Montag, 19. November 2012
Was wir sind.
Oder: "Du bist genau so wie..."
Oder: "Du bist genau so wie..."
Am 19. Nov 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Mein Kopf schwirrt von Eindrücken, die zu ordnen mich noch eine Weile beschäftigen wird. Wenn ich von einem Besuch bei meiner Schwester heimkehre, dann bin ich immer sehr erleichtert, meine ganz persönliche "Normalität" wiederzuhaben.
Was nun normal ist, darüber lässt sich bekanntermaßen streiten. Fest steht lediglich, dass um meine Schwester und ihre Familie herum eine Aura der Verkrampftheit herrscht, die ich in meinem eigenen Leben auf gar keinen Fall ertragen könnte. Sie hat sich für alles mögliche tausendmal entschuldigt. Dafür, dass sie uns im Bademantel und mit Handtuchturban auf dem Kopf die Tür öffnete. Dafür, dass mein Schwager nicht da war, weil er noch Dienst in der Klinik hatte. Als wir schließlich am Sonntagabend wieder fuhren, entschuldigte sie sich dafür, dass so viel Chaos gewesen sei, mit Kuchenbacken und Gästen. Das nächste Mal...
Dabei waren es gerade diese ganz alltäglichen Dinge, die mir am Samstag gut gefallen hatten. Das erhoffte Mehr an Nähe ließ sich in manchen Momenten tatsächlich finden. Als wir gemeinsam Kuchen buken und uns um das Drumherum kümmerten, das für die Geburtstagsfeier von Klein J. anstand. Als wir uns am Sonntag gemeinsam darüber freuten, dass die Torte tatsächlich wie geplant gelungen war und darüber hinaus noch gigantisch gut schmeckte. Nähe habe ich gespürt, als sie mit einem warmen Lächeln in den Augen aus der Drogerie kam, vor der ich mit meinem Neffen im Buggy und meiner Nichte auf dem Schoß auf sie gewartet hatte. Diese Nähe fühlte ich besonders, als wir am Samstagabend am Bett meiner Nichte gemeinsam "Weißt du, wieviel Sternlein stehen?" sangen. Da musste ich mir eine Träne der Rührung verkneifen. Da war tatsächlich meine Schwester als Mensch, als wir uns verabschiedeten und sie mich aus der Umarmung (zum ersten Mal, wenn ich mich recht erinnere) nicht wieder entlassen wollte und mir sagte, sie habe sich gefreut. So, dass ich es ihr ohne Umschweife glauben konnte.
Ich habe durchaus gemerkt, dass sie die eine oder andere Spitze an diesem Wochenende gegen mich abfeuerte. Dieses Verhalten kam mir reflexhaft vor, antrainiert, wie ein sorgsam aufgebauter und gepflegter Panzer, hinter dem sie sich versteckt. Getroffen hat sie mich damit nicht wirklich, denn gerade die Erkenntnis über die Reflexhaftigkeit hat mich begreifen lassen, dass nicht ich es war, die gemeint war. Einmal war sie nah dran. Als sie begann, über Lehrer zu lästern, weil diese nun einmal ein eigenartiger, nerviger Menschenschlag seien, habe ich ihr Einhalt geboten und zu Bedenken gegeben, dass meine Freundin I. und ihr Mann S. beide Lehrer seien und nun einmal meine Freunde, und dass ich an ihnen derlei Eigenheiten bislang nicht habe beobachten können.
Ich erzählte, dass I. ihres Chronic Fatigue Syndroms wegen nicht arbeiten könne. Die schlagartige, undurchdachte Antwort meiner Schwester darauf lautete: "Ach ja, Depressionen. Stimmt, die sah auf eurer Hochzeit auch schon so depressiv aus!" Ich gebe zu, da kochte mir schon ein wenig das Blut in die Ohren. Nein, stellte ich klar, mit Depressionen habe das CFS nichts zu tun und im Übrigen kennte ich mich so gründlich mit Depressionen aus, dass ich sie erkennte, wenn ich sie sähe. Die Schulmedizinerin in meiner Schwester konnte einfach nicht umhin, diese Menschen, die sie überhaupt lediglich einmal in ihrem Leben gesehen hatte, im Rahmen ihres Erfahrungshorizontes anhand dieser groben Eckdaten zu bewerten.
Bewertung, damit ist sie ständig beschäftigt. Genau das ist es, was mich irritiert. Es trifft mich nicht mehr, aber ich finde es ausgesprochen anstrengend und rigoros. Der einzige Punkt, an dem sie mich tatsächlich verletzte, war, als sie nach einem etwas eigenartigen Dialog zwischen meinem Mann und mir sagte: "Du bist echt genau wie Mama. Da hast du jetzt wortwörtlich genau das Gleiche gesagt, wie sie immer bei Papa sagt, wenn sie nicht zu Wort kommt. Echt - genau wie Mama!" Stimmt, da war ich konsterniert, war getroffen, konfus, verletzt.
Mir zu sagen, ich sei wie meine Mutter, grenzt in meinen Augen an Beleidigung, zumindest in dieser Hinsicht. Vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Kenntnisse über unsere Mutter musste ihr auch bewusst gewesen sein, wie wenig schmeichelhaft war, was sie sagte. Meine Mutter ist eine äußerst passive Person, die niemals für sich fordert, aber umso mehr darüber jammert, dass sie dauernd zu kurz kommt. In Sachen Redezeit ebenso wie bei Zuwendung, Anerkennung, Respekt, Liebe. Und so sollte ich nun sein? Und möglicherweise noch mein Mann wie mein Vater? History repeating?
In meinem Kopf ging eine Lawine los. Ich sagte meiner Schwester deutlich, wie wenig freundlich ich das fand. Erwartungsgemäß nahm sie das nicht ernst. Im Gegenteil, sie schien sich zu freuen, dass ich mich ärgerte. Das Geröll in meinem Kopf fiel brockenweise. Zuerst donnerte es in mir: "Du brauchst dich nicht zu ärgern. Du brauchst dich nicht zu ärgern. Du brauchst dich nicht zu ärgern. Darüber bist du hinaus!" Dann irgendwann, einige Teppichspiele mit den Kindern und Geschirrspüldurchgänge später: "Richtig, du ärgerst dich. Könnte sein, dass du einen Grund dazu hast. So ist das!" "Das war nicht nett, das mit meiner Mutter", flüsterte ich dem Gemahl in einer ruhigen, unbeobachteten Minute zu, und er nickte.
Der letzte Brocken, der durch meine Gedanken rauschte, war: "Bitte tu dir den Gefallen und überprüfe, ob es der Realität entspricht, was sie sagt!" Was ich tat. Damit hatte die Lawine ein Ende.
Sie tut es überall. "Du bist genau so wie..." ist ein Satz, den man häufig von meiner Schwester hört. Er ist eine Spezialform ihres ausgeprägten Hanges, alles und jeden zu bewerten. Sie weiß, wie die Nachbarn sind und warum sie so sind, wie sie sind. Sie weiß, was die Leute über sie denken. Sie teilt die Menschen im Einkaufszentrum in "asoziale Leute in Billigklamotten" und "Etepetete-Typen". Das Modul "Bist du wie ich oder bist du anders?" läuft auf Hochtouren. Sie kennt die Kinder ihrer "Freunde" (über die sie hinter deren Rücken lästert) besser, als diese sie selbst kennen. Sie hat auf alles eine Antwort.
Innerhalb der Familie lautet das Credo dieser Bewertungsmaschinerie "Du bist genau so wie...". Ihre Tochter ist, schenkt man der Aussage meiner Schwester Glauben, genau so wie sie selbst - unsportlich, grobmotorisch, ordentlich und brav. Ich bin demzufolge im Kommunikationverhalten mit meinem Angetrauten genau so wie meine Mutter. Unser beider Ordnungsverhalten ist ihrer Meinung nach auf das Erbe unserer Großmutter mütterlicherseits zurückzuführen. Das entnahm sie der Tatsache, dass ich ihre Backformen unaufgefordert der Größe nach ineinander stellte. Ich fand das lediglich logisch. Sie schloss aus der Beobachtung, dass ihre Schwiegermutter es nicht so macht, dass es sich dabei um ein für die weibliche Linie unserer Familie spezifisches Verhalten handeln muss. Ich finde die Theorie zumindest fragwürdig. Ihr Sohn, so findet meine Schwester, hat genau dieselben Augenbrauen wie ich als Kind. Und an diesem Wochenende sprach sie ihre Tochter mit meinem Namen an.
"Du bist genau so wie unsere Mutter!" - das muss mich nicht verletzen, das wird mir immer klarer. Denn ich sehe das anders. Ich finde nicht, dass ich es bin, und wenn am Kommunikationsverhalten zwischen mir und dem Gemahl etwas reparaturbedürftig sein sollte, dann merke ich das schon selbst.
"Du bist genau so wie..." - das erfüllt aber auch eine Funktion. Das verstehe ich jetzt. Es ist sicherlich der Wunsch, Gemeinsamkeit herzustellen. Ich nehme an, sie spürt, dass wir sonst nicht viel gemeinsam haben, und genau so zu sein wie jemand aus der Familie, das macht uns zu Schwestern. Die gemeinsamen, vermeintlich "ererbten" Merkmale stiften die Sicherheit, aus demselben Nest zu kommen und also dieselben Macken und Vorzüge zu haben. "Gehörst du zu mir?" lese ich zwischen den Zeilen meiner Schwester.
Ihr ständiger Abgleich zwischen sich und anderen und das Finden unterscheidender oder gemeinsamer Merkmale sind in meinen Augen Spiegel einer enormen emotionalen Unsicherheit. Im Grunde ist in all dem nicht die Kernfrage, wer und wie die anderen sind. Mir wird klar, sie fragt sich eigentlich: "Wer bin ich?"
Was mich wieder zurückbringt zu meinem Traum davon, was wir sein können. Vielleicht scheint es nicht so, als hätten wir allzu viele Möglichkeiten. Es steht fest, dass wir Schwestern sind, und das wird sich über den Tod unserer Eltern und über unseren eigenen hinaus niemals ändern. Darin allein besteht schon die Verbindung. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir darüber hinaus alle Möglichkeiten haben, unseren Umgang miteinander zu gestalten. Ich kann es annehmen und mich darüber freuen, dass sie mich offensichtlich nah haben will, und ich kann es ausdrücken, wenn ich mich über sie ärgere. Es liegt an uns, ob wir in der Lage sind, Gemeinsamkeiten zu schaffen und ob wir den Wunsch hegen, mehr voneinander und füreinander zu wollen und zu sein, als jetzt der Fall ist.
Etwas ist gewachsen. Anderes ist gestorben. Das ist, was wir jetzt gerade sind.
Was nun normal ist, darüber lässt sich bekanntermaßen streiten. Fest steht lediglich, dass um meine Schwester und ihre Familie herum eine Aura der Verkrampftheit herrscht, die ich in meinem eigenen Leben auf gar keinen Fall ertragen könnte. Sie hat sich für alles mögliche tausendmal entschuldigt. Dafür, dass sie uns im Bademantel und mit Handtuchturban auf dem Kopf die Tür öffnete. Dafür, dass mein Schwager nicht da war, weil er noch Dienst in der Klinik hatte. Als wir schließlich am Sonntagabend wieder fuhren, entschuldigte sie sich dafür, dass so viel Chaos gewesen sei, mit Kuchenbacken und Gästen. Das nächste Mal...
Dabei waren es gerade diese ganz alltäglichen Dinge, die mir am Samstag gut gefallen hatten. Das erhoffte Mehr an Nähe ließ sich in manchen Momenten tatsächlich finden. Als wir gemeinsam Kuchen buken und uns um das Drumherum kümmerten, das für die Geburtstagsfeier von Klein J. anstand. Als wir uns am Sonntag gemeinsam darüber freuten, dass die Torte tatsächlich wie geplant gelungen war und darüber hinaus noch gigantisch gut schmeckte. Nähe habe ich gespürt, als sie mit einem warmen Lächeln in den Augen aus der Drogerie kam, vor der ich mit meinem Neffen im Buggy und meiner Nichte auf dem Schoß auf sie gewartet hatte. Diese Nähe fühlte ich besonders, als wir am Samstagabend am Bett meiner Nichte gemeinsam "Weißt du, wieviel Sternlein stehen?" sangen. Da musste ich mir eine Träne der Rührung verkneifen. Da war tatsächlich meine Schwester als Mensch, als wir uns verabschiedeten und sie mich aus der Umarmung (zum ersten Mal, wenn ich mich recht erinnere) nicht wieder entlassen wollte und mir sagte, sie habe sich gefreut. So, dass ich es ihr ohne Umschweife glauben konnte.
Ich habe durchaus gemerkt, dass sie die eine oder andere Spitze an diesem Wochenende gegen mich abfeuerte. Dieses Verhalten kam mir reflexhaft vor, antrainiert, wie ein sorgsam aufgebauter und gepflegter Panzer, hinter dem sie sich versteckt. Getroffen hat sie mich damit nicht wirklich, denn gerade die Erkenntnis über die Reflexhaftigkeit hat mich begreifen lassen, dass nicht ich es war, die gemeint war. Einmal war sie nah dran. Als sie begann, über Lehrer zu lästern, weil diese nun einmal ein eigenartiger, nerviger Menschenschlag seien, habe ich ihr Einhalt geboten und zu Bedenken gegeben, dass meine Freundin I. und ihr Mann S. beide Lehrer seien und nun einmal meine Freunde, und dass ich an ihnen derlei Eigenheiten bislang nicht habe beobachten können.
Ich erzählte, dass I. ihres Chronic Fatigue Syndroms wegen nicht arbeiten könne. Die schlagartige, undurchdachte Antwort meiner Schwester darauf lautete: "Ach ja, Depressionen. Stimmt, die sah auf eurer Hochzeit auch schon so depressiv aus!" Ich gebe zu, da kochte mir schon ein wenig das Blut in die Ohren. Nein, stellte ich klar, mit Depressionen habe das CFS nichts zu tun und im Übrigen kennte ich mich so gründlich mit Depressionen aus, dass ich sie erkennte, wenn ich sie sähe. Die Schulmedizinerin in meiner Schwester konnte einfach nicht umhin, diese Menschen, die sie überhaupt lediglich einmal in ihrem Leben gesehen hatte, im Rahmen ihres Erfahrungshorizontes anhand dieser groben Eckdaten zu bewerten.
Bewertung, damit ist sie ständig beschäftigt. Genau das ist es, was mich irritiert. Es trifft mich nicht mehr, aber ich finde es ausgesprochen anstrengend und rigoros. Der einzige Punkt, an dem sie mich tatsächlich verletzte, war, als sie nach einem etwas eigenartigen Dialog zwischen meinem Mann und mir sagte: "Du bist echt genau wie Mama. Da hast du jetzt wortwörtlich genau das Gleiche gesagt, wie sie immer bei Papa sagt, wenn sie nicht zu Wort kommt. Echt - genau wie Mama!" Stimmt, da war ich konsterniert, war getroffen, konfus, verletzt.
Mir zu sagen, ich sei wie meine Mutter, grenzt in meinen Augen an Beleidigung, zumindest in dieser Hinsicht. Vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Kenntnisse über unsere Mutter musste ihr auch bewusst gewesen sein, wie wenig schmeichelhaft war, was sie sagte. Meine Mutter ist eine äußerst passive Person, die niemals für sich fordert, aber umso mehr darüber jammert, dass sie dauernd zu kurz kommt. In Sachen Redezeit ebenso wie bei Zuwendung, Anerkennung, Respekt, Liebe. Und so sollte ich nun sein? Und möglicherweise noch mein Mann wie mein Vater? History repeating?
In meinem Kopf ging eine Lawine los. Ich sagte meiner Schwester deutlich, wie wenig freundlich ich das fand. Erwartungsgemäß nahm sie das nicht ernst. Im Gegenteil, sie schien sich zu freuen, dass ich mich ärgerte. Das Geröll in meinem Kopf fiel brockenweise. Zuerst donnerte es in mir: "Du brauchst dich nicht zu ärgern. Du brauchst dich nicht zu ärgern. Du brauchst dich nicht zu ärgern. Darüber bist du hinaus!" Dann irgendwann, einige Teppichspiele mit den Kindern und Geschirrspüldurchgänge später: "Richtig, du ärgerst dich. Könnte sein, dass du einen Grund dazu hast. So ist das!" "Das war nicht nett, das mit meiner Mutter", flüsterte ich dem Gemahl in einer ruhigen, unbeobachteten Minute zu, und er nickte.
Der letzte Brocken, der durch meine Gedanken rauschte, war: "Bitte tu dir den Gefallen und überprüfe, ob es der Realität entspricht, was sie sagt!" Was ich tat. Damit hatte die Lawine ein Ende.
Sie tut es überall. "Du bist genau so wie..." ist ein Satz, den man häufig von meiner Schwester hört. Er ist eine Spezialform ihres ausgeprägten Hanges, alles und jeden zu bewerten. Sie weiß, wie die Nachbarn sind und warum sie so sind, wie sie sind. Sie weiß, was die Leute über sie denken. Sie teilt die Menschen im Einkaufszentrum in "asoziale Leute in Billigklamotten" und "Etepetete-Typen". Das Modul "Bist du wie ich oder bist du anders?" läuft auf Hochtouren. Sie kennt die Kinder ihrer "Freunde" (über die sie hinter deren Rücken lästert) besser, als diese sie selbst kennen. Sie hat auf alles eine Antwort.
Innerhalb der Familie lautet das Credo dieser Bewertungsmaschinerie "Du bist genau so wie...". Ihre Tochter ist, schenkt man der Aussage meiner Schwester Glauben, genau so wie sie selbst - unsportlich, grobmotorisch, ordentlich und brav. Ich bin demzufolge im Kommunikationverhalten mit meinem Angetrauten genau so wie meine Mutter. Unser beider Ordnungsverhalten ist ihrer Meinung nach auf das Erbe unserer Großmutter mütterlicherseits zurückzuführen. Das entnahm sie der Tatsache, dass ich ihre Backformen unaufgefordert der Größe nach ineinander stellte. Ich fand das lediglich logisch. Sie schloss aus der Beobachtung, dass ihre Schwiegermutter es nicht so macht, dass es sich dabei um ein für die weibliche Linie unserer Familie spezifisches Verhalten handeln muss. Ich finde die Theorie zumindest fragwürdig. Ihr Sohn, so findet meine Schwester, hat genau dieselben Augenbrauen wie ich als Kind. Und an diesem Wochenende sprach sie ihre Tochter mit meinem Namen an.
"Du bist genau so wie unsere Mutter!" - das muss mich nicht verletzen, das wird mir immer klarer. Denn ich sehe das anders. Ich finde nicht, dass ich es bin, und wenn am Kommunikationsverhalten zwischen mir und dem Gemahl etwas reparaturbedürftig sein sollte, dann merke ich das schon selbst.
"Du bist genau so wie..." - das erfüllt aber auch eine Funktion. Das verstehe ich jetzt. Es ist sicherlich der Wunsch, Gemeinsamkeit herzustellen. Ich nehme an, sie spürt, dass wir sonst nicht viel gemeinsam haben, und genau so zu sein wie jemand aus der Familie, das macht uns zu Schwestern. Die gemeinsamen, vermeintlich "ererbten" Merkmale stiften die Sicherheit, aus demselben Nest zu kommen und also dieselben Macken und Vorzüge zu haben. "Gehörst du zu mir?" lese ich zwischen den Zeilen meiner Schwester.
Ihr ständiger Abgleich zwischen sich und anderen und das Finden unterscheidender oder gemeinsamer Merkmale sind in meinen Augen Spiegel einer enormen emotionalen Unsicherheit. Im Grunde ist in all dem nicht die Kernfrage, wer und wie die anderen sind. Mir wird klar, sie fragt sich eigentlich: "Wer bin ich?"
Was mich wieder zurückbringt zu meinem Traum davon, was wir sein können. Vielleicht scheint es nicht so, als hätten wir allzu viele Möglichkeiten. Es steht fest, dass wir Schwestern sind, und das wird sich über den Tod unserer Eltern und über unseren eigenen hinaus niemals ändern. Darin allein besteht schon die Verbindung. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir darüber hinaus alle Möglichkeiten haben, unseren Umgang miteinander zu gestalten. Ich kann es annehmen und mich darüber freuen, dass sie mich offensichtlich nah haben will, und ich kann es ausdrücken, wenn ich mich über sie ärgere. Es liegt an uns, ob wir in der Lage sind, Gemeinsamkeiten zu schaffen und ob wir den Wunsch hegen, mehr voneinander und füreinander zu wollen und zu sein, als jetzt der Fall ist.
Etwas ist gewachsen. Anderes ist gestorben. Das ist, was wir jetzt gerade sind.
Montag, 12. November 2012
Was wir sein können.
Am 12. Nov 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Auch wenn ich weiß, dass die Realität anders aussieht, gestehe ich mir gerade mal Wünschen zu. Sogar Sehnsucht.
Ich wünsche mir, es wäre wie im Film. Da schaffen es Schwestern schließlich irgendwie immer, Differenzen und Grenzen zu überwinden und einander die Dinge zu sagen, die sie wirklich sagen wollen. Dass sie einander eigentlich mögen und bereit sind, einander anzusehen. Manchmal, versteht sich, muss dazu erst eine schwer krank werden, über die eigenen Füße stolpern, es muss erst ein Familienmitglied sterben, jemand muss in eine Ausnahmesituation kommen. Das natürlich wünsche ich mir nicht.
Ich wünsche mir, mit meiner Schwester der Küche zu stehen, das Geschirr abzuwaschen und unbefangen zu lachen. Ich wünsche mir, ihr etwas mitbringen zu dürfen, über das sie sich freut. Ich wünsche mir, sie zu umarmen und zu spüren, dass sie das auch will.
Es gab mal eine Zeit, da habe ich mich vor ihr gefürchtet. Vor ihrem gnadenlosen Urteil als ältere Schwester, vor ihrer Distanziertheit und ihren Spitzen. Ich habe mich so sehr gefürchtet, dass ich noch auf der Fahrt zu ihr üble Migräneattacken bekam und dass ich mich ernsthaft zusammenreißen musste, um nicht auf dem Fuße umzukehren. Unsere Begegnungen fühlten sich verkrampft an. Ich war auf Hab Acht, angstvoll angespannt und zugleich voller Hoffnung, anerkennende Worte von ihr zu hören.
Was für eine Welt, damals.
Heute bin ich traurig darüber, dass es zwischen uns keine große Nähe gibt und wir in unterschiedlichen Welten leben. Ich trage in mir das Wunschbild von wirklichem Kontakt, von einer Schwester wie eine Freundin, von aufrichtiger Begegnung. Ich fange langsam an zu begreifen, dass die Chance dazu trotz allem nicht gestorben ist. Wir haben uns so sehr in unsere Rollen verbissen, wir beide, dass wir gar nicht fühlen konnten, was an schwesterlichem Potential noch in uns lebt. Da sind Anfänge in mir, lose Enden, die ich vielleicht ergreifen kann.
Irgendwoher kommt sie, die Sehnsucht. Sie ist nicht rückwärtsgewandt, wir hatten niemals ein inniges Verhältnis. Es ist die Sehnsucht nach allem, was wir noch sein können.
Ich wünsche mir, es wäre wie im Film. Da schaffen es Schwestern schließlich irgendwie immer, Differenzen und Grenzen zu überwinden und einander die Dinge zu sagen, die sie wirklich sagen wollen. Dass sie einander eigentlich mögen und bereit sind, einander anzusehen. Manchmal, versteht sich, muss dazu erst eine schwer krank werden, über die eigenen Füße stolpern, es muss erst ein Familienmitglied sterben, jemand muss in eine Ausnahmesituation kommen. Das natürlich wünsche ich mir nicht.
Ich wünsche mir, mit meiner Schwester der Küche zu stehen, das Geschirr abzuwaschen und unbefangen zu lachen. Ich wünsche mir, ihr etwas mitbringen zu dürfen, über das sie sich freut. Ich wünsche mir, sie zu umarmen und zu spüren, dass sie das auch will.
Es gab mal eine Zeit, da habe ich mich vor ihr gefürchtet. Vor ihrem gnadenlosen Urteil als ältere Schwester, vor ihrer Distanziertheit und ihren Spitzen. Ich habe mich so sehr gefürchtet, dass ich noch auf der Fahrt zu ihr üble Migräneattacken bekam und dass ich mich ernsthaft zusammenreißen musste, um nicht auf dem Fuße umzukehren. Unsere Begegnungen fühlten sich verkrampft an. Ich war auf Hab Acht, angstvoll angespannt und zugleich voller Hoffnung, anerkennende Worte von ihr zu hören.
Was für eine Welt, damals.
Heute bin ich traurig darüber, dass es zwischen uns keine große Nähe gibt und wir in unterschiedlichen Welten leben. Ich trage in mir das Wunschbild von wirklichem Kontakt, von einer Schwester wie eine Freundin, von aufrichtiger Begegnung. Ich fange langsam an zu begreifen, dass die Chance dazu trotz allem nicht gestorben ist. Wir haben uns so sehr in unsere Rollen verbissen, wir beide, dass wir gar nicht fühlen konnten, was an schwesterlichem Potential noch in uns lebt. Da sind Anfänge in mir, lose Enden, die ich vielleicht ergreifen kann.
Irgendwoher kommt sie, die Sehnsucht. Sie ist nicht rückwärtsgewandt, wir hatten niemals ein inniges Verhältnis. Es ist die Sehnsucht nach allem, was wir noch sein können.
Samstag, 3. November 2012
Eigenartig.
Am 3. Nov 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Aufräumen macht mich eigenartig.
Ich habe zu viel Zeugs. Hebe jeden Zettelkram auf. Habe tausend Schachteln, in denen sich nützliche und unnütze Dinge befinden. In der kleinen Obstkiste auf meinem Schreibtisch häufen sich Rechnungen, Lohnabrechnungen, Quittungen, Postkarten, Flyer und Kontoauszüge, denen ich die ordentliche Ablage bislang verweigert habe. Und wo hebt man bitte die Wolle auf, die man noch nicht verstrickt hat? Diese anderthalb Knäuel, die übriggeblieben sind? Im Bettkasten meines Schlafsofas? Nur vorerst.
Was macht man mit den abgrundtief hässlichen Brillenetuis aus Plastik, die man beim Optiker dazugeschenkt bekommen hat, niemals aber eintauschen würde gegen das hübsche lederne aus dem Weltladen (welches das einzige ist, das überhaupt benutzt wird)? Wohin mit den Goodies, die man als Tauschobjekt fürs Geocaching benutzen will? Für die Zwischenlagerung der Jeanshosen, die ich noch versteigern will, weil sie mir nicht passen, ist der Kleiderschrank zu klein.
Irgendwie ist alles zu viel, stapelt sich, verschwindet in Kisten, weil ich es in manchen Angelegenheiten nicht aushalte, mich zwecks Aussortierung damit auseinanderzusetzen. Mich nimmt das immer mit, auf eine seltsam fundamentale Art. Die braune Winterjacke, die ich vor sechs Jahren gekauft hatte und die mir immer noch gut gefällt, aber so dermaßen abgetragen ist, dass man nicht mehr damit herumlaufen kann, wird den Weg alles Irdischen gehen, aber es tut mir weh. Die Unterlagen zum Thema Rechtsextremismus, die mir S. mal fürs Studium lieh, bringe ich ihr beim nächsten Besuch mit.
Keine Ahnung, wieso mich das so herausfordert. Jetzt ist alles irgendwo verstaut, alles ist wieder übersichtlich, geordnet, klar, und ich fühle mich wohl. Aber es nervt mich, dass in den Schubladen so viel Geschichte steckt, dass es so viele Dinge gibt, die ich mitschleppe und von denen ich nicht weiß, was ich mit ihnen machen soll. Und irgendwann sitze ich dann zwischen dem Kram und bin einfach nur noch wahnsinnig hilflos.
Trennen - das wäre eine gute Idee. Dazu muss ich das Zeug aber bewerten. Kann weg. Kann bleiben. Das geht mir irgendwie an die Substanz.
Für heute war ich genug eigenartig. Aus den Augen... Erstmal.
Ich habe zu viel Zeugs. Hebe jeden Zettelkram auf. Habe tausend Schachteln, in denen sich nützliche und unnütze Dinge befinden. In der kleinen Obstkiste auf meinem Schreibtisch häufen sich Rechnungen, Lohnabrechnungen, Quittungen, Postkarten, Flyer und Kontoauszüge, denen ich die ordentliche Ablage bislang verweigert habe. Und wo hebt man bitte die Wolle auf, die man noch nicht verstrickt hat? Diese anderthalb Knäuel, die übriggeblieben sind? Im Bettkasten meines Schlafsofas? Nur vorerst.
Was macht man mit den abgrundtief hässlichen Brillenetuis aus Plastik, die man beim Optiker dazugeschenkt bekommen hat, niemals aber eintauschen würde gegen das hübsche lederne aus dem Weltladen (welches das einzige ist, das überhaupt benutzt wird)? Wohin mit den Goodies, die man als Tauschobjekt fürs Geocaching benutzen will? Für die Zwischenlagerung der Jeanshosen, die ich noch versteigern will, weil sie mir nicht passen, ist der Kleiderschrank zu klein.
Irgendwie ist alles zu viel, stapelt sich, verschwindet in Kisten, weil ich es in manchen Angelegenheiten nicht aushalte, mich zwecks Aussortierung damit auseinanderzusetzen. Mich nimmt das immer mit, auf eine seltsam fundamentale Art. Die braune Winterjacke, die ich vor sechs Jahren gekauft hatte und die mir immer noch gut gefällt, aber so dermaßen abgetragen ist, dass man nicht mehr damit herumlaufen kann, wird den Weg alles Irdischen gehen, aber es tut mir weh. Die Unterlagen zum Thema Rechtsextremismus, die mir S. mal fürs Studium lieh, bringe ich ihr beim nächsten Besuch mit.
Keine Ahnung, wieso mich das so herausfordert. Jetzt ist alles irgendwo verstaut, alles ist wieder übersichtlich, geordnet, klar, und ich fühle mich wohl. Aber es nervt mich, dass in den Schubladen so viel Geschichte steckt, dass es so viele Dinge gibt, die ich mitschleppe und von denen ich nicht weiß, was ich mit ihnen machen soll. Und irgendwann sitze ich dann zwischen dem Kram und bin einfach nur noch wahnsinnig hilflos.
Trennen - das wäre eine gute Idee. Dazu muss ich das Zeug aber bewerten. Kann weg. Kann bleiben. Das geht mir irgendwie an die Substanz.
Für heute war ich genug eigenartig. Aus den Augen... Erstmal.
Sonntag, 23. September 2012
Geburts-Tag
Am 23. Sep 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Immer noch, immer noch verursacht mir mein Sein Schuldgefühle, und immer noch feiere ich mich deshalb ungern selbst und lasse mich auch nicht gern feiern. Gestern sagte ich einem Freund, dies sei kein besonderer Tag, nicht anders als das Gestern und das Morgen. "Dein Geburtstag!" sagte er, und es gelang ihm damit, wenn auch langsam, durch diese dicke Wand aus Schuldgefühlen zu dringen, die die Jahre um mich herum errichtet haben. War ich es, waren es andere? War es Zeit, Gewohnheit, Macht, die Deutungshoheit der Menschen, die wichtigen Einfluss auf mich hatten?
Heute gilt keine Entschuldigung mehr, wer es auch gewesen sein mag. Heute, wie jedes Jahr, ist es an mir selbst, herauszufinden, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte. Zeit, aus der Reaktion und Anpassung herauszutreten und wirklich zu begreifen, dass wer ich auch immer bin und zukünftig sein werde, ich gut bin. Dass es gut ist, dass es mich gibt und dass ich deshalb niemandem schulde. Weder Dankbarkeit noch Aufmerksamkeit.
Sein - so schlicht und einfach ist das, und in dieser Schlichtheit doch so unendlich kompliziert. Ich bin hier. Das ist so wahr wie alles andere um mich herum. Wenn ich mich nachts klein zusammenrolle in der behaglichen Wärme und Geborgenheit meines Bettes, dann bin ich unendlich dankbar dafür, in meinem Sein endlich angekommen zu sein, mich tatsächlich zu fühlen, existent zu sein ohne das Aber. Das Aber, das habe ich all die Jahre so sehr in mir getragen. Es stieg auf wie schmutziges Wasser aus einem Kanaldeckel, wenn alles zu viel wurde und meine Torwache den Speer beiseite gelegt hatte, um auszuruhen. Es quoll nach oben, eine giftige Mischung aus Selbstzweifel, Rechtfertigungszwang und immer wieder Schuld, Schuld, Schuld. Schuld, niemals so zu sein, wie sie mich wollten. Gefesselt von der Verpflichtung, die mit der Tatsache einhergeht, dass sie es sind, die für meine Entstehung gesorgt haben.
Der Briefträger brachte gestern die folgenden Zeilen zwischen den Deckeln einer Klappkarte:
"Heute an Deinem Geburtstag sind wir mit unseren Gedanken ganz besonders bei Dir. Wir wünschen Dir für Dein neues Lebensjahr einen guten Stern, der Dich leitet, liebe Menschen, die Dich begleiten und Gottes Segen, der Dich schützt und erhält. Wir vermissen Dich sehr."
Ich häute mich wie ein Reptil, dem wieder und wieder seine Hülle zu eng wird. Ich arbeite mich an dem ab, was mir entgegengetragen wird. Als ich gestern diese Worte las, wurde mir wieder klar, dass wunde Punkte noch längst nicht verheilt sind und eine ständige Neudefinition meines Selbst vonnöten ist. Zwischen diesen so zärtlichen Zeilen meines Elternpaares spüre ich die Spitzen, die diese alte Schuld in mir neu aufleben lassen. Dass das so ist, zeigt mir, dass mein Gefühl mich nicht trügt und dass es nicht angebracht und auch nicht angemessen ist, deshalb Zweifel an mir selbst zu spüren.
Ich fühle mich getroffen. So ist das, ich erkenne es an. Ich fühle mich unter Druck gesetzt und zu einer Reaktion genötigt, aber ich habe sie noch nicht gezeigt, ich konnte mich zügeln, und ich bin darauf zu Recht stolz. Was ist es, dass mich diesen Subtext erkennen lässt, wo andere nur gutgemeinte, herzliche Wünsche lesen? Es ist meine Geschichte mit diesen beiden Menschen, und genau die berechtigt mich dazu, das zu fühlen, was ich fühle. Und ohnehin: Ich fühle es. Was macht es da für einen Unterschied, ob andere das in Ordnung fänden oder nicht?
Was ich fühle:
Verantwortlichkeit, die mir gegeben werden soll, die zu tragen ich aber ablehne. Verantwortlichkeit dafür, dass sie sich zurückgewiesen, traurig und gekränkt fühlen, weil sie nicht bei mir sein dürfen, weil sie mich nicht besuchen dürfen, nicht einmal an meinem Geburtstag, weil ich sie nicht in meinem Haus haben will. Schuld, wieder Schuld, dafür, dass sie das Gefühl der Leere ohne ihre Tochter ertragen müssen, dass ich nicht da bin und für sie nicht der Mensch bin, den sie gern hätten. Ich trage die Verantwortung für meine Entscheidung. Ich trage sie jeden Tag, und ich trage sie gern, weil sie eine Entscheidung für mich war, für mein Leben, für Unversehrtheit, gegen die falsche Hoffnung, einmal Eltern zu haben, die sich wirklich für den Menschen interessieren, der ich bin. Verantwortung für ihre Gefühle indes werde ich nicht tragen, denn nicht ich bin es, die ihr Leiden beenden muss. Nicht meine Baustelle, nicht mein Problem. Kalt? Ganz schön kalt. Ein Spiegelbild dessen, wie kalt mir über all die Jahre in ihrer Gegenwart war. Logisches Resultat. Es ist, wie es ist.
Der Mittelteil - ach ja, Götter und Sterne. Für sich genommen sind das ein paar ganz nette Wünsche. Auch wenn ich nicht der Auffassung bin, der Führung eines Sterns und des Segens eines Gottes zu bedürfen und die Meinung nicht teile, dass der mich schützt und erhält - soweit wäre es auch so gut gewesen. Aber sie konnten nicht ohne. Sie konnten nicht verzichten auf die Anmerkungen zu ihrem eigenen Leid, sie waren nicht in der Lage, einfach gute Wünsche zu übermitteln. Lebte ich in Australien, dann wäre die große räumliche Distanz schuld daran, dass sie nur in Gedanken bei mir sein können. Bei einer Entfernung von 20 Kilometern bin ich die Ursache dafür. Wir würden ja da sein, wenn du uns nur ließest! Ich lasse sie aber nicht. Sie gehören nicht zu den lieben Menschen, die mich begleiten, und sie wissen es, sonst hätten sie nicht davon geschrieben.
Druck, auch den fühle ich. Es ist das alte Lied. Wenn du nicht so bist, wie wir dich gern hätten, dann ist es an dir, das zu ändern, denn ansonsten werden wir dich nicht mehr lieben, wir werden unsere Zuwendung verknappen, dich wissen lassen, dass du uns Kummer bereitest und mehr noch als alles andere Mühe! Schon in dem Moment, als ich morgens um sechs das Licht der Welt erblickte, war ich nicht der Mensch, den sie wollten. Ich war kein Junge. Ich bin der ewige, der lebendige Kompromiss, die wandelnde Nichterfüllung ihrer Wünsche.
Jetzt werde ich beauftragt zu ihrer emotionalen Entlastung. Die Einladung, die mir da überbracht wird, ist verführerisch. Nachgeben, damit alles wieder so sein kann wie früher, und dafür dieses schreckliche Gefühl nicht mehr fühlen müssen, von einem Schraubstock zusammengepresst, von einem gigantischen Daumen niedergedrückt zu werden. Na komm, zurück in unseren Arm, dann ist alles so wie früher! Das alte Lied läuft schon zu lange, die Platte hat einen Sprung. Stop, stop, stop!
Die Karte ist eine Aufforderung zur Reaktion. Ich reagiere nicht. Ich bin kein trotziges Mädchen, das in der Ecke sitzt und schmollt. Ich bin jemand, der seine Grenzen mit Klauen und Zähnen verteidigt, und das kommt ihnen komisch vor, weil ich sie früher niemals gespürt habe und daher auch niemals Signal gegeben habe, wenn sie darüber hinweg getrampelt sind. Als erwachsener Mensch entscheide ich über die Art von Beziehung, die ich mit meinen Mitmenschen führen möchte. Ernährer für emotionale Vampire zu sein, gehört nicht dazu. Und wenn ich mal den vorsichtigen, im Grunde schon beinahe zu zaghaften Versuch der Selbstakzeptanz wagen darf: Ich bin diejenige, die sich an ihrem Geburtstag etwas wünschen darf. Das bedeutet, dass es ausnahmsweise einmal nicht um die Wünsche anderer geht und darum, ihnen zu entsprechen. "Wir vermissen Dich sehr!" - darin steckt ihr Wunsch, mich zu sehen. Happy Birthday, liebes Kind. Wie schön, dass Du in unser Leben getreten bist, um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen!" Die Quintessenz unserer Beziehung.
Jeder Tag sollte von Neuem mein Geburtstag sein, an dem ich mir darüber klar werde, was ich mir eigentlich in meinem Leben wünsche. Jeder Tag kann mir wieder neu dazu dienen, alte Häute abzustreifen und zum eigenen Kern vorzudringen, anstatt immer wieder für andere Funktionen zu erfüllen. Wechselseitigkeit geht anders. Die wirklich lieben Menschen, die mich begleiten, schreiben "Wir haben noch viel vor. Ich freue mich drauf und drück Dich heute ganz besonders!" und "Möge das kommende Lebensjahr alles, was Dir gut tut, bereithalten!". Oder sie sagen einfach und schlicht "Dein Geburtstag!", wenn mich der Zweifel am Sein überkommt. Im Wort scheint der Unterschied marginal bis kaum vorhanden. Aber ich kann ihn fühlen.
Heute also, nachdem der Wachstumsschmerz abgeklungen ist, lege ich die Haut ab, auf der steht: Bin ich nicht doch für sie da? Diejenige, auf der steht: Aber ich muss doch...! Ich lege die Haut ab, auf der geschrieben steht Sie meinen es doch nur gut! und diejenige, die die Aufschrift trägt Ich bin eine egoistische Kuh!
Sie vermissen nicht den Menschen, der ich wirklich bin. Sie vermissen die Zustimmung, die sie von mir erhielten und die Pflege ihres Selbstverständnisses, dieses verzerrten Bildes einer Familie, deren Mitglieder sich auf Augenhöhe begegnen, von Eltern als Freunden ihrer Kinder. Sie vermissen die leichte Sorglosigkeit, die es noch gab, als ein Mensch in all dem um des lieben Friedens willen zurücksteckte und sich aufgab. Sie vermissen die Zeit, als die Nachbarn noch nicht nach dem Verbleib ihrer Tochter fragten, vermissen das Spiegelbild von sich selbst in meinen Augen. Vorbei, vorbei, ich bin neu geboren, ich bin anders. Ich bin nicht der Mensch, den sie wollen, ganz offensichtlich. Ich bin das nie gewesen und habe mich nur unter all den Masken versteckt, damit sie wenigstens das Trugbild liebten.
Geburts-Tag zu haben ist nicht so schlecht, wie ich zuerst dachte.
Meine Musik des Tages:
Thirteen Senses - The Salt Wound Routine
Heute gilt keine Entschuldigung mehr, wer es auch gewesen sein mag. Heute, wie jedes Jahr, ist es an mir selbst, herauszufinden, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte. Zeit, aus der Reaktion und Anpassung herauszutreten und wirklich zu begreifen, dass wer ich auch immer bin und zukünftig sein werde, ich gut bin. Dass es gut ist, dass es mich gibt und dass ich deshalb niemandem schulde. Weder Dankbarkeit noch Aufmerksamkeit.
Sein - so schlicht und einfach ist das, und in dieser Schlichtheit doch so unendlich kompliziert. Ich bin hier. Das ist so wahr wie alles andere um mich herum. Wenn ich mich nachts klein zusammenrolle in der behaglichen Wärme und Geborgenheit meines Bettes, dann bin ich unendlich dankbar dafür, in meinem Sein endlich angekommen zu sein, mich tatsächlich zu fühlen, existent zu sein ohne das Aber. Das Aber, das habe ich all die Jahre so sehr in mir getragen. Es stieg auf wie schmutziges Wasser aus einem Kanaldeckel, wenn alles zu viel wurde und meine Torwache den Speer beiseite gelegt hatte, um auszuruhen. Es quoll nach oben, eine giftige Mischung aus Selbstzweifel, Rechtfertigungszwang und immer wieder Schuld, Schuld, Schuld. Schuld, niemals so zu sein, wie sie mich wollten. Gefesselt von der Verpflichtung, die mit der Tatsache einhergeht, dass sie es sind, die für meine Entstehung gesorgt haben.
Der Briefträger brachte gestern die folgenden Zeilen zwischen den Deckeln einer Klappkarte:
"Heute an Deinem Geburtstag sind wir mit unseren Gedanken ganz besonders bei Dir. Wir wünschen Dir für Dein neues Lebensjahr einen guten Stern, der Dich leitet, liebe Menschen, die Dich begleiten und Gottes Segen, der Dich schützt und erhält. Wir vermissen Dich sehr."
Ich häute mich wie ein Reptil, dem wieder und wieder seine Hülle zu eng wird. Ich arbeite mich an dem ab, was mir entgegengetragen wird. Als ich gestern diese Worte las, wurde mir wieder klar, dass wunde Punkte noch längst nicht verheilt sind und eine ständige Neudefinition meines Selbst vonnöten ist. Zwischen diesen so zärtlichen Zeilen meines Elternpaares spüre ich die Spitzen, die diese alte Schuld in mir neu aufleben lassen. Dass das so ist, zeigt mir, dass mein Gefühl mich nicht trügt und dass es nicht angebracht und auch nicht angemessen ist, deshalb Zweifel an mir selbst zu spüren.
Ich fühle mich getroffen. So ist das, ich erkenne es an. Ich fühle mich unter Druck gesetzt und zu einer Reaktion genötigt, aber ich habe sie noch nicht gezeigt, ich konnte mich zügeln, und ich bin darauf zu Recht stolz. Was ist es, dass mich diesen Subtext erkennen lässt, wo andere nur gutgemeinte, herzliche Wünsche lesen? Es ist meine Geschichte mit diesen beiden Menschen, und genau die berechtigt mich dazu, das zu fühlen, was ich fühle. Und ohnehin: Ich fühle es. Was macht es da für einen Unterschied, ob andere das in Ordnung fänden oder nicht?
Was ich fühle:
Verantwortlichkeit, die mir gegeben werden soll, die zu tragen ich aber ablehne. Verantwortlichkeit dafür, dass sie sich zurückgewiesen, traurig und gekränkt fühlen, weil sie nicht bei mir sein dürfen, weil sie mich nicht besuchen dürfen, nicht einmal an meinem Geburtstag, weil ich sie nicht in meinem Haus haben will. Schuld, wieder Schuld, dafür, dass sie das Gefühl der Leere ohne ihre Tochter ertragen müssen, dass ich nicht da bin und für sie nicht der Mensch bin, den sie gern hätten. Ich trage die Verantwortung für meine Entscheidung. Ich trage sie jeden Tag, und ich trage sie gern, weil sie eine Entscheidung für mich war, für mein Leben, für Unversehrtheit, gegen die falsche Hoffnung, einmal Eltern zu haben, die sich wirklich für den Menschen interessieren, der ich bin. Verantwortung für ihre Gefühle indes werde ich nicht tragen, denn nicht ich bin es, die ihr Leiden beenden muss. Nicht meine Baustelle, nicht mein Problem. Kalt? Ganz schön kalt. Ein Spiegelbild dessen, wie kalt mir über all die Jahre in ihrer Gegenwart war. Logisches Resultat. Es ist, wie es ist.
Der Mittelteil - ach ja, Götter und Sterne. Für sich genommen sind das ein paar ganz nette Wünsche. Auch wenn ich nicht der Auffassung bin, der Führung eines Sterns und des Segens eines Gottes zu bedürfen und die Meinung nicht teile, dass der mich schützt und erhält - soweit wäre es auch so gut gewesen. Aber sie konnten nicht ohne. Sie konnten nicht verzichten auf die Anmerkungen zu ihrem eigenen Leid, sie waren nicht in der Lage, einfach gute Wünsche zu übermitteln. Lebte ich in Australien, dann wäre die große räumliche Distanz schuld daran, dass sie nur in Gedanken bei mir sein können. Bei einer Entfernung von 20 Kilometern bin ich die Ursache dafür. Wir würden ja da sein, wenn du uns nur ließest! Ich lasse sie aber nicht. Sie gehören nicht zu den lieben Menschen, die mich begleiten, und sie wissen es, sonst hätten sie nicht davon geschrieben.
Druck, auch den fühle ich. Es ist das alte Lied. Wenn du nicht so bist, wie wir dich gern hätten, dann ist es an dir, das zu ändern, denn ansonsten werden wir dich nicht mehr lieben, wir werden unsere Zuwendung verknappen, dich wissen lassen, dass du uns Kummer bereitest und mehr noch als alles andere Mühe! Schon in dem Moment, als ich morgens um sechs das Licht der Welt erblickte, war ich nicht der Mensch, den sie wollten. Ich war kein Junge. Ich bin der ewige, der lebendige Kompromiss, die wandelnde Nichterfüllung ihrer Wünsche.
Jetzt werde ich beauftragt zu ihrer emotionalen Entlastung. Die Einladung, die mir da überbracht wird, ist verführerisch. Nachgeben, damit alles wieder so sein kann wie früher, und dafür dieses schreckliche Gefühl nicht mehr fühlen müssen, von einem Schraubstock zusammengepresst, von einem gigantischen Daumen niedergedrückt zu werden. Na komm, zurück in unseren Arm, dann ist alles so wie früher! Das alte Lied läuft schon zu lange, die Platte hat einen Sprung. Stop, stop, stop!
Die Karte ist eine Aufforderung zur Reaktion. Ich reagiere nicht. Ich bin kein trotziges Mädchen, das in der Ecke sitzt und schmollt. Ich bin jemand, der seine Grenzen mit Klauen und Zähnen verteidigt, und das kommt ihnen komisch vor, weil ich sie früher niemals gespürt habe und daher auch niemals Signal gegeben habe, wenn sie darüber hinweg getrampelt sind. Als erwachsener Mensch entscheide ich über die Art von Beziehung, die ich mit meinen Mitmenschen führen möchte. Ernährer für emotionale Vampire zu sein, gehört nicht dazu. Und wenn ich mal den vorsichtigen, im Grunde schon beinahe zu zaghaften Versuch der Selbstakzeptanz wagen darf: Ich bin diejenige, die sich an ihrem Geburtstag etwas wünschen darf. Das bedeutet, dass es ausnahmsweise einmal nicht um die Wünsche anderer geht und darum, ihnen zu entsprechen. "Wir vermissen Dich sehr!" - darin steckt ihr Wunsch, mich zu sehen. Happy Birthday, liebes Kind. Wie schön, dass Du in unser Leben getreten bist, um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen!" Die Quintessenz unserer Beziehung.
Jeder Tag sollte von Neuem mein Geburtstag sein, an dem ich mir darüber klar werde, was ich mir eigentlich in meinem Leben wünsche. Jeder Tag kann mir wieder neu dazu dienen, alte Häute abzustreifen und zum eigenen Kern vorzudringen, anstatt immer wieder für andere Funktionen zu erfüllen. Wechselseitigkeit geht anders. Die wirklich lieben Menschen, die mich begleiten, schreiben "Wir haben noch viel vor. Ich freue mich drauf und drück Dich heute ganz besonders!" und "Möge das kommende Lebensjahr alles, was Dir gut tut, bereithalten!". Oder sie sagen einfach und schlicht "Dein Geburtstag!", wenn mich der Zweifel am Sein überkommt. Im Wort scheint der Unterschied marginal bis kaum vorhanden. Aber ich kann ihn fühlen.
Heute also, nachdem der Wachstumsschmerz abgeklungen ist, lege ich die Haut ab, auf der steht: Bin ich nicht doch für sie da? Diejenige, auf der steht: Aber ich muss doch...! Ich lege die Haut ab, auf der geschrieben steht Sie meinen es doch nur gut! und diejenige, die die Aufschrift trägt Ich bin eine egoistische Kuh!
Sie vermissen nicht den Menschen, der ich wirklich bin. Sie vermissen die Zustimmung, die sie von mir erhielten und die Pflege ihres Selbstverständnisses, dieses verzerrten Bildes einer Familie, deren Mitglieder sich auf Augenhöhe begegnen, von Eltern als Freunden ihrer Kinder. Sie vermissen die leichte Sorglosigkeit, die es noch gab, als ein Mensch in all dem um des lieben Friedens willen zurücksteckte und sich aufgab. Sie vermissen die Zeit, als die Nachbarn noch nicht nach dem Verbleib ihrer Tochter fragten, vermissen das Spiegelbild von sich selbst in meinen Augen. Vorbei, vorbei, ich bin neu geboren, ich bin anders. Ich bin nicht der Mensch, den sie wollen, ganz offensichtlich. Ich bin das nie gewesen und habe mich nur unter all den Masken versteckt, damit sie wenigstens das Trugbild liebten.
Geburts-Tag zu haben ist nicht so schlecht, wie ich zuerst dachte.
Meine Musik des Tages:
Thirteen Senses - The Salt Wound Routine
Dienstag, 4. September 2012
Müde
Am 4. Sep 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Irgendwas läuft gewaltig schief in den letzten Tagen und Wochen. Ich bin dauernd müde, überfordert, orientierungslos und matt. Meine Aufmerksamkeitsspanne ist kurz, ich bin fahrig. Wenn ich geschlafen habe, dann hält das erholte Gefühl nur kurz an. Die Wochenenden sind zu kurz. Ich mag nicht telefonieren, nicht einmal mit meinen Freundinnen.
Plötzlich richte ich mich so total auf andere aus. Der alte Perfektionismus ist wieder da. Die Stimme, die mir sagt, ich verhielte mich nicht so, wie ich sollte. Die Rechtfertigungsdebatten zwischen mir und mir. Der alte Konflikt zwischen den Ansprüchen, die ich glaube erfüllen zu müssen und der tiefen Gier nach innerer Freiheit und nach dem Recht, so zu sein, wie ich eben bin. So ein Kampf verbrennt seelische Kalorien, und ich fühle mich, als würde ich verhungern.
Irgendwas hat sich wieder in mein Leben geschlichen, das ich endgültig verbannt glaubte. Ich suche nach dem Auslöser. Möglicherweise hat es mit dem blöden Nachbarschaftstheater zu tun, mit Anrufen von Verwandten, mit Untertönen in Mails. Vielleicht bin ich auch nur einfach zurückgefallen in die Gewohnheit, mich für alles verantwortlich zu fühlen, jede leise Regung meiner Mitmenschen erraten und ausgleichen zu müssen, für Harmonie sorgen zu müssen, wegzuschauen von mir. Unbemerkt ist die alte Furcht in mich zurückgekrochen, inakzeptabel zu sein. Nur keine Eigenheiten, nur keine Konflikte.
Aber in mir schreit es: Nicht mehr, nicht mehr! Es ist mein Leben, meine Zeit, meine Kraft und im Übrigen auch mein gottverdammter Garten! Keinen Fußbreit gebe ich mehr her von meinem Grund und Boden. Dann bin ich halt egoistisch.
Plötzlich richte ich mich so total auf andere aus. Der alte Perfektionismus ist wieder da. Die Stimme, die mir sagt, ich verhielte mich nicht so, wie ich sollte. Die Rechtfertigungsdebatten zwischen mir und mir. Der alte Konflikt zwischen den Ansprüchen, die ich glaube erfüllen zu müssen und der tiefen Gier nach innerer Freiheit und nach dem Recht, so zu sein, wie ich eben bin. So ein Kampf verbrennt seelische Kalorien, und ich fühle mich, als würde ich verhungern.
Irgendwas hat sich wieder in mein Leben geschlichen, das ich endgültig verbannt glaubte. Ich suche nach dem Auslöser. Möglicherweise hat es mit dem blöden Nachbarschaftstheater zu tun, mit Anrufen von Verwandten, mit Untertönen in Mails. Vielleicht bin ich auch nur einfach zurückgefallen in die Gewohnheit, mich für alles verantwortlich zu fühlen, jede leise Regung meiner Mitmenschen erraten und ausgleichen zu müssen, für Harmonie sorgen zu müssen, wegzuschauen von mir. Unbemerkt ist die alte Furcht in mich zurückgekrochen, inakzeptabel zu sein. Nur keine Eigenheiten, nur keine Konflikte.
Aber in mir schreit es: Nicht mehr, nicht mehr! Es ist mein Leben, meine Zeit, meine Kraft und im Übrigen auch mein gottverdammter Garten! Keinen Fußbreit gebe ich mehr her von meinem Grund und Boden. Dann bin ich halt egoistisch.
To see and hear
What is here,
instead of what should be,
was, or will be.
To say what one feels and thinks
instead of what one should.
To feel what one feels
instead of what one ought.
To ask for what one wants,
instead of always waiting
for permission.
To take risks in one's own behalf
instead of choosing to be only "secure"
and not rocking the boat.
Virginia Satir, Five Freedoms
What is here,
instead of what should be,
was, or will be.
To say what one feels and thinks
instead of what one should.
To feel what one feels
instead of what one ought.
To ask for what one wants,
instead of always waiting
for permission.
To take risks in one's own behalf
instead of choosing to be only "secure"
and not rocking the boat.
Virginia Satir, Five Freedoms
Montag, 20. August 2012
Aus gegebenem Anlass.
Am 20. Aug 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Zeugen sagten, Tony Scott habe nicht einen Moment gezögert, als er sprang. Ein toller Regisseur, wir besitzen zahlreiche seiner Filme und sehen sie immer wieder gern.
Vor allem aber wieder ein weiterer Mensch, der es nicht geschafft hat, sich am Leben festzuhalten. Ich bin tieftraurig.
Und weil es nicht nur die Tony Scotts und Silvia Seidels sind, die es nicht schaffen, sondern so viele, viele Menschen mehr - ohne prominenten Namen - bleibt mir eigentlich für sie alle nur berührtes Gedenken.
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Vor allem aber wieder ein weiterer Mensch, der es nicht geschafft hat, sich am Leben festzuhalten. Ich bin tieftraurig.
Und weil es nicht nur die Tony Scotts und Silvia Seidels sind, die es nicht schaffen, sondern so viele, viele Menschen mehr - ohne prominenten Namen - bleibt mir eigentlich für sie alle nur berührtes Gedenken.
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Donnerstag, 17. Mai 2012
Gefühlsknoten
Am 17. Mai 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Jetzt wieder innere Dialoge.
Die wütende Stimme, die sich darüber Luft macht, dass ich für all das nichts kann. Dass diese beiden Menschen an sich selbst leiden und ich nicht dazu da bin, ihnen den Hintern abzuwischen.
Die vermittelnde Stimme, die in Gedanken Briefe formuliert an meine Mutter. Erklärt, sich erklärt, sich Mühe gibt, um Verständnis wirbt und schließlich doch wieder in Rechtfertigungen ausbricht. Ja, aber meine Geschichte war mies. Ich habe drunter gelitten. Ich habe meine Gründe. Versteh mich doch!
Die Stimme, die voller Abscheu, beinahe schon Hass ist angesichts ihrer ewigen Passivität, ihres zurückgelehnten Leidens. Leiden. Leiden, Leiden, Leiden. Sie fühlt sich so zuhause in diesem Gefühl, dass ich beinahe schon meine, sie leidet gern. Mich widert es an. Dass immer andere für ihr Glück oder Unglück verantwortlich sind. Dass sie sich nie regt. Und damit alle in der Hand hat. Ekel habe ich, vor dem langen Arm, vor ihren unsichtbar gesponnenen Fäden, vor der säuberlich eingeübten Manipulation. Lass mich doch damit in Ruhe.
Meine Mutter, heulend am Küchentisch! Dieses Bild aus den Erzählungen meiner Schwester verfolgt mich. Es brandmarkt mich als das rücksichtslose, undankbare Kind, verantwortlich für die Tränen der Mutter. Der eigenen Mutter! Mater dolorosa. Aufgelöst, verschwommen in der Ausschließlichkeit ihres Daseins für andere.
Wir mir das alles zum Hals raushängt. Wie jetzt all die Gefühle wieder hochkommen wie Wasserleichen. Hässlich, muffig, aufgequollen, viel zu lange eingelegt in die widerliche, trübe Brühe der Vergangenheit.
In mir schreit es. Ich bin der Auslöser für ihr Leid, nicht die Ursache. Ich möchte ihm entgegenbrüllen. Leck mich am Arsch, verdammt! Lass mich in Frieden mit Deinem, mit Eurem Leid!
Ich hasse mich für mein schlechtes Gewissen, für meine Beeinflussbarkeit, dafür, dass ich ihnen auf den Leim gehe, ohne dass sie dafür auch nur ein Wort mit mir wechseln müssen.
Mein Mann meint: "Warte ab, schlafe eine Nacht darüber. Morgen wirst Du mit Deinen Gefühlen dazu klarer sein."
Was, wenn ich ihn nicht hätte? Ich glaube, ich würde durchdrehen.
Die wütende Stimme, die sich darüber Luft macht, dass ich für all das nichts kann. Dass diese beiden Menschen an sich selbst leiden und ich nicht dazu da bin, ihnen den Hintern abzuwischen.
Die vermittelnde Stimme, die in Gedanken Briefe formuliert an meine Mutter. Erklärt, sich erklärt, sich Mühe gibt, um Verständnis wirbt und schließlich doch wieder in Rechtfertigungen ausbricht. Ja, aber meine Geschichte war mies. Ich habe drunter gelitten. Ich habe meine Gründe. Versteh mich doch!
Die Stimme, die voller Abscheu, beinahe schon Hass ist angesichts ihrer ewigen Passivität, ihres zurückgelehnten Leidens. Leiden. Leiden, Leiden, Leiden. Sie fühlt sich so zuhause in diesem Gefühl, dass ich beinahe schon meine, sie leidet gern. Mich widert es an. Dass immer andere für ihr Glück oder Unglück verantwortlich sind. Dass sie sich nie regt. Und damit alle in der Hand hat. Ekel habe ich, vor dem langen Arm, vor ihren unsichtbar gesponnenen Fäden, vor der säuberlich eingeübten Manipulation. Lass mich doch damit in Ruhe.
Meine Mutter, heulend am Küchentisch! Dieses Bild aus den Erzählungen meiner Schwester verfolgt mich. Es brandmarkt mich als das rücksichtslose, undankbare Kind, verantwortlich für die Tränen der Mutter. Der eigenen Mutter! Mater dolorosa. Aufgelöst, verschwommen in der Ausschließlichkeit ihres Daseins für andere.
Wir mir das alles zum Hals raushängt. Wie jetzt all die Gefühle wieder hochkommen wie Wasserleichen. Hässlich, muffig, aufgequollen, viel zu lange eingelegt in die widerliche, trübe Brühe der Vergangenheit.
In mir schreit es. Ich bin der Auslöser für ihr Leid, nicht die Ursache. Ich möchte ihm entgegenbrüllen. Leck mich am Arsch, verdammt! Lass mich in Frieden mit Deinem, mit Eurem Leid!
Ich hasse mich für mein schlechtes Gewissen, für meine Beeinflussbarkeit, dafür, dass ich ihnen auf den Leim gehe, ohne dass sie dafür auch nur ein Wort mit mir wechseln müssen.
Mein Mann meint: "Warte ab, schlafe eine Nacht darüber. Morgen wirst Du mit Deinen Gefühlen dazu klarer sein."
Was, wenn ich ihn nicht hätte? Ich glaube, ich würde durchdrehen.
Freitag, 9. März 2012
Warum nicht?
Am 9. Mär 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Warum nicht die goldenen Tage wieder aufleben lassen? Wie war das noch? Die Sitzecke unter der Buche, umsäumt von Buchsbaumhecken, ein langer, massiver Tisch, um den wir alle sitzen, unbeschwert lachend, leicht angeheitert vom Bier. Das rauchende Holzkohlenfeuer im Grill, zischend fällt ab und an ein Tropfen Fett in die Glut. Sie ermahnt ihn, das Fleisch nicht zu schwarz werden zu lassen, denn "...das ist krebserregend!", und er: "Ja, ja, ich weiß!" Und isst es trotzdem. Die Sonne, die im Westen hinter den Häusern der Siedlung orange untergeht, wirft die langen Schatten der Lebensbaumhecke auf den Rasen. Irgendwann geht er ins Haus und holt eine Flasche Grappa und schenkt uns ein, und wir können sehen, dass er glücklich ist - all seine Lieben um den großen Tisch versammelt, so, wie er es gern hat. Sich als Teil von allem und allen fühlend, lebendig, echt, präsent. Schöne Abende waren das doch hier, und viele weitere schöne sollen es noch werden.
Warum also nicht diese goldenen Tage wieder aufleben lassen?
Die Antwort ist einfach: Das alles ist nicht, was es scheint und war es auch nie. Es ist der Analogkäse unseres Lebens - fade, falsch und ekelhaft. Die Leichtigkeit ist Maskerade. Wir sind nicht seine Lieben, wir sind seine Spiegel. Niemand fühlt sich leicht außer ihm. Vordergündig ist Lachen. Aber der Rest ist versteckter Widerwille, ist Haß, Angst, unter den Teppich gekehrter Schmerz, ist Vorsicht, Anspannung, Misstrauen. Vor allem anderen Widerwille, Ekel, Abscheu. Es ist eine Schmierenkomödie, die etliche Jahre zu lang aufgeführt wurde.
Deshalb nicht.
Die Tage waren nicht golden. Das Spiel ist vorbei, die Protagonisten sind ausgestiegen. Spielt allein weiter, spielt ohne Publikum, drescht hohle Phrasen, wenn ihr unbedingt müsst. Aber tut es ohne uns.
Meine Musik des Tages:
Death Cab for Cutie - I Will Possess Your Heart
Warum also nicht diese goldenen Tage wieder aufleben lassen?
Die Antwort ist einfach: Das alles ist nicht, was es scheint und war es auch nie. Es ist der Analogkäse unseres Lebens - fade, falsch und ekelhaft. Die Leichtigkeit ist Maskerade. Wir sind nicht seine Lieben, wir sind seine Spiegel. Niemand fühlt sich leicht außer ihm. Vordergündig ist Lachen. Aber der Rest ist versteckter Widerwille, ist Haß, Angst, unter den Teppich gekehrter Schmerz, ist Vorsicht, Anspannung, Misstrauen. Vor allem anderen Widerwille, Ekel, Abscheu. Es ist eine Schmierenkomödie, die etliche Jahre zu lang aufgeführt wurde.
Deshalb nicht.
Die Tage waren nicht golden. Das Spiel ist vorbei, die Protagonisten sind ausgestiegen. Spielt allein weiter, spielt ohne Publikum, drescht hohle Phrasen, wenn ihr unbedingt müsst. Aber tut es ohne uns.
Meine Musik des Tages:
Death Cab for Cutie - I Will Possess Your Heart
Mittwoch, 29. Februar 2012
Nachtmahr
Am 29. Feb 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Ich lebte in einer großen, dunklen Dachkammer, meine Habseligkeiten standen da, spärliches Licht fiel durch ein verschmiertes kleines Fenster herein. Ich bat Dich, draußen zu bleiben, meine Ordnung unangetastet zu lassen, mich herauskommen zu lassen, aber Du kamst der Bitte nicht nach. Du tratest in meinen Raum ein und brachtest alles, alles durcheinander. Du standest vor meinem Spiegel und griffst Dir in die Augen, Deine Augen trüb und rot und wund, und etwas war Dir auf den Boden gefallen. Du konntest nicht sehen. Deshalb brachtest Du alles in Unordnung, stießest alles um. Aber Du gingst nicht. Du zerrtest an allem, an den Möbeln, an den Kleidern, an dem Bretterboden, und Du konntest nichts sehen. Du wolltest eingreifen, wolltest machen, so wie Du immer machst, aber Du konntest nicht sehen. Sagtest: "Ich weiß schon, wie es für Dich richtig ist!" Du tratest daneben. "Ich mache das!" Tratest auf meine Dinge, tratest auf mich. "Bitte, Papa, geh doch!" Aber Du bliebst. Und Du machtest, stießest, schubstest, drängtest. Und schließlich brach der Boden.
Die Bretter schwankten und stürzten an der Seite ein, ins Bodenlose. Da gingst Du schließlich, verliessest meine Kammer und konntest noch immer nichts sehen. Ich blieb allein im Dunkel, in diesem Chaos. Ich hatte keinen Halt mehr. Ich konnte mich nicht mehr umdrehen, alles war zu eng, Du hattest alles durchwühlt, alles durchdrungen, nichts war so, wie ich das wollte. Der Boden ein einziges Schwanken. Kein Zuhause mehr. Kein Schutz. Kein Raum.
Die Bretter schwankten und stürzten an der Seite ein, ins Bodenlose. Da gingst Du schließlich, verliessest meine Kammer und konntest noch immer nichts sehen. Ich blieb allein im Dunkel, in diesem Chaos. Ich hatte keinen Halt mehr. Ich konnte mich nicht mehr umdrehen, alles war zu eng, Du hattest alles durchwühlt, alles durchdrungen, nichts war so, wie ich das wollte. Der Boden ein einziges Schwanken. Kein Zuhause mehr. Kein Schutz. Kein Raum.
Mittwoch, 1. Februar 2012
Zeit
Am 1. Feb 2012 im Topic 'Tiefseetauchen'
Irgendwie hatte ich immer ein verschrobenes Verhältnis zur Zeit. Vor allem hatte ich, so lange ich denken kann, das Gefühl, zu wenig davon zu haben, so als sei Zeit (vor allem Lebenszeit) etwas, das man in einem Eimer mit sich herumtragen könnte, und meiner habe ein Loch im Boden - winzig zwar, aber wenn ich nicht rennte, dann bliebe am Ende nichts mehr übrig. Dabei bleibt am Ende so oder so nichts übrig, dafür ist es ja das Ende. So bin ich aber immer mit meinem Eimer durch die Gegend gerannt, wie eine Irre, der die Höllenhunde auf den Fersen sind.
Ich war immer zu spät, so lange ich denken kann. Ich habe den Schulbus so oft von hinten gesehen, dass die Erinnerung daran zu einem einzigen Bild verschmolzen ist, untrennbar verbunden mit der Scham darüber, zu meinem Vater gehen und ihn darum bitten zu müssen, mich zur Schule zu fahren. Auch heute noch verschwindet die Zeit morgens einfach so. Ich drehe mich einmal um, und eine halbe Stunde ist verflogen, die sich für mich anfühlte wie fünf Minuten. Natürlich zieht sich meine Zeit auch mal in die Länge. Kälte hat einen enormen Einfluss auf mein Zeitempfinden - wenn ich frierend an der Bushaltestelle stehe und warte, vergehen die Minuten zäh wie Tapetenkleister. Oder wenn ich Arbeitstage habe, die mich nicht fesseln, herausfordern oder beschäftigen. Aber ich bemerke immer mehr, dass diese Momente seltener werden. Statt dessen sind mir die Tage zu kurz, was definitiv nicht daran liegt, dass es so früh dunkel wird.
Ich bin eigentlich kein ungeduldiger Mensch. Neulich beim Fleischer entschuldigte sich die Bedienung, dass sie unsere Bestellung nicht schon hatte vorbereiten können, und so musste ich warten. Sie packte unsere Tüte zusammen und warf mir hin und wieder einen entschuldigenden, peinlich berührten Blick zu, bis ich ihr erklärte, dass mir das Warten nichts ausmache, denn ich habe es nicht eilig. Habe ich auch tatsächlich nicht. Natürlich möchte ich irgendwann mal nach hause, ins Warme, und auch die Einkäufe sollten irgendwann in den Kühlschrank, aber mich hetzt keiner. Ich habe genügend Stoff zum Nachdenken, während ich irgendwo warte. Oder zum Schauen. Komisch, da habe ich auf einmal Zeit. Mehr als genug.
Neulich las ich mal irgendwo:
"Wer trödelt, hat mehr vom Leben!"
Das wirkt auf den ersten Blick völlig banal. Mein erster Reflex war, diese Aussage in die Schublade "Kalendersprüche" zu sortieren. Außerdem habe ich (und ich denke, mit mir Millionen anderer Menschen) gelernt, dass Trödeln absolut inakzeptabel ist. Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild eines trödelnden Schulkindes, das den Heimweg mit halb geschulterter Tasche und über den Kies schlurfenden Füßen zurücklegt. Zuhause dann das Donnerwetter: Zu spät, zu spät, zu spät. Wenn ich heute drüber nachdenke, in welchen Situationen ich trödele, dann fällt mir vor allem wieder der Morgen ein. Ich möchte mich sortieren können. Ich möchte den Kaffee nicht herunterstürzen müssen, sondern möchte ihn auf meiner Zunge schmecken. Ich möchte mir den Schal nicht halb um den Hals werfen und die Handschuhe nicht draußen vor der Tür erst anziehen müssen. Vor allem möchte ich aber morgens erst einmal wach werden können. Das umfasst für mich den gesamten Zeitraum von etwa einer Dreiviertelstunde, nachdem ich die Augen aufgemacht habe. Je nach Verfassung vielleicht auch einer Stunde. Dann bin ich im Tag angekommen, nicht eher. Klar kann man bestimmte Dinge im Halbschlaf machen, die Zähne putzen zum Beispiel oder duschen. Aber wenn ich gezwungen bin, wach zu sein, obwohl ich es noch nicht bin, dann verschiebt sich meine Zeit. Sie wird inkongruent, ich stehe neben mir, kann keinen Halt finden. Ich würde gerne trödeln. Und das funktioniert. Wenn ich zur selben Zeit aufstehe wie immer, mir aber eine halbe Stunde Zeit mehr gebe, dann bin ich plötzlich in mir angekommen.
Da merke ich, dass nicht eigentlich ich das verschrobene Verhältnis zur Zeit habe, sondern dass ich meine eigene Zeit habe, die ich nicht missachten darf. Es stimmt, wer trödelt, hat mehr vom Leben. Denn wir hetzen inzwischen eigentlich den Großteil unserer Zeit durchs Leben und wollen möglichst viel erledigen, und das auch in unserer sogenannten Freizeit. So, als verlängere sich die uns gegebene Zeit dadurch, dass wir sie möglichst voll packen mit allem Möglichen. Erlebnis, Event, Entertainment - alles auf einmal. Ich kann mich aber nicht beklagen über die "heutige Schnelllebigkeit", wenn es doch meine eigene Entscheidung ist, wie viel Zeit ich auf etwas verwende oder nicht.
Es spielt natürlich das Diktat der Arbeit eine Rolle. Schon in meinem Grundschulzeugnis stand: "Das Sturm-Mädchen braucht zur Erledigung seiner Aufgaben zu viel Zeit!" Schon damals bestand der Tag aus vielen kleinen Zeitblöcken, innerhalb derer man sein Pensum erledigt haben musste. Und so ist es natürlich auch heute noch. Wer langsam arbeitet, gilt als ineffizient in einer Welt, in der alles auf Termin fabriziert wird. Da beginnt man plötzlich zu hadern, weil man Stunden verloren hat (als ob man Stunden wirklich verlieren könnte!), oder sogar Lebenszeit. Ich bin in der glücklichen Lage, eine Arbeitsnische zu besetzen, in der ich pünktlich arbeiten kann, aber nicht hetzen muss. Für jemanden, der im Akkord arbeitet, sieht das natürlich schon ganz anders aus. Neulich lernte ich (nach Recherche im Zusammenhang mit Herrn Stubenzweigs Text zum Thema), dass Menschen bei Bildschirmarbeit fünf (ich habe auch von zehn gelesen) Minuten Pause pro Stunde zustehen. Die Arbeitspause dient immer einem Zweck. Sie dient der Aufrechterhaltung beziehungsweise der Wiederherstellung der Arbeitskraft und des Funktionierens der humanen Ressource.
Aber ich kann mich wehren dagegen, dass diese Taktung und diese Wertungen auf mein übriges Leben übergreifen. Freie Zeit ist freie Zeit, in der das Geschehen sämig wird, in der man eine halbe Stunde lang in der Sonne sitzen kann und sich dafür nicht rechtfertigen muss. Das zu lernen ist keine leichte Lektion, weil aller vertrödelten Zeit das Prädikat "nutzlos" anhaftet. Aber wer hat zu entscheiden, ob meine Art des Umgangs mit meiner Zeit nutzlos ist oder nicht? Die Pause um der Pause Willen, zweckbefreit, ist die eigentliche, wirkliche, wahre Pause, die mich einstimmt auf mein eigenes Zeiterleben und mich zurückbringt in meinen eigenen Takt. Produktiv muss ich nicht sein. Ich habe heute eine Stunde nur damit zugebracht, den Scan eines Kieselsteins in Photoshop freizustellen. Wieuneffektiv uneffizient. Aber sehr bei mir.
Geduld ist keine Tugend, sie ist ein Geschenk. Und wer trödelt, hat tatsächlich mehr vom Leben. Er hat Zeit.
Meine Musik des Tages:
Sophia - Birds
Ich war immer zu spät, so lange ich denken kann. Ich habe den Schulbus so oft von hinten gesehen, dass die Erinnerung daran zu einem einzigen Bild verschmolzen ist, untrennbar verbunden mit der Scham darüber, zu meinem Vater gehen und ihn darum bitten zu müssen, mich zur Schule zu fahren. Auch heute noch verschwindet die Zeit morgens einfach so. Ich drehe mich einmal um, und eine halbe Stunde ist verflogen, die sich für mich anfühlte wie fünf Minuten. Natürlich zieht sich meine Zeit auch mal in die Länge. Kälte hat einen enormen Einfluss auf mein Zeitempfinden - wenn ich frierend an der Bushaltestelle stehe und warte, vergehen die Minuten zäh wie Tapetenkleister. Oder wenn ich Arbeitstage habe, die mich nicht fesseln, herausfordern oder beschäftigen. Aber ich bemerke immer mehr, dass diese Momente seltener werden. Statt dessen sind mir die Tage zu kurz, was definitiv nicht daran liegt, dass es so früh dunkel wird.
Ich bin eigentlich kein ungeduldiger Mensch. Neulich beim Fleischer entschuldigte sich die Bedienung, dass sie unsere Bestellung nicht schon hatte vorbereiten können, und so musste ich warten. Sie packte unsere Tüte zusammen und warf mir hin und wieder einen entschuldigenden, peinlich berührten Blick zu, bis ich ihr erklärte, dass mir das Warten nichts ausmache, denn ich habe es nicht eilig. Habe ich auch tatsächlich nicht. Natürlich möchte ich irgendwann mal nach hause, ins Warme, und auch die Einkäufe sollten irgendwann in den Kühlschrank, aber mich hetzt keiner. Ich habe genügend Stoff zum Nachdenken, während ich irgendwo warte. Oder zum Schauen. Komisch, da habe ich auf einmal Zeit. Mehr als genug.
Neulich las ich mal irgendwo:
"Wer trödelt, hat mehr vom Leben!"
Das wirkt auf den ersten Blick völlig banal. Mein erster Reflex war, diese Aussage in die Schublade "Kalendersprüche" zu sortieren. Außerdem habe ich (und ich denke, mit mir Millionen anderer Menschen) gelernt, dass Trödeln absolut inakzeptabel ist. Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild eines trödelnden Schulkindes, das den Heimweg mit halb geschulterter Tasche und über den Kies schlurfenden Füßen zurücklegt. Zuhause dann das Donnerwetter: Zu spät, zu spät, zu spät. Wenn ich heute drüber nachdenke, in welchen Situationen ich trödele, dann fällt mir vor allem wieder der Morgen ein. Ich möchte mich sortieren können. Ich möchte den Kaffee nicht herunterstürzen müssen, sondern möchte ihn auf meiner Zunge schmecken. Ich möchte mir den Schal nicht halb um den Hals werfen und die Handschuhe nicht draußen vor der Tür erst anziehen müssen. Vor allem möchte ich aber morgens erst einmal wach werden können. Das umfasst für mich den gesamten Zeitraum von etwa einer Dreiviertelstunde, nachdem ich die Augen aufgemacht habe. Je nach Verfassung vielleicht auch einer Stunde. Dann bin ich im Tag angekommen, nicht eher. Klar kann man bestimmte Dinge im Halbschlaf machen, die Zähne putzen zum Beispiel oder duschen. Aber wenn ich gezwungen bin, wach zu sein, obwohl ich es noch nicht bin, dann verschiebt sich meine Zeit. Sie wird inkongruent, ich stehe neben mir, kann keinen Halt finden. Ich würde gerne trödeln. Und das funktioniert. Wenn ich zur selben Zeit aufstehe wie immer, mir aber eine halbe Stunde Zeit mehr gebe, dann bin ich plötzlich in mir angekommen.
Da merke ich, dass nicht eigentlich ich das verschrobene Verhältnis zur Zeit habe, sondern dass ich meine eigene Zeit habe, die ich nicht missachten darf. Es stimmt, wer trödelt, hat mehr vom Leben. Denn wir hetzen inzwischen eigentlich den Großteil unserer Zeit durchs Leben und wollen möglichst viel erledigen, und das auch in unserer sogenannten Freizeit. So, als verlängere sich die uns gegebene Zeit dadurch, dass wir sie möglichst voll packen mit allem Möglichen. Erlebnis, Event, Entertainment - alles auf einmal. Ich kann mich aber nicht beklagen über die "heutige Schnelllebigkeit", wenn es doch meine eigene Entscheidung ist, wie viel Zeit ich auf etwas verwende oder nicht.
Es spielt natürlich das Diktat der Arbeit eine Rolle. Schon in meinem Grundschulzeugnis stand: "Das Sturm-Mädchen braucht zur Erledigung seiner Aufgaben zu viel Zeit!" Schon damals bestand der Tag aus vielen kleinen Zeitblöcken, innerhalb derer man sein Pensum erledigt haben musste. Und so ist es natürlich auch heute noch. Wer langsam arbeitet, gilt als ineffizient in einer Welt, in der alles auf Termin fabriziert wird. Da beginnt man plötzlich zu hadern, weil man Stunden verloren hat (als ob man Stunden wirklich verlieren könnte!), oder sogar Lebenszeit. Ich bin in der glücklichen Lage, eine Arbeitsnische zu besetzen, in der ich pünktlich arbeiten kann, aber nicht hetzen muss. Für jemanden, der im Akkord arbeitet, sieht das natürlich schon ganz anders aus. Neulich lernte ich (nach Recherche im Zusammenhang mit Herrn Stubenzweigs Text zum Thema), dass Menschen bei Bildschirmarbeit fünf (ich habe auch von zehn gelesen) Minuten Pause pro Stunde zustehen. Die Arbeitspause dient immer einem Zweck. Sie dient der Aufrechterhaltung beziehungsweise der Wiederherstellung der Arbeitskraft und des Funktionierens der humanen Ressource.
Aber ich kann mich wehren dagegen, dass diese Taktung und diese Wertungen auf mein übriges Leben übergreifen. Freie Zeit ist freie Zeit, in der das Geschehen sämig wird, in der man eine halbe Stunde lang in der Sonne sitzen kann und sich dafür nicht rechtfertigen muss. Das zu lernen ist keine leichte Lektion, weil aller vertrödelten Zeit das Prädikat "nutzlos" anhaftet. Aber wer hat zu entscheiden, ob meine Art des Umgangs mit meiner Zeit nutzlos ist oder nicht? Die Pause um der Pause Willen, zweckbefreit, ist die eigentliche, wirkliche, wahre Pause, die mich einstimmt auf mein eigenes Zeiterleben und mich zurückbringt in meinen eigenen Takt. Produktiv muss ich nicht sein. Ich habe heute eine Stunde nur damit zugebracht, den Scan eines Kieselsteins in Photoshop freizustellen. Wie
Geduld ist keine Tugend, sie ist ein Geschenk. Und wer trödelt, hat tatsächlich mehr vom Leben. Er hat Zeit.
Meine Musik des Tages:
Sophia - Birds
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