stellte fest, es war ein Traum - und überlegte weiter an einer effektiven Methode, das gestohlene Auto irgendwo abzustellen. Inklusive Fingerabdrücke abwischen und Haare vom Sitz sammeln.

Andere Träume verstehe ich sofort. Dass ich zum Beispiel meinen Vater verprügelte - nach Strich und Faden. Ich schlug auf ihn ein, bis er wimmerte wie ein kleiner Junge, ich griff ihm in die Augen und an die Kehle, und er bettelte, ich möge aufhören. Ich sagte ihm ziemlich mitleidlos, bis ich mit ihm fertig sein würde und er bekommen hätte, was er verdiente, könnte ich problemlos noch zwanzig Jahre so weitermachen. Ich war so rasend vor Wut, dass ich Angst vor mir selbst hatte, als ich wieder wach war.

Ach, und dann diese Chef-Träume. So rund, so positiv. Träume, in denen er mir gegenübersitzt und mich anlächelt, freundlich, zuvorkommend, ehrlich, und ich das Gefühl habe, dass alles, was ich jemals in Hinsicht auf diesen Job anfassen könnte, auch gelingen würde. Sein absolutes Wohlwollen, sein Respekt. Vollkommen untypische Träume für mich, geht doch üblicherweise im Traum oft eine Menge schief. Zumindest aber werde ich verfolgt, bedrängt, muss mich rechtfertigen... Nicht so hier. Ich halte das für ein gutes Zeichen.

Verstörend war dieser skurrile Traum, in dem ich (mal wieder) eine neue Wohnung suchte. Das Zimmer, das ich bezog, wurde mir von einer alten Dame vermietet und hatte keine richtigen Wände, es war vielmehr eine Art überdachte Terrasse und die Möbel, die zum "möblierten Zimmer" dazu gehörten, waren nur durch allerhand hoch- und runterklappbare Planen vor dem Regen geschützt. Eher schlecht als recht. Mein Vormieter war ein junger Mann, der noch seine Matratze raustrug, als ich kam. Die Dame stellte mir all die Dinge wieder in dieses Zimmer, die mein Vorgänger nicht hatte haben wollen, darunter ein gusseiserner, mit Holz zu heizender Ofen und ein eigenartiger Metalltisch, der mir als Schreibtisch dienen sollte. Auf die Planen tröpfelte der Regen, und unter den gemusterten, abgetretenen Teppichen knarzten Holzdielen, eine Zimmerpalme lehnte sich an die Wand. Es war feuchtkalt. Schnitt - aufgewacht. Und froh, zuhause zu sein. Das war nicht der erste Traum vom Um- und irgendwo Einziehen. Wenn ich in meinem Leben schon tatsächlich so oft Möbel geschleppt hätte wie in Träumen, dann hätte ich die stärksten Türsteherarme der Welt.

Der Weihnachtsfeier-Aufbereitungstraum war einer von den offensichtlichen. Während ich in Anwesenheit der gesamten Familie allein die Geschenke für die Kinder einpackte, warf mir mein Schwager vor, dass ich das nicht heimlich genug tat und laut fragte, was denn nun für wen sei. Woraufhin ich ihm einen von des Gatten Jonglierbällen mit voller Kraft gegen den Kopf schleuderte und ihm ins Gesicht brüllte, er könne ja sein wertes Hinterteil auch mal bewegen, wenn er es so viel besser könne. Ich glaube, ich habe gerade zu viel Testosteron im Blut... Dafür sprechen auch so einige andere Träume, die ich jetzt aber nicht auswalze.

Jedenfalls geht es drunter und drüber, und ich hätte nichts gegen eine Nacht ohne neues Analysematerial. Ich fühle mich vollkommen ausgelaugt und erschöpft. Mal einfach schlafen zu können, ohne zwischendurch aufzuwachen und von Körper und Geist nahtlos weiter beansprucht zu werden, das ist einer meiner größten Wünsche. Beinahe komme ich mir vor wie ein umtriebiges Bürgerfräulein um die Jahrhundertwende, dessen Angehörigen der Herr Doktor mit dem Zwicker auf der Nase verkündet: "Halten Sie jegliche Aufregung von ihr fern, sie ist nervlich überspannt...!" Warum das allerdings so ist, erschließt sich mir nicht. Aber vielleicht träume ich ja die Lösung.

Meine Musik des Tages:
People In Planes - Better Than Life

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Montag, 19. Dezember 2011
debattenfaul
Zwischenzeitlich hat das Sturmflut-Blog fast den Charakter eines Selbsthilfe-Forums für Depressionen angenommen. Aber ich habe nicht ohne Grund irgendwann das Schreiben in Foren bleiben lassen. Es kostet viel zu viel Energie und verleitet mich dazu, dem gesamten Rest der Welt den Wert meiner eigenen Erfahrungen vermitteln zu wollen. Als ob das etwas brächte.

Inspiriert zu sein und die Worte anderer als Anstoß zu neuem Um-die-Ecke-denken zu nutzen ist wunderbar. Es bereichert mich und öffnet mir neue Türen und Wege - neue Blickwinkel auf die Welt. Davon hatte ich sehr viel in der letzten Zeit. Jetzt allerdings brumselt mein Brägen. Ich belasse es beim Bücherlesen und gebe mir eine Debatten-Pause.

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