Sturmflut
Sonntag, 20. Oktober 2013
Wie ist das denn eigentlich...?
Über die Gründe meines Kontaktabbruches zu den Eltern habe ich hier schon sehr viel geschrieben. Das endete oft in den Kommentarsträngen in Diskussionen um das Verzeihen und um die Rolle, die Eltern im Leben jedes einzelnen spielen. Beides sind wichtige Themen, die immer wieder an die Oberfläche meines Lebens treiben wie eine Wasserleiche. Mein Blogeintrag "Pflaster drüber, und gut?" gehört mit heute 1085 Aufrufen zu den meistgelesenen meines Blogs.

Mich erstaunt immer, wie oft Menschen auf der Suche nach dem Stichwort "Verlassene Eltern" hierher gelangen. Ich schaue dann wieder einmal selbst nach Treffern dazu, und mir fällt nach dem Sichten der vielen Beiträge zum Thema auf, dass es unglaublich oft nur die Eltern sind, die darüber reden. Manche sehr viel, wie Angelika Kindt (die mit ihrer Geschichte in den Medien extrem präsent ist und außerdem ein Buch über den Kontaktabbruch ihrer Tochter Maya schrieb), andere nur sporadisch. Manche finden sich in eigens dafür eingerichteten Foren zusammen, andere schreiben in Gästebüchern und Kommentarspalten. Selbsthilfeforen oder -gruppen für "verlassende Kinder" gibt es nicht, nur manchmal lösen Medienbeiträge Lawinen von Kommentaren verlassender Kinder aus, wenn der Schutz der Anonymität im Netz und dieser "Ach, das habe ich auch erlebt!"-Effekt die Angst vor Verletzung und Bloßstellung überwiegen.

"Selbsthilfegruppe Verlassende Kinder" klingt ja auch ein bisschen komisch. Wer verlässt, der hat doch schließlich die Macht. Er ist doch derjenige, der aktiv ist, verletzt, vor den Kopf stößt, messerscharf schweigt und damit über die Kommunikation bestimmt. Warum sollte so jemand auch Hilfe brauchen? Sich so eine Gruppe vorzustellen ist schwierig.

Im Interview mit einem evangelischen Fernsehsender habe ich Frau Kindt noch mal gesehen. Eine verkrampft wirkende, raumgreifende, ins Wort fallende, Bestätigung suchende Frau. Es ist nicht unbedingt so, dass sie das Thema meidet. Sie sagt, nach dem jahrelangen Leugnen des Kontaktabbruchs ihrer Tochter nach außen sei es jetzt wie eine schlecht verheilende Wunde, die immer dann wieder aufbricht, wenn sie darüber spricht. Das Thema sei immer da. Sie liebe ihre Tochter wie verrückt. Sie habe ein Bild von ihr zuhause stehen.

Sie selbst ist es, die die Wunde offenhält. Wenn man sie im Interview sieht, dann spürt man, wie sie sich immer wieder von neuem an dem (gar nicht so unausgesprochenen) Schuldvorwurf ihrer Tochter aufscheuert, statt sich ihm wirklich zu stellen. Die Moderatorin fragt Frau Kindt nach ihren Gefühlen. Aber die Frau bleibt seltsam unkonkret, distanziert und selbstbezogen, ohne von sich etwas preiszugeben. Nur, dass sie nicht schuld sein will, das merkt man ihr deutlich an. Und sie betont, wie schwer das alles sei - dieses, was sie als Schicksal bezeichnet.

Als ich das Interview ansehe, wird mir klar, dass über die Sichtweise der Kinder wenig gesprochen wird. Das merkt auch der zusammen mit Frau Kindt interviewte Psychologe an. Kinder schweigen. Gerechtfertigt hat man sich als Kind ja genug, bis man beschloss, es eben nicht mehr zu tun, zukünftig den Mund zu halten und zu handeln, anstatt zu reden. Aber ich merke auf einmal, dass ich den Wunsch habe, darüber zu schreiben. Nicht zum ichweißnichtwievielten Male über meine Gründe - das wäre in der Tat eine Rechtfertigung, die ich nicht brauche, weil in dieser Sache ausreichende Klarheit herrscht. Sondern darüber, wie es sich anfühlt, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen.

Für mich als Tochter ist es eine ziemlich harsche Erkenntnis gewesen, dass ich vom Zeitpunkt des Kontaktabbruches an auf einen Teil meiner Familie verzichten muss, wenn ich keinen Selbstverrat begehen will. Dass ich mich dazu bewusst entschieden habe, bedeutet nicht, dass das keine Schmerzen bereitet. Neben einem wundervollen Gefühl von Freiheit und Entlastung ist da nämlich auch noch vieles andere. Mein Leben lang konnte ich mich auf die Sicherheit, die die eigene Familie vermittelt hatte, verlassen. Es war eine hässliche Sicherheit, aber es war Sicherheit. Wenn ich vorgab, mich wohlzufühlen, glücklich und erfolgreich zu sein, mich immer anzustrengen, wenn ich nach Konformität strebte und mühsam die wenigen Berührungspunkte pflegte, die ich tatsächlich mit meinen Eltern hatte, dann konnte ich mir sicher sein, dass sie mir ihre Aufmerksamkeit und das, was sie und ich gleichermaßen für Liebe hielten, nicht vollständig entziehen würden. Das alte, vertraute Spiel ("Meine Seele gegen Deine Liebe") war immerhin das - vertraut.

Wie extrem nackt und kalt es sich anfühlt, diese Vertrautheit zu verlassen, das kann niemand nachfühlen, der die Gnade erlebt hat, sich in einem ganz normalen, gesunden Prozess von den Eltern lösen zu dürfen. Wie weich die Knie tatsächlich sind, wie groß das Gefühl der Leere, und wie lange es wirklich dauert, mit dem Schreckgespenst der elterlichen Ablehnung umgehen zu können, wenn man sie denn einmal wirklich, tatsächlich herausfordert, das lässt sich nicht ermessen, ehe man diese Erfahrung nicht selbst macht. Verloren fühlt sich das an, hoffnungslos verloren, und man hat es selbst so gewollt.

Kontaktabbruch bedeutet auch für die Kinder, schief angesehen zu werden. Nicht allein die Eltern leiden darunter, den Nachbarn etwas vorflunkern zu müssen, wenn sie gefragt werden, warum denn diese Weihnachten die Tochter oder der Sohn nicht da ist. Das peinlich betretene Schweigen, das sich einstellt, wenn man Bekannten oder entfernteren Schwiegerverwandten erzählt, dass man keinen Kontakt zu den eigenen Eltern hat, ist eine Klasse für sich. Man spürt ihre brennende Neugier auf eine Erklärung und gleichzeitig, wie wie ihr antrainierter Anstand es ihnen verbietet, zu fragen. Man selbst wünscht sich nichts mehr, als dass dieser Moment vorbeiziehen möge, damit man weder komische Floskeln bemühen ("Wir haben so unsere Schwierigkeiten!") noch ehrlich sein muss ("Mein Vater hat mich missbraucht. Meine Mutter hat es nicht interessiert." Liste beliebig ergänzen). Glück hat man, wenn niemand unbedarft zum Besten gibt, wie charmant, nett, aufgeschlossen, interessant und liebenswert er die Eltern findet. Das erspart einem, betreten auf der Unterlippe herumzukauen und ein "Wenn Du wüsstest...!" herunterzuschlucken.

Mit dem Kontaktabbruch tauchten Probleme auf, mit denen ich vorher nicht gerechnet hatte. Wie gehe ich mit Freunden der Eltern um, die ich selbst gern mag? Nehme ich ihnen die Freundschaft zu den Eltern übel? Erwarte ich von jedem, der mir ab jetzt begegnet, eine Positionierung? Instrumentalisiere ich die anderen, versuche ich, sie für mich einzunehmen? Missbrauche ich sie als Boten für Giftpfeile? Oder kündige ich dann doch lieber gleich das Verhältnis zu allen, die den Eltern nahestehen, nur so aus Vorsicht, aus Selbstschutz? Wem haben die Eltern was erzählt? Wem erzähle ich was? Wer erzählt was weiter? Watzlawick hatte Recht.

Eigentlich habe ich manches Mal ganz gern gewollt. Erzählen, reden, berichten von der vergifteten Atmosphäre im Elternhaus. Aber dann war doch oft die Angst zu groß, wieder nicht gehört, nicht gesehen und nicht ernstgenommen zu werden. Ich musste mich erst jahrelang immer wieder neu wundern über die professionelle, nichtsdestotrotz aber wirkungsvolle Akzeptanz des Therapeuten, der mir Woche für Woche im Sessel gegenüber saß und mich nicht abwertete. Vor allem aber über den mir gebotenen Raum für meine über all die Jahre mangels Benutzung brüchig gewordene Stimme. Wenn Du glaubst, Du kannst nicht sprechen und wirst nicht gehört, versuchst Du es halt irgendwann auch nicht mehr. Abruptes Schweigen ist für die, die sich nicht anders zu helfen wissen.

Wer glaubt, dieses Verhalten hätte irgend etwas mit (womöglich sogar lustvollem) Strafen zu tun, der irrt. Wer es gern komfortabel hat, bleibt in den alten Verhältnissen. Mir hat das alles keinen Spaß gemacht. Sehen, was man tatsächlich machen kann, anstatt das gewohnte Familiensystem als gegeben und unentrinnbar zu aufzufassen, ist ein Wagnis. Und es einzugehen ist sinnlos, wenn man nicht am Fundament anfängt.

Fundamental auch die Fragen, die sorgfältig gesäten und gedüngten Giftplanzen gleich immer wieder aufkeimen. Bin ich eine schlechte Tochter? Hatte ich das Recht zu diesem Abbruch? Sollte ich nicht meinen Eltern dankbar sein? Ist Blut nicht dicker als Wasser? Immer wieder Sollte ich nicht...?, Müsste ich nicht...?, Habe ich denn nicht die Pflicht...?, und die grausamste aller Fragen, Sind sie denn wirklich so schlimm? War das alles wirklich so schrecklich? Unter diesen Fragen, nagenden Zweifeln, unter diesem Gift in meiner Blutbahn habe ich gelitten und leide ich manches Mal noch heute. Einen Schritt zurücktreten und erkennen zu können, dass diese Fragen die Antwort bereits in sich tragen, ist vielleicht die größte Errungenschaft dieses Kontaktabbruches - und die am härtesten erkämpfte.

Wie ist das denn eigentlich, wenn man als erwachsenes Kind den Kontakt zu seinen Eltern bewusst abbricht? Es ist schmerzhaft und traurig. Man bricht mit den wichtigsten Menschen der eigenen Lebensgeschichte. Würde man nicht irgendwo ganz tief innen die Notwendigkeit dazu erahnen, dann würde man es bleiben lassen.

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Dienstag, 1. Oktober 2013
Das Recht auf Gefühle
Die Depression, die mein Leben einmal so massiv im Griff hatte, lebt nach wie vor als Schatten in mir, aber sie frisst mich nicht mehr. Aber wenn ich Artikel wie diesen lese, dann kommt eine Menge wieder hoch, und zugleich kommen mir die Tränen, was ein großes Glück ist.

Die Erinnerung an totale Talsohlen ist tief in meine Zellen eingegraben, und sie bleibt. Eine Erinnerung daran, wie es ist, sich zu wünschen, man existierte nicht mehr. Wie übermächtig dieser Wunsch sein kann - hör doch auf, hör auf zu sein, hör auf, gib endlich Ruhe! Wenn ich lese, wie Stephen Fry seine unendliche, innere Einsamkeit beschreibt, habe ich einen dicken Kloß im Hals, weil ich das zu gut kenne. Du treibst allein im Universum, und selbst, wenn alle um dich herum lächeln und dir nette Dinge sagen, wohnt in dir diese vollkommene Verneinung, die dich von allem anderen entkoppelt, vereinzelt und hoffnungslos verloren macht. Du möchtest, dass das aufhört, diese grausame Verzerrung des Inneren. Nur Stille. Selbstbeendigung als einzige Lösung, harsch, blank und scharf, bar jeglicher Tränen.

Fry schreibt, wie Außenstehende immer wieder die Gefühle werten. "“How can someone so well-off, well-known and successful have depression?” they ask." Ja, wem es doch so gut geht, wem der Erfolg zufliegt, der hat doch kein Recht zur Klage. Aber Depression ist so viel mehr als Klage und Jammern. Wenn man sich fragen muss, auf welche Gefühle man ein Recht hat, dann wird die hässliche Fratze des Ganzen deutlich: Depression ist die konsequent auf die Spitze getriebene, totale Verleugnung des Fühlens. Was bleibt, ist das Gefühl des Nicht-Fühlen-Dürfens, und das kommt dem Entzug der Existenzberechtigung gleich.

"I can (...) see that, bipolar or not, if I'm under treatment and not actually depressed, what the fuck right do I have to be lonely, unhappy or forlorn? I don't have the right. But there again I don’t have the right not to have those feelings. Feelings are not something to which one does or does not have rights."

Gefühle hat man einfach. Das Problem ist nicht die Traurigkeit. Ich habe die Traurigkeit umarmt und willkommen geheißen, als ich endlich wieder in der Lage war, sie zuzulassen. Jede Träne ist besser als das kalte, steinerne Loch.

Heul' nicht rum, dir geht's doch gut! Die eigene Einsamkeit ist eine Bagatelle. Du musst nur mal wieder unter Leute! Der Schmerz gehört überwunden. Lach doch mal! Zusammenreißen ist alles. Weine nicht mehr, schau, hier ist ein Bonbon! Die aufgeschlagenen Knie sind nicht wichtig. Aus Fehlern gehört gelernt. Es ist nicht schlimm, wenn wir fallen. Es ist nur schlimm, wenn wir nicht wieder aufstehen.

Sinnsprüche sind der pure Hohn.

Der einzige Trost, den du hast, ist das Verstreichen der Zeit, und dir bleibt nur, weiter zu atmen. This too shall pass. Halte fest. Bleib.

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Samstag, 7. September 2013
Eine Erinnerung
Kürzlich schloss ich die Augen und fand mich unversehens im schönsten Garten meiner Kindheit wieder. An diesen Garten erinnerte mich bereits den ganzen Sommer lang der süße Duft der Nektarinen, die ich ab und zu gekauft hatte. Immer wieder erstaunt mich die intensive Verknüpfung von Düften mit längst vergangenen Erlebnissen.

Der besagte Garten lag in einem langgezogenen Tal in Südtirol, gerade auf der Grenze, an der sich alpiner und mediterraner Einfluss in diesem Landstrich vermischen, und war über mehrere Terrassen an einem Hang angelegt. Von dem kiesbestreuten Hof ganz unten gelangte man über mehrere Treppen immer eine Etage höher. Nah am Hauseingang, bereits eine Treppe hoch, stand auf einer Kiesfläche unter Kiwiranken eine quietschende Hollywoodschaukel, auf der ich für mein Leben gern saß als Kind, mit einem Buch, oder später als Teenager mit meinem Cassettenwalkman, in Gedanken versunken. Unzählige verschiedene Katzen aus der Nachbarschaft fanden sich hier ein, strichen einem beiläufig um die Beine, balancierten auf der verputzten Mauer oder schliefen auf den warmen Steinplatten. In jedem Feriensommer waren es wieder andere.

Die nächste Treppe führte auf eine Rasenfläche, und am rechtsseitigen Ende des Gartens lagen die Gemüsebeete der Wirtin mit Tomaten, Zucchini und Salat, dazwischen ein betonierter Weg. Aus Bewässerungsrohren versprühten orangefarbene Plastikdüsen nebelfein ihr Wasser, und ich erinnere mich an den sanften Schauder, wenn die zeitgesteuerte Bewässerung gerade dann einsetzte, wenn man barfüßig am Beet vorbeilief. Auf der anderen Seite eine Weinlaube, unter der man vortrefflich sitzen konnte, zum Kartenspielen oder beim Grillen. Der Boden war bestreut mit feinen, spitzen Steinchen, die sich in die nackten Sohlen bohrten, wenn man wieder einmal die Latschen vergessen hatte. Hinter der Weinlaube lag eine Bocciabahn, am Ende begrenzt von massigen, roten Findlingen und einem Dickicht aus Esskastanien, und es gab eine Schaukel, die einem das Gefühl gab, zu fliegen, schon allein deshalb, weil sie am Hang lag.

Wieder eine Etage höher gab es eine Holzhütte, in der Liegestühle an der Wand lehnten und in der man sich umzog, wenn man in das Schwimmbecken wollte. Hin und wieder vergaß ein Gast hier sein Bikinioberteil oder ein Buch, oder eine Flasche Sonnencreme. Vor der Hütte stand ein mit Wachstuch belegter Tisch mit Stühlen und einer hölzernen Bank. Von hier aus konnte man über das Tal sehen, auf das gegenüberliegende Bergmassiv mit dem Weiß- und dem Schwarzhorn.

Das Schwimmbecken erlaubte drei oder vier lange Schwimmzüge und war so tief, dass ein Erwachsener gut stehen konnte. In der Dämmerung schwirrten über der Wasseroberfläche die Fledermäuse, was es immer ein bisschen unheimlich, aber auch aufregend machte, abends noch zu baden. Das Becken war umgeben von einem Hain aus Obstbäumen, hier wuchsen Aprikosen, Pflaumen, Pfirsiche und Nektarinen, die wir uns einfach pflücken konnten, wenn uns der Sinn danach stand. Über die warmen Steinplatten liefen Eidechsen und klebten senkrecht an den verputzten Mauern.

Spannend-paradiesisch war aber nicht nur der Garten, sondern auch das eher inoffizielle Drumherum. Überall gab es geschotterte Pfade, einer führte zum Kaninchenstall ganz am oberen Ende des Gartens, ein anderer zwischen den Esskastanien hindurch, die so dicht waren, dass niemand einen sah, wenn man sich dort entlangschlich.

Wieder ein anderer dieser Pfade endete in dem gewaltigen Geröllfeld aus roten Porphyrfindlingen, das an das Grundstück angrenzte und das wir als Niemandsland bezeichneten. Dieses Niemandsland zog mich magisch an. Ich probierte aus, wie weit ich über die Felsen hinweg klettern konnte, unter den Fingern das rauhe Gestein. Es verursachte einen warmen Dreher im Magen, für einem Moment nicht zu wissen, wie man zurückkommen würde, aber schließlich doch wieder Halt für die Füße zu finden. In diesem Geröllfeld-Niemandsland mit seinen übermannsgroßen Felsen verschwand ich für Stunden und blieb manchmal einfach nur irgendwo sitzen, beobachtete die Eidechsen und hing meinen Gedanken nach.

Wenn ich die Augen schließe, erinnere ich mich in allen Details an diesen wunderbaren Garten meiner Kindheit. Ich höre das Geräusch der Filteranlage am Schwimmbecken mit dem monotonen Klappern des Wasserdurchlasses. Ich höre das Knirschen der Kiesel unter den Sohlen. Ich spüre die Hitze der roten Steinplatten und sehe zu, wie das gechlorte Wasser des Schwimmbades binnen Minuten auf ihnen verdunstet. Ich rieche die Rotweinschorle, die wir aus einfachen Gläsern am oberen Tisch sitzend tranken. Ich sehe das helle Gelb der Löwenmäulchen im Beet an der Mauer, das in der Dämmerung beinahe leuchtete. Ich höre meine eigenen Schritte auf den Treppenstufen und fühle unter meinen Fingern das sonnengegerbte Holz des Lattenzaunes, der die obere Terrasse begrenzt.

Ich war beinahe jeden Sommer dort, seit ich zwei Jahre alt war bis zum Jahr meines Schulabschlusses. Dieser Garten ist inzwischen ein Ort in meinem Herzen, in meiner Phantasie zusammengeschmolzen aus den Erinnerungen all dieser Jahre. Ich würde ihn vermutlich nicht mehr antreffen, wenn ich jetzt dorthin führe - weil ich mich verändert habe, weil sich der Ort verändert hat. Aber das spielt keine Rolle, denn dieser Garten ist ein Teil von mir und überdauert wie ein Juwel. Noch viele solcher Erinnerungen an andere Orte werden dazukommen, aber diese bleibt.

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Dienstag, 27. August 2013
Ich lasse es.
Es ist komisch, ich kann meinem Vater noch immer keinen Brief schreiben. All die Exemplare, die ich in meinem Leben verfasst habe, liegen hier bei mir zuhause und dokumentieren die Natur unserer Beziehung - einseitig, geprägt von Angst, Rechtfertigung und wohlüberlegten, tausendmal hin- und hergewälzten Worten.

Was in mir ist an Strudeln, Untiefen und Stürmen, was da tobt und reißt und zerrt, das kann ich nicht ausdrücken. Denn es unterliegt wieder der Bewertung. Ich kann nicht umhin, mich mit seinen Augen zu sehen und zu beurteilen, was ich sehe. Ich kann nicht offen sein. Zur ganzen Welt, aber nicht zu ihm. Immer noch nicht.

Die Begegnung hat mich nicht unberührt gelassen. Ich merke, dass dieser Mann eine Bedeutung für mein Leben hat, ganz gleich, ob ich das will oder nicht. Ich habe mir oft genug in meinem Leben gewünscht, er hätte keine. Aber sich das vorzumachen, wäre eine glatte, noch dazu naive Lüge.

Aber ich kann nicht ich sein im Kontakt mit ihm. Er bringt mich zum Verschwinden.

Also lasse ich das mit dem Briefeschreiben.

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Sonntag, 11. August 2013
Kleine Fehler
Überhand nehmende Beikräuter machten es erforderlich, dass ich mich gestern nachmittag endlich mal, bewehrt mit einem stählernen Haken, einer Styropormatte, Gartenhandschuhen und angetan mit meiner alten Arbeitsjeans in unsere Auffahrt begab, um mich dem Problem zu widmen. Unkraut auszuziehen ist, gemessen an dem, was ich in den letzten Tagen tat, eine bemerkenswert unkonstruktive, langweilige und obendrein noch überaus spießige Tätigkeit. Aber weil ich nicht wollte, dass das Grün noch weiter wuchert, war Handeln angebracht. Erstaunlich ohnehin, dass es so schnell wächst - ich hatte doch erst vor ein paar Wochen...

In meinem Städtchen ist es von ausgesprochen großer Bedeutung, wie oft das jemand macht, Unkraut zupfen. Man mag hier gepflegte, geordnete Verhältnisse und mutmaßt schnell, welcher Art der Charakterfehler sein mag, den jemand hat, wenn er Besitz oder Gemietetes eklatant vernachlässigt. Da stimmt dann irgendwas nicht. Gerüchte machen die Runde, jemand käme nicht zurecht, es würde zu viel, man sei faul oder was auch immer sich für Schlüsse aus dem ungejäteten Streifen Garten ablesen lassen, der von der Straße aus für Fremde einsehbar ist. Mitunter folgt auch der Schluss, der Ordnungsverweigerer sei nicht von hier, möglicherweise aus einem eher südlichen Land, denn die haben ja andere Maßstäbe.

Wenn ich etwas tue, denke ich gern an die Webfehler, die orientalische Teppichweber der Legende nach in ihre Teppiche einweben, weil es allein Allah erlaubt und möglich sei, etwas perfekt zu machen. Auch ganz ohne religiös zu sein, fasziniert mich dieser Gedanke: Es nicht nur nicht perfekt machen zu müssen, sondern das Streben nach Perfektion als sogar als Anmaßung zu betrachten. Auf den Knien in der Einfahrt hockend, schoss mir dieses Konzept wieder durch den Kopf und vermischte sich dort mit einer Erinnerung an die Forderung nach Perfektion, die meine Kindheit und Jugend bestimmt hatte. Man hört nicht eher auf mit der Arbeit, ehe alles getan und ehe es auch gut getan ist. Auf eine Weise, die der Prüfung durch die Augen anderer - Verwandschaft, Nachbarschaft, Fremder - standhält. Ordentlich, gründlich, sauber und bis zum Ende, so wird es gemacht!

In dem, was ich gestern tat, habe ich mit Absicht Webfehler hinterlassen. Das ist die Weigerung, perfekt zu sein, dieser winzige, wirklich verschwindend kleine Krümel Aufbegehrens gegen die Maxime der Perfektion. Er ist mit einem ähnlich guten Gefühl verbunden wie der Satz "Der frühe Vogel kann mich mal", den ich mir ins Gedächtnis rufe, wenn ich mir mal Ruhe gönnen und diese auch genießen will.

Diese vermeintlichen Tugenden über Bord zu werfen - übertriebene Ordnung, Gründlichkeit, hohe Ansprüche, Fleiß - das tut einfach nur gut. Zwischen den roten Klinkern der Auffahrt sitzen noch immer hier und da ein Büschel wilden Grases, etwas Moos, einige quergesprossene Stengel. Das bleibt so.

Perfektion ist nicht nötig. Die eigene Zufriedenheit mit dem Ergebnis der Anstrengungen ist das einzige, was wirklich zählt. Was die Nachbarn davon halten? Ob sie mich fleißig oder faul finden? Ob sie der Ansicht sind, ich habe es gut oder schlecht gemacht? Was spielt das für eine Rolle? Neben der strammstehenden Vorgartenwirklichkeit dieses Ortes gibt es noch eine andere, die allein ausschlaggebend ist. Fühle ich mich in dem, was mich umgibt, wohl oder nicht? Kann ich damit leben?

Kleine Reste Moos sind nichts, was weiter auffällt, sie sind nur kleine Fehler, die mich daran erinnern, dass ich mir so etwas erlauben will. Nichts für die ganz große Revolution. Und trotzdem wichtig für mein persönliches Behagen, weil endlich ganz mein. Ob ich unperfekt sein darf oder nicht, hängt letztlich nur davon ab, ob ich es mir erlaube oder nicht. Und weil Perfektion in Sachen Unkraut ohnehin ein riesengroßer, banaler Quatsch ist, kann ich drauf verzichten. Mit Vergnügen.

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Samstag, 29. Juni 2013
Nichts dabei.
Es ist doch letztlich nichts dabei, menschlich zu sein, wütend, egoistisch, traurig, verärgert, verletzt - lebendig.

I knew that you would come as soon
As I lay myself bare

So here I am, I've got nothing to wear
Not even an image,
You've got nothing to scare
You might not like that
I'm stripped to the skin
I've got nothing to lose and
You've got nothing to win
As I lay myself bare


Rebekka Bakken

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Dienstag, 7. Mai 2013
Die verfluchte Antenne
Meistens haben die Dinge, die ich intuitiv fühle, Hand und Fuß. Früher oder später stellt sich heraus, dass es sichere Grundlagen für mein Bauchgefühl gibt. Ich bin in der Lage, Stimmungen, Zwischentöne und Subtext schnell und treffend wahrzunehmen.

Schön und gut. Das heißt noch lange nicht, dass ich diese Fähigkeiten auch immer zu schätzen weiß, ihnen vertraue und mit ihnen glücklich bin, im Gegenteil. Es nervt mich manchmal ganz schön. Alles hat eine Bedeutung, jeder Satz, jede Äußerung, jede kleine Mimik oder Gestik. Ich kann nichts auf die leichte Schulter nehmen, nichts ist nebensächlich oder nur so daher gesagt, nichts ist unbeschwert und ohne besondere Bedeutung, alles wiegt, was es wiegt und nichts weniger. Ich empfinde das als Bürde.

Sich ständig in Habacht-Stellung zu befinden ist so anstrengend und orientiert sich so sehr an den Erwartungen, die andere möglicherweise an mich richten könnten, dass ich unterwegs vergesse, mich um mich selbst zu kümmern. Das stimmt natürlich nur vordergründig. Natürlich kümmere ich mich mit diesem Verhalten vorrangig um mich selbst: Ich sorge dafür, Emotionen anderer bereits vor ihnen selbst zu erkennen und Konfrontationen zu vermeiden, die mir in irgendeiner Art und Weise Schaden zufügen könnten. Ich selbst bleibe zwar geduckt im Hintergrund, aber das tue ich, damit mir nichts geschieht. Diese Art vorauseilenden Lesens in anderen sorgt dafür, dass mein Rücken niemals gerade ist. Ich würde gern herausfinden, wie ich diese Fähigkeit für mich selbst nutzen kann, ohne als empfindliche Mimose mit zu langen Antennen zu gelten.

Erst jüngst wieder haben sich meine Wahrnehmungen bestätigt, und es hat sich herausgestellt, dass jemand genau das von mir dachte, von dem ich dachte, dass er es von mir dachte. Hätte ich viel eher mit meiner Wahrnehmung nach außen gehen sollen? Welche Möglichkeiten zur Selbstbehauptung (als Alternative zum Selbstschutz) hätte mir das eröffnet? Hätte ich mich dann von vornherein besser gefühlt als jetzt, da ich mich in die Defensive gedrängt fühle?

Ich möchte die Antenne von einem Fluch in einen Segen verwandeln. Sie hat einen guten Draht. Ich möchte mich verabschieden von dem Satz, der mir immer noch in den Ohren gellt: "Aber das ist doch nur ein Gefühl!" Nein, es ist nicht nur ein Gefühl, es ist nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste. Es ist im Gegenteil das, was zählt. Ich ziehe nur die falschen Schlüsse.

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Samstag, 13. April 2013
Selbst-Findung
Immer mal wieder stolpere ich über den Umstand, dass der englische Begriff "self-conscious" eine erheblich breitere Palette an Bedeutungen abdeckt als das deutsche "selbstbewusst". Verlegenheit, Gehemmtheit, Befangenheit, die aus dem Bewusstsein über das eigene Selbst erwächst, das ist ein spannendes Phänomen. Den Fokus auf die eigene Außenwirkung zu setzen, hat also bei weitem nicht nur positive Aspekte und wenig mit dem zu tun, was wir mit selbstbewusstem Auftreten verbinden. Bei uns hat das Wort "Selbstbewusstsein" eher schon manchmal das Image des Übertriebenen, der Selbstüberschätzung und einer gewissen, daraus erwachsenden ungesunden Ich-Fixierung.

Das schoss mir durch den Kopf, als ich heute eine Dokumentation im Fernsehen sah, in der mehrere in ihrer Lebensmitte befindliche französische Frauen zu Wort kamen. Auf den ersten Blick war ich von ihnen allen fasziniert. Sie wirkten authentisch und bei sich, in weit größerem Ausmaß elegant und feminin, als das bei deutschen Frauen so den Anschein hat. So mit 40, 50 Jahren auszusehen und eine solche Ausstrahlung zu besitzen, halte ich für etwas Besonderes. Dann aber kippte mein Bild. Hinter dem strahlenden Lachen und der gepflegten Erscheinung lagen Berge und Berge von Selbstzweifeln, bis hin zur Verzweiflung. Im Laufe der Sendung machte sich in mir ein tiefes Mitgefühl breit für diese Frauen, weil ihre innerliche Zerrissenheit so deutlich hervorkam. Am deutlichsten bei der hübschen dunkelhaarigen Yasmina, die sich scheute, ein Medikament gegen ein neuerliches Aufbrechen ihrer Krebserkrankung zu nehmen, weil sie befürchtete, dass es sie dick machen und sie in der Folge ihren Lebensgefährten verlieren würde. Zwei Jahre waren die beiden zusammen, sie wohnte in seiner Wohnung, und sie, die eingangs so selbstbewusst wirkte, war eher, was man "self-conscious" nennen würde. Befangen sogar, alles erforderliche für die eigene Gesundheit zu tun, weil ihr Leben, das Heil ihrer Seele ganz deutlich von der Präsenz Thierrys in ihrem Leben abhing.

Gemeinsam haben die portraitierten Frauen, dass sie sich, in der Mitte ihres Lebens stehend, neu definieren wollen. Josette schwört mit großer Heftigkeit, niemals wieder einen Brotjob machen zu wollen. Yasmina sucht neue Möglichkeiten in ihren kreativen Illustrationen. Paule macht einen Lehrgang als Mediatorin. Sie alle resümieren über eingeschlagene Laufbahnen, über ihre Lebenswege, ihre Kinder und über Sinnfindung, Sinnstiftung. Eine von ihnen sagt: "Es ist so, als hätten die vergangenen zwanzig Jahre keinen Wert gehabt. Aber es muss doch irgendeinen Sinn im Leben geben!" Und Josette sagt: "Wenn Du nicht weißt, wofür Du geboren wurdest, hat Dein Leben keinen Sinn!"

Sinnfindung und Selbstfindung insbesondere von Frauen haben ja oft diesen Anstrich von Töpferkurs, von Midlife-Crisis und bisweilen auch den eines puren Luxusproblems von Frauen, die es sich leisten können, nichts zu müssen. Aber ich komme da gedanklich doch wieder auf Yasminas Schicksal zurück, das mich sehr erschüttert hat. Nicht allein die Tatsache, dass sie an Krebs erkrankte ist es, die mich da berührt, sondern der Umstand, dass sie sich so zwanghaft einer weiterführenden Behandlung verweigert. "Man muss sich pflegen, man muss auf sich achten, die Kleider, die Haare, die Atmung...", erzählt sie in die Kamera, während sie in einem Geschäft Rock und Bluse anprobiert. Thierry würde sie verlassen, wenn sie dicker wäre. Das glaubt sie. Yasmina achtet auf sich. Alles an ihr sieht gut aus. Es ist der leidende Zug um ihren Mund, der mich berührt. Den kann sie nicht wegpflegen. Sie sieht so aus, als wolle sie jeden Moment in bittere, heiße Tränen ausbrechen, diese aber mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht zurückhalten. Zu groß ist ihre Angst, zu entbehren, was sie definiert: den Mann an ihrer Seite. Größer noch, als die Angst, am Krebs zu sterben. Thierry indes bleibt bei all dem bemerkenswert unberührt. Als Yasmina 50 wird, hat Thierry sie verlassen. "Ich habe alles verloren!", sagt sie, "Mein Zuhause, meinen Mann, die Liebe!" Und sie lächelt.

Sie ist so "self-conscious". In der Hoffnung, dass sie alles an sich perfekt machen kann, so perfekt, dass sie jemanden findet oder hält, der ihr Leben definiert, ihr einen Rahmen gibt, sie begleitet, ihr ein Zuhause gibt. Mich erschreckt es, und ich erkenne ein wenig davon in mir wieder. Ganz ähnlich wie bei Paule, die ihren Beruf als Anwältin an den Nagel hängte, weil sie spürte, dass nicht einmal der Abschluss ihres Jurastudiums ihr gehörte, sondern ihrer Mutter, die damals - so empfand sie es - für sie entschieden hatte. Jetzt weiß sie nicht mehr, was sie machen soll und was sie näher zu sich selbst bringen könnte.

Wann sucht man sich selbst, wann hofft man, sich selbst zu finden? Wenn man sich selbst nie erkannt hat, sich selbst nie fühlen durfte oder sich unterwegs im Laufe des Lebens verloren hat? Wenn man Wege eingeschlagen hat, die man eigentlich nicht selbst gehen wollte? Wenn man den Sinn verloren hat? Irgendwie war allen diesen Frauen gemein, dass sie vage spürten, sich selbst verloren oder sich von sich selbst entfremdet zu haben. Das ist ein Gefühl, das ich nur zu gut kenne. "Self-consious" zu sein bedeutet dann in dem Zusammenhang im Grunde, dass man auf der Suche ist nach der Person, die man selbst eigentlich ist, sie zu entdecken aber nicht so recht wagt. Was man wird, orientiert sich an den Erwartungen anderer und zu einem ganz erheblichen Teil an der großen, inneren Not, die man spürt, die man aber nicht anzuerkennen und auszudrücken vermag. Bei Yasmina war es eine Kindheit und Jugend mit gewalttätigem Vater und Stiefvater, die sie letztlich davon abhielt, schwach und angreifbar (krank!) sein zu wollen in Thierrys Gegenwart. Ich kann es gut verstehen, dass Thierry diese Beziehung nicht weiterführen wollte. Ein anderer Mensch kann für den Selbstzerstörungsdrang seines Partners nicht die Verantwortung tragen, das ist zuviel der Last. Auch das kenne ich aus eigener Erfahrung.

Um wirklich zu seinem Selbst zu finden und dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, braucht es eine Menge Mut und Kraft. Sich selbst zu erkennen in dem ganzen Ausmaß der Not und Angst in der eigenen Geschichte, der Fehler, die man in sich trägt und der Chancen, die man verpasst hat, und schließlich doch in den Spiegel schauen zu können und sich nicht verbiegen und übertünchen zu wollen, das ist eine große Kunst. Belächelt oder nicht, Selbstfindung ist existenziell und geht letztlich über den Seidenmalkurs einer Empty-Nestlerin hinaus, der ja nur ein Symptom ist. Es ist das Forschen darüber, was man selbst braucht und wer man selbst ist, was einem jenseits aller vermeintlichen Sachzwänge Freude bereitet, was einen motiviert und brennen lässt. Wer sich seiner selbst wirklich bewusst ist, kann dem Leben eine Richtung geben. Aber alle portraitierten Frauen litten unter der großen Fremdbestimmung in ihrem Leben, seien es nun finanzielle Zwänge, seien es gesellschaftliche Vorgaben darüber, wie eine Frau zu leben hat, seien es Ehepartner, um derentwillen man zu viel toleriert hat, sei es die Selbstaufgabe für die Kinder. Aus diesem Korsett erwächst ein unbestimmter Hunger, die noch zur Verfügung stehende Lebenszeit anders zu füllen und sich selbst das Ruder zurück in die Hand zu geben.

Am Wochenende waren wir zu Besuch bei Freundin S. in Halle an der Saale. Wir verstanden uns prächtig und haben zwei ganz wunderbare Tage miteinander verbracht. Aber ich erinnere mich daran, wie in einem beiläufigen Satz etwas auftauchte, das mich stutzig machte. Aus einem Dialog zwischen S. und ihrem Lebensgefährten J. schien auf, dass S. einmal geäußert haben musste, sich nach dem "wilden Leben" zu sehnen, wie sie es ausdrückte. Mehr "Punk" wolle sie sein. Es gibt wohl kaum einen Menschen in meinem Umfeld, der definitiv weniger "Punk" ist als S.. Sie ist zuvorkommend, bisweilen sogar vorauseilend gehorsam, mit den Gedanken immer bei den Bedürfnissen anderer (sogar dann, wenn diese sie gar nicht äußern) - daran hatte sich auch jetzt nichts geändert. Ich weiß, woher das rührt. Ich weiß, wie sie aufgewachsen ist und dass sie es nur schwer erträgt, den Fokus weg von den anderen auf sich selbst zu richten. Trotzdem ist dann da immer wieder dieser subtile Wunsch nach dem "Wilden", der in ihr aufflackert. Ich weiß noch, wie sie auf der Hochzeit von A., auf der sie Trauzeugin war, in einem bodenlangen, knallroten Satinkleid erschien. Nicht, dass ihr das nicht gestanden hätte, aber sie ist in ihrem Alltag ganz anders, trägt höchstens gedämpfte Farben und eher konservative Schnitte, schminkt sich wenig bis gar nicht. Das rote Kleid ist für mich ein Sinnbild ihres Wunsches nach mehr Authentizität und weniger Vereinnahmung ihres Selbst durch andere. Vielleicht auch danach, endlich einmal aufzufallen und gesehen zu werden, nicht als Dienstleisterin und Quelle für andere, sondern als Person. Ich wünsche es ihr, das wilde Leben. Da schimmert er auf, dieser Hunger, und auch wenn aus meiner Hemdblusen tragenden Freundin S. wahrscheinlich niemals ein Punk wird (zum Glück, möchte ich meinen), hoffe ich für sie, dass sie es eines Tages verstehen wird, aus eigener Kraft diesen Hunger zu stillen.

Selbstfindung hat nichts mit Egoismus zu tun. Sie ist das logische Resultat der Annahme, dass das eigene Leben begrenzt und einzig ist. Daraus erwächst die Verpflichtung gegen sich selbst, herauszufinden, wer man ist und zu erfüllen, was man sich schuldig ist. Vielleicht ist das ein lebenslanger Prozess. Ich stehe gerade selbst wieder vor einer Kreuzung, an der es darum geht, welchen Weg ich einschlage und ob es mir gelingt, eine Balance herzustellen aus dieser Selbstverpflichtung und den Notwendigkeiten des Lebens. Ich finde es schwierig, den Blick abzuwenden von vermeintlichen Zwängen und hin zum Wollen. Würde es mir wirklich etwas ausmachen, wieder die Richtung zu wechseln und mich damit noch weiter von verinnerlichten Erwartungen (insbesondere der eigenen Eltern) zu entfernen? Würde es mir etwas ausmachen, zeitweise mit weniger Geld auskommen zu müssen, während ich Neues lerne und meine Zeit anders aufwende? Ich glaube nicht. Früheren Zeiten habe ich voraus, dass ich mich inzwischen besser kenne, meinem Selbst näher bin als noch vor einigen Jahren, und dass ich weiß, niemand kann mir das nehmen.

Was daraus erwächst, ist Selbstvertrauen. Ich mag das Wort "confidence". Es klingt erdig, warm und sicher.

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Freitag, 29. März 2013
Verluste, Gewinne
Heute nutzte ich den freien Tag zu einem Besuch bei Freundin I. Wie bereits so oft verbrachte wir ein paar wunderbare Stunden auf ihrem Sofa. Mit liebevoller Sorgfalt hatte sie allerhand leckere Kleinigkeiten auf einer Platte zusammengestellt, eine große Kanne Tee gekocht, und wir sprachen, und die Zeit flog. Solche Momente sind so voller Leben. Die gegenseitige Wertschätzung und tiefe Freundschaft zwischen uns ist etwas, das mich immer wieder überrascht und berührt. Verstehen ist immer zwischen uns, auch wenn wir uns lange nicht gesprochen oder gesehen haben. Es ist die Art unprätentiösen Umgangs miteinander, die ich insgesamt nur mit wenigen Menschen in meinem Umfeld erlebe. Es ist Freundesliebe. Ich fühle mich wohl, ich fühle mich beschenkt mit diesem Menschen, immer wieder aufs Neue.

Während der Fahrt in der Bahn musste ich oft schmunzeln. Der Zug war nicht sonderlich voll, hier und da waren Familien unterwegs mit kleinen Kindern. Auf dem Heimweg sah ich neben meinem Fenster draußen ein Großelternpaar auf dem Bahnsteig. Er deutete auf die Tür, Da sind sie!, ein Strahlen in seinen Augen und in ihren auch. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und ich sah die Freude der Zusammenkunft, den Vater mit den beiden strahlenden Kindern und die fröhlichen Großeltern an mir vorbeiziehen und freute mich ein bisschen mit.

Aber da ist auch ein bisschen Wehmut. Ja, ich bin mir sicher, auch die Augen meines Vaters strahlen so, wenn er seine Enkelkinder sieht. Auch meine Nichte und mein Neffe freuen sich vermutlich, wenn sie ihren Großvater, ihre Großmutter zu den Feiertagen sehen. Ich habe mich aus dieser Familie ausgeschlossen, es liegt also an mir, dass ich diese Freude nicht sehe, mich nicht mitfreue, sondern in der Distanz bleibe. Dennoch ist mir auch klar, dass diese Distanz für mich nötig ist. Und dass nicht alles, das nach außen unbefangen scheint, das auch tatsächlich ist.

Ich bleibe gespalten zurück, aber es geht mir gut mit dieser Gespaltenheit, eigenartigerweise. Es sind meine eigenen Entscheidungen, die dazu geführt haben, dass alles nun so ist, wie es ist, und es waren gute Entscheidungen. Für mich. So, wie sie nun einmal sind.

Da ist Traurigkeit darüber, dass die Leichtigkeit und aufrechte Freude, die man in manchen Familien sieht und erlebt, in meiner Herkunftsfamilie für mich nicht spür- und erlebbar waren und sind. Manches Mal war ich fassungslos über den selbstverständlich liebevollen Umgang, der innerhalb einiger Familien gepflegt wird, weil ich erst da begriffen habe, dass es auch anders geht. Offenbar ist es nicht notwendig, dass sich immer irgendwer oder oft sogar alle Beteiligten verbiegen, verleugnen, misstrauen und betrügen. Es geht tatsächlich auch anders. Dieses Anderssein trage ich immer mal wieder zu Grabe, auf dem Grabstein steht mein Familienname, da steht Hier nicht!, und mein Herz weint.

Wäre da nicht dieses Trotzdem, dieses wohltuende Gegengewicht, das mich die Möglichkeit und Vollendung eines aufrichtigen und liebevollen Umgangs im Kontakt mit anderen Menschen immer wieder neu erleben lässt, dann wäre das vielleicht nicht auszuhalten. Aber es ist, und es ist wirklich verdammt gut. Vor Jahren hätte ich das Ausmaß an Vertrauen und wechselseitiger Zugewandtheit mit den verschiedenen Menschen in meinem Leben im Traum nicht für möglich gehalten. Vielleicht konnte ich es auch bloß nicht zulassen. Aber jetzt ist es da.

Gewinne, Verluste, Verluste, Gewinne. Mir scheint, ich musste vieles erst verlieren und Verlust begreifen, bevor ich auch den Gewinn begreifen und annehmen konnte. Ich bin meinem Leben dankbar dafür.

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Montag, 10. Dezember 2012
Zuwider
Mir ist so einiges zuwider. Konsumrausch und Weihnachtsgesülze und Niedlichkeiten und Bussi-Bussi-Getue, auch außerhalb der Saison, und auch nicht erst seit gestern. Ich mag den Zuckerguss nicht, und falsche Fassaden und den Schein heiler Welt. Zwang zum bloßen Funktionieren. Zwang zum Erfolg. Die ewig gleiche Tretmühle für alle. Ignoranz, Gleichgültigkeit. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich nicht mag.

Bisweilen beschleicht mich aber auch der Verdacht, dass es gerade fürchterlich verbreitet ist, misanthropisch zu sein und alles und alle zu verabscheuen. Ich kenne das an mir selbst, dieses Widerlichfinden all dessen, was man als zu angepasst, süßlich, nett, harmonisch wahrnimmt (also so ziemlich alles). Man krankt an dieser Ablehnung, sie schmerzt ungeheuer, wird zur zweiten Haut, in der man sich trotz allem nie richtig zuhause fühlt. Zugleich verleiht einem das so eine Aura des Erhabenseins. Man ist der einzige, der erkennt, der sehen kann, wie widerlich alles eigentlich wirklich ist. Der Rest der Welt trägt Scheuklappen. Diese Dummköpfe! Verächtlichkeit macht sich in der eigenen Blutbahn breit wie warmes Gift, und man merkt nicht, wie es innerlich ätzt. Findet sich im Gegenteil gut dabei.

Diese Attitüde ist mir mittlerweile ebenfalls zuwider, beinahe mehr als alles andere. Sie verbeißt sich mit eisernen Kiefern in Abgrenzung und Abwehr - so sehr, dass sie jegliches Fühlen verbietet. Inzwischen habe ich heulen gelernt, habe ich mich herausgeschält, oft gehäutet. Etwas zu brauchen und zu mögen macht einen so viel angreifbarer als dauernde Ablehnung. Es stimmt, ich bin bedürftig - nach einem Zuhause, nach Sicherheit und Ruhe, nach Orientierung und Geborgenheit, nach den Anderen. Ich habe Licht, Luft, Wärme nötig. In dunklen Zeiten besonders, egal ob innen dunkel oder außen. Es fällt so höllisch schwer, das zuzugeben und nackt zu sein, verwundbar.

Der Unberührbare ist tot und ahnt es waffenstarr.

Meine Musik des Tages:
Bon Iver - Blindsided

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