Sturmflut
Mittwoch, 28. September 2011
anders.
Ich hatte immer eine Schwäche für Debatten. Es macht mir Freude, meine Meinung kundzutun und sie zu belegen, Argumente abzuwägen, dazuzulernen (und sei es, etwas über mich selbst) und auch, andere zu überzeugen und damit Recht zu behalten. Das ist sicheres Territorium, und auf meinen Geist kann ich mich verlassen.

Andererseits habe ich mich in so manche Diskussion schon hineingesteigert, wohl wissend, dass kein Blumentopf damit zu gewinnen war. Verbissen wie ein Kampfhund, die Kiefer fest aufeinandergepresst... Mensch, der andere muss doch einsehen, was für einen Schwachsinn er salbadert, wie dämlich und an den Haaren herbeigezogen seine Ansichten sind, wie mager seine Argumentation!!! Bis ich mich dann immer öfter zu fragen begann, warum ich mich eigentlich so verbeiße und warum es für mich so schwer wiegt, wenn andere sich in bestimmten Belangen offenkundig hochgradig irrational benehmen und nicht mal wissen, wieso eigentlich.

Versuche ich, etwas geradezurücken, was mal ungerade war? Versuche ich, mir die Menschen anzugleichen, andere auf meine Linie zu trimmen? Bin ich etwa süchtig nach Übereinstimmung, nach gleicher Gedankentaktung, nach Seelenverwandschaft? Wie eigenartig, dass es Menschen gibt, mit denen man im fast gleichen Rhythmus tanzt und an denen einen die kleinen Disharmonien nicht stören, sondern das ganze Gericht erst schmackhaft machen. Und dass es andererseits auch Menschen gibt, von denen man sich so zutiefst befremdet, so erschüttert und so gestört fühlt, dass die innere Ablehnung an ein Hassgefühl grenzt.

Klar, wir lieben, was uns ähnlich ist, was uns spiegelt und uns zeigt, dass wir - weil es andere wie uns gibt - in Ordnung sind. Aber ich versuche mich zu erziehen. Wenn in mir mehrere Tage nacheinander stumme Tiraden toben, dann stimmt irgendwas nicht ganz. Was sagt es mir über mich selbst, wenn ich innerlich bestimmte Menschen durch den Kakao ziehe? Wohl offensichtlich, dass ich einen oder mehrere sehr wunde Punkte habe und andere nicht sein lassen kann, was sie sind. Jeder glaubt an irgendwas, lebt auf eine bestimmte Weise, tickt genau so, wie er tickt und nicht anders. Einfach ziehen zu lassen, die mir nicht passen - das ist eine hohe Kunst, die ich wohl noch zu lernen habe. Braucht man die Ablehnung des andersartigen, um die eigene Position zu verfestigen? Muss ich mich als gewollt Kinderlose von der Lebenseinstellung einer Vollzeit-Mutter angegriffen fühlen, als Berufstätige von einer Nur-Hausfrau, als Atheistin von Tiefgläubigen? Und ist es nicht auch vermessen, sich selbst für einen Freigeist zu halten und andere für ihre Engstirnigkeit zu verabscheuen? Da hieße es doch, sich an die eigene Nase zu fassen.

Die große Frage ist: Warum? Kann ich denn nicht eigentlich meiner selbst sicher genug sein, um es einfach sein zu lassen? Kann ich nicht einfach zurückgelehnt sagen "Jeder nach seiner Façon!"? Oder gehört ein solcher Geburtsschmerz zum Selbstwerden und zur Positionsbestimmung wie die Späne zum Hobeln?

Mal sehen, wo ich da herauskomme.

Meine Musik des Tages:
Bird York - In the deep

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Freitag, 16. September 2011
Was ungesagt bleibt
Die Anonymität ist ein mächtiger Schutz, wenn man über persönliche Erlebnisse und Gefühle schreibt. Sie befreit, und daher lässt sich leichter die Wahrheit sagen.

Versieht man diese Wahrheiten mit einem Namen, dann wandeln sie sich. In üble Nachrede, Verleumdung, Beleidigung, in Missverständnisse und Rachefeldzüge. Ein Name stellt Öffentlichkeit her, wenn in den Augen anderer manches besser hinter Türen verschlossen bliebe. Mein Finger zeigte plötzlich auf die Stirnen konkreter Personen, ich sage "Du mieses Schwein!" oder "Ihr wart keine guten Eltern!" oder "Ich könnte Dich an die Wand nageln!" Mein Privatleben ein Waschsalon für schmutzige Wäsche.

Ich würde gern zu mir stehen, mein Gesicht aufrecht in die Welt halten, ich würde gern frei von der Leber weg sagen, wie wütend ich wirklich bin, wie sehr ich manche Charakterschwächen bestimmter Personen verabscheue, wer mich verletzt hat und was sich hinter Fassaden so abspielt. Ich bekam die Einladung, das zu tun - unter Nennung meines Namens. Aber dafür bin ich zu feige. Die Kämpfe, die dann folgen würden, will ich nicht ausfechten. Ich will mir nicht das Beleidigtsein, die Verletztheit anderer zusätzlich zu allem anderen in meinen Rucksack packen. Ich will mich nicht rechtfertigen müssen für das, was ich sage. Mir nicht unterstellen lassen, schuld zu sein an Problemen anderer, die meine Offenheit verursachen könnte.

Ich habe die Wahl: Ehrlich sein oder meinen Namen nennen. Ich bin lieber ehrlich.

Vielleicht kommt irgendwann eine Zeit, in der beides geht.

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Dienstag, 16. August 2011
Von Leichtigkeit und Schwere
Mit leichtem Kopf durch die Stadt gelaufen, eine Waffel mit Eis in der Hand, Musik in den Ohren, Sonnenschein im Gesicht. Irgendwie nehmen solche Momente zu, in denen ich präsent bin im Hier und Jetzt. Früher war das so selten und ich so verkrampft und beschwert durch bleierne Müdigkeit. Aber meine Stürze sind nicht mehr so tief, der Schmerz ist nicht mehr so zersetzend. Was hat sich verändert? Bin ich eine andere geworden, hat sich mein Blickwinkel verändert, sind es diese letzten Jahre voller Tränen und Arbeit an mir selbst, die das bewirkt haben?

Während ich da so an die warme Mauer gelehnt stehe und auf meinen Bus warte, läuft der Mensch an mir vorbei, der mir beim Selbstwerden half. Da ist der Mensch, dessen Blick mich küsste, der mir zeigte, sein zu dürfen. Während mir die Lebendigkeit die Kehle hinaufsteigt und ich mich so sehr eins fühle mit allem, schaut er auf seine Füße oder den Asphalt. Seine Schritte wirken schwer und müde, der Rücken, als trüge er eine tonnenschwere Last. Seine Linke hält er zur Faust geballt, er schaut nicht nach links und rechts, sieht nicht mich, sieht niemanden. So bin ich auch oft durch die Gegend geschlichen, und ich habe plötzlich ein fast schmerzhaftes Mitgefühl mit ihm. Später fährt mein Bus an seinem Fenster vorbei, und ich sehe ihn sitzen, mit geschlossenen Augen, zurückgelehnt in seinem Sessel, dem ich selbst so lang gegenüber saß.

Fast erscheint es mir unfair, dass ich mich so lebendig fühle, während er so erschöpft wirkt. Als hätte ich meine Lebensfreude aus seiner Präsenz gezogen und ihn seiner Ressourcen beraubt. Ich weiß, dass es nicht so ist und dass es wohl dieser Beruf ist, der nicht leicht zu tragen ist, der immer eigenes Hinterfragen und inneres Abgrenzen erfordert. Vielleicht hat er auch bloß schlecht geschlafen oder Stress gehabt, oder vielleicht sieht er auch ganz einfach nur nach außen anders aus als nach innen. Ich kann es nicht wissen. Ich weiß, säße ich ihm nun wieder gegenüber, dann würde er mich wohl fragen, warum mich das so sehr berührt und mir sagen, dass es nicht um ihn, sondern um mich geht - wie er es so oft getan hat. Dennoch habe ich das Bedürfnis, ein bisschen zurückzugeben von der Fülle, die er in mir geweckt hat. Vielleicht nur, um für einen Moment wieder mal das Blitzen in seinen sehr blauen Augen sehen zu dürfen. Er ist und bleibt in gewisser Hinsicht mein erster Mensch, auch wenn ich längst ohne ihn laufen und lachen kann. Das werde ich nie vergessen.

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Montag, 16. Mai 2011
Ich vermisse S.
Wir haben ungefähr sechs Jahre gemeinsam studiert. Ich erinnere mich noch gut, wie wir uns kennenlernten - wir saßen nebeneinander im Gebäude der Sozialwissenschaften auf einem Heizkörper, ein bisschen orientierungslos vor unserer ersten Veranstaltung. Sagten uns unsere Namen. Ich fand sie von Beginn an nett.

S. ist eine Person, die sofort Herzlichkeit aus allen Poren verbreitet. Sie ist fleißig, freundlich und aufmerksam. Wenn ich sie heute anrufe, dann klingt mir als erstes ihr glockenhelles Lachen in den Ohren und ein warmes "Hallo, meine liebe Sturmfrau!". Sie fragt, wie es mir geht, was ich mache und gemacht habe, sie ist ganz bei mir. Sie ist immer ganz bei anderen. Sie war auch in meinen finsteren Zeiten für mich da, fing mich auf, wenn ich wieder mal Angst hatte, alles nicht zu schaffen und davon überzeugt war, die totale Null zu sein. "Pass auf," sagte S., "du brauchst ja nur noch dies und das, und dann setzt du dich hin und schreibst es einfach. Du packst das! Du bist doch so gut!" Sie war krisenfest und verlässlich, immer lieb und immer präsent. Auch für alle anderen natürlich. Wenn es hieß, am Wochenende unentgeltlich im elterlichen Betrieb zu kellnern. Oder verzweifelten Frauen, die sie auf der Straße traf, neuen Mut zu geben. Oder sich zwischen Hauptgang und Nachtisch in der Mensa telefonseelsorgerisch um ihre kleine Schwester zu kümmern.

Irgendwann machte sie mit Bravour ihren Abschluss und plante ihren Fortgang. Sie landete in A., dann in T., wieder in A.. Manchmal, so erfuhr ich um drei Ecken von einer gemeinsamen Freundin, hundselend und einsam. Aber sie sagte nie ein Wort. Fing etwas an mit einem verheirateten Mann, der von seiner Frau mit dem besten Freund betrogen wurde und zwei Kinder hatte. Litt darunter, dass er nicht zu ihr stand und sich schließlich abwandte mit der Begründung, mit seiner Frau zur Eheberatung zu wollen. Litt darunter, dass sie verliebt war in den Partner einer Freundin, der zwar mit ihr auf Hotelzimmern Sekt trank, aber sie sonst am langen Arm hielt. Ich erfuhr erst Monate danach, dass sie überhaupt diese Dinge erlebt und darunter gelitten hatte, aber sie beteuerte sofort: "Eigentlich geht's mir gut, und ich bin auch schon drüber hinweg!" Ich bat sie, gut auf sich zu achten, bat sie, herauszufinden, was ihr gut täte, und das dann auch zu tun. Gab ihr manchen Rat, wenn sie mich ließ und sagte ihr, sie könne mich auch nachts um drei anrufen - was sie nie tat. Ich wünschte mir, ich hätte "um die Ecke" gewohnt, dann hätte ich sie in den Arm nehmen können.

Beiläufig erzählte sie mir, sie mache eine Verhaltenstherapie. Wir sprachen darüber, als sie mich mal besuchte, aber das Gespräch blieb an der Oberfläche. Ich hatte den Eindruck, "meine" S. würde dünner und durchsichtiger und war drauf und dran, zu verschwinden.

Dann tauchte ich eine Weile ab, beschäftigt mit meiner eigenen Seele und bisweilen unfähig, auch nur den Wahlknopf am Telefon zu betätigen. Was hätte ich irgendwem sagen sollen? Ich selbst war leer und voll zugleich und im Hier und Gestern auf einmal, nur den eigenen Horizont im Blick und froh darüber, unterwegs nicht zu ertrinken.

Als sie wieder anrief, erzählte sie mir, sie habe einen Burn-Out gehabt und sei krank geschrieben. Dieses Ereignis lag auch schon wieder seit Wochen zurück. Und eigentlich ginge es ihr wieder ganz gut, sie müsse halt sehen, wie sie zurechtkomme. Inzwischen arbeitet sie wieder. Sagt wieder nicht "Nein", nimmt wieder jedes Projekt an, lässt sich von ihrem Chef den Arm ausreißen und widmet sich liebevoll ihrem finanziell schlechter stehenden Lebensabschnittsgefährten (ich hoffe, es wird ein längerer Abschnitt, denn er scheint in Ordnung zu sein und der erste Mann, der überhaupt so nah an sie heran darf).

Am Wochenende wird sie mich mit ihm gemeinsam besuchen kommen. Ich habe Angst. Angst vor dem, was sich schon bei ihrem letzten Kontakt andeutete: Dass ich sie verliere. Sie vertraut sich mir nicht an, und seit ich selbst nicht mehr so hilfsbedürftig bin, scheint ihr Interesse ein wenig zu schwinden. Ich fühle mich manchmal wie ein Pflichtprogramm. Das soll nicht harsch klingen. Es macht mir nur Schmerzen. Es fühlt sich an, als sei da eine Glaswand, die es früher nicht gab. Ich weiß nicht, ob wir uns noch berühren. Ich würde gern, habe aber das Gefühl, was ich sage, prallt an einer inneren Barriere ab. Erzähle ich von mir, dann reagiert sie mit Gemeinplätzen, als habe sie auf einem Aphorismenlexikon geschlafen. Versteht sie mich noch? Verstehe ich sie? Unterscheiden sich unsere Lebenswelten zu sehr?

Ich vermisse S.. Es ist, als stünde ich am Strand und sie auf dem Schiff, das in Richtung Horizont verschwindet. Ich kämpfe mit mir, weil ich nicht weiß, ob ich sie ziehen lassen soll.

Ich bin hilflos und kann ihr nur sagen: Ich bin da, wenn Du mich brauchst. Und auch sonst.

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Freitag, 8. April 2011
Vertrauen
Mein Misstrauen ist mir im Laufe all der Zeit einfach so unter den Pelz gekrochen, ohne dass mir das je recht bewusst wurde. Erst langsam habe ich während der letzten paar Jahre erkannt, wie sehr ich mich früher abgekapselt habe. Alles, was mich ausmacht, habe ich zurückgehalten - ganz normale Lebensäußerungen, meine Vorlieben und Interessen, meine Probleme und Gefühle, meine Fehler, aber auch meine Vorzüge. Ich tue das heute noch oft, die Angst hegend, dass ich mit meiner Art nicht in Ordnung bin, andere störe, anecke.

Wie sich ein solches Verhalten anfühlt, und wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich erkennt, wie man tickt, das ist nur sehr schwer zu beschreiben. Fast reflexartig, wie eine Mimose, kann ich mir die Decke über den Kopf ziehen. Ich halte den Atem an, angespannt und aufmerksam, um herauszufinden, wieviel Ich ich mir leisten kann. Ich tat und tue das, ohne darüber nachzudenken. Es ist mir wie zweite Haut. Offenheit, Offenbarung, ich selbst sein - das war in höchstem Maße bedrohlich. Ich war (und bin es häufig noch immer) ein Sensibelchen, mit superempfindlichen Antennen für feinste Abweichungen in Wort, Mimik, Gestik, Tonfall und Habitus meines Gegenüber. Immer auf der Hut vor dem kleinsten Anzeichen der Zurückweisung. Der Preis: Ich bin eine Burg. Zu mir gelangt nur, wen ich lasse. Im Innern ist es kalt, klamm, dunkel und bisweilen sehr einsam.

Der Unterschied zu gestern ist, dass ich es weiß. Jetzt erobere ich neues Territorium und mache neue Erfahrungen. Ich bitte um Hilfe, wenn ich sie brauche. Ich spreche von dem, was mich beschäftigt. Ich wage es, mich nicht an den vermuteten Erwartungen anderer zu orientieren, sondern meine Schultern fallen zu lassen, die Beine hochzulegen und ich selbst zu sein. Ich wage es, meine Gefühle zu offenbaren. Immer öfter ist meine Seele nackt.

Was geschieht, ist eine Kettenreaktion. Je öfter ich mich öffne, um so deutlicher spüre ich, dass ich in mein inneres Gefängnis nicht wieder zurück möchte und kann. Vorsicht! mahnt meine Stimme im Inneren und bringt alte Verletzungen zurück ins Gedächtnis. Aber endlich, endlich erreicht mich auch, was andere mir entgegenbringen. Eigene Gefühle, Mitgefühl, viel Charakter und sehr viel Respekt. Jetzt, da ich nicht mehr mit der dauernden Bewachung meiner dicken Mauern beschäftigt bin, sehe und fühle ich plötzlich die eigene Menschlichkeit ebenso wie die anderer. Ich spüre, dass mir nichts geschieht und ich weiß auf einmal, dass ich wieder aufstehen kann, falls ich falle.

Ich finde mich unverhofft in einer Welt wieder, in der ein Name ein Geschenk sein kann statt ein Schimpfwort.

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Dienstag, 5. April 2011
Unerträglich
6,93 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Schon rein statistisch kann es also nicht sein, dass ich jeden leiden kann - aber ich kann nicht einmal jeden leiden, den ich kenne. Ich habe auch gar nicht den Anspruch, mit jedem und allen in Harmonie zu leben. Es gibt Leute, mit denen habe ich nur so viel Kontakt wie nötig und würde im Traum nicht darauf kommen, meine Freizeit mit ihnen verbringen zu wollen. Es gibt natürlich auch Menschen, von denen ich kaum genug bekommen kann und mit denen jede verbrachte Minute einen besonderen Wert besitzt, selbst dann, wenn man sich mal auf den Geist geht oder uneins ist.

In allen Fällen von persönlicher Abneigung kann ich aber die Grundlage des Gefühls recht gut benennen. Manche Menschen besitzen einfach Charaktereigenschaften, die ich als inkompatibel mit meinen empfinde. Andere Menschen finde ich unsympathisch, oder sie sind einfach nicht mein Typ. Das ist mir während des Studiums oft passiert: Ich treffe jemanden, mir werden Kommilitoninnen oder Kommilitonen vorgestellt, und ich empfinde sofort eine ganz tiefgehende Fremdheit und spüre, das ist nicht meine Welt. Damit kann ich umgehen.

Beispiel: Cecile. Cecile konnte ich vom ersten Augeblick an nicht ausstehen. Sie war ungeheuer affektiert und gewollt rotzig und provokant, äußerte sich herablassend über andere und stellte permanent heraus, als wie cool sie sich selbst empfand. Cecile war ein Mensch vom Typ "Übersieh mich bloß nicht!!", mit ungeheuer großer Klappe und dem Drang, sich dauernd in den Vordergrund zu stellen. Das Schicksal wollte es nun aber, dass durch lose Verbindungen Cecile im Freundeskreis hier und da immer wieder auftauchte. Ich mied sie, soweit ich konnte und fand sie einfach nur nervig. Aber ansonsten ließ mich Cecile weitestgehend kalt. Inzwischen habe ich schon fast vergessen, dass es sie in meinem Leben überhaupt mal gab (und habe sie nur für diesen Eintrag hier aus meinem Gedächtniskeller wieder heraufgeholt).

Einen Menschen gibt es allerdings, dessen Gegenwart setzt mich so sehr unter Strom, dass ich am liebsten weglaufen möchte. Wer er ist und wie er heißt, spielt hier gerade keine Rolle, ich kann aber Begegnungen mit ihm nicht aus dem Weg gehen. Wenn ich ihn reden höre, ist jedes einzelne seiner Worte für mich wie ein Gewehrschuss - ich schrecke jedes Mal zusammen, wenn er den Mund aufmacht. Der Klang seiner Stimme macht mich nervös und angespannt. Seine Sprachmelodie bringt mich auf die Palme und überfordert mich. Ja, es gibt auch tausend gute Gründe, ihn nicht zu mögen. Ich habe einfach nichts übrig für Leute, die dauernd einen auf "dicke Hose" machen müssen. Ich mag keine Dampfplauderer. Ich mag keine Angeber. Ich mag keine Fassadenmenschen. Ich mag seine Respektlosigkeit anderen gegenüber nicht. Er ist witzig, charmant, originell, nicht auf den Mund gefallen - und dieser Eindruck hält nach dem ersten Kennenlernen maximal etwa einen Monat an. Dann fängt seine Art allmählich an zu nerven. Es gibt an diesem Mann keinen Knopf zum Stummschalten. Es gibt ihn nur laut. Aber das erklärt einfach nicht, warum mich sein pures Auftauchen so aufbringt. Ich könnte mit ihm so verfahren wie mit Cecile, auch wenn beide vom Schlage "Nicht zu ignorieren!" sind. Aber es kratzt mich, es berührt mich, bedrängt mich und überschreitet meine Grenzen, sobald dieser Mensch am Horizont auftaucht. Es tut mir fast körperlich weh. Ich möchte ihm an die Gurgel gehen, ihn anschreien, er solle das Maul halten und verschwinden, damit ich ihn nicht sehen muss.

Alle interne Spurensuche war vergeblich. Verhaltensparallelen zu meinem Vater sind deutlich vorhanden, aber das war bislang die heißeste Spur, und es hat sich noch kein "Wie Schuppen von den Augen"-Effekt eingestellt. Anregungen?

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Mittwoch, 23. März 2011
Verweigerung
Der Begriff "Leistung" bringt mich innerlich auf die Palme. Noch mehr das Wort "leistungsbereite Kinder", denn diese scheinen in der heutigen Ellenbogen- und Konkurrenzgesellschaft das Zuchtziel vieler Eltern zu sein. Und wenn das noch nicht der Fall ist, dann spätestens, wenn irgendwelche selbsternannten Experten oder Tigermütter dies proklamieren. Dann schlägt das schlechte Gewissen zu, und das Kind wird gnadenlos zum "Early English" geprügelt, oder besser noch, zum Chinesischkurs. Schließlich dräut am Horizont ein elendes, verwahrlostes Leben mit Harz IV, wenn das Kind schon im Kindergarten keine angemessene Leistungsbereitschaft aufweist. Dabei geht es doch eigentlich eher um die Selbstverwirklichung der Eltern, nicht um die der Kinder.

Gestern verschlug es mich (wie so oft in eigener Sache) in die entsprechende Abteilung der Bibliothek, und ich stand mehr oder weniger fassungslos vor den Buchrücken, die sich mit Titeln schmückten wie "Garantiert auf's Gymnasium", "Ist mein Kind hochbegabt?" und "Null Bock auf Lernen? So fördern Eltern die schulische Leistung ihrer Kinder". Gesucht hatte ich nach einem Schriftstück, das mir die Entstehung und Ursachen von sogenannten Lernschwierigkeiten aus psychologischer Perspektive genauer erläutern könnte - Fehlanzeige. Statt dessen haufenweise Traktate, die besorgte beziehungsweise ehrgeizige Eltern dazu befähigen sollten, den Nachwuchs zum erwünschten Lernerfolg zu bringen. Nicht, dass ich Lernerfolg per se verwerflich finde. Lernen kann Spaß machen, und erfolgreich zu sein ist immer schöner, als wie der Ochs vor'm Berg zu sitzen. Aber ich habe genug eigene Erfahrungen in diesem Sektor gemacht, um zu wissen, wie sich Druck auf das ganze spätere Leben auswirkt und dass es beileibe nicht immer der holde Wunsch nach dem kindlichen Glück ist, der die Eltern treibt. Vielleicht bin ich deshalb bei diesem Thema auf Krawall gebürstet.

Ich war nie schlecht in der Schule. Außer vereinzelten Fünfen in Randbereichen wie Physik und Chemie (und ich glaube einer einzelnen Sechs) habe ich mich ganz gut gehalten. Dennoch gab es Phasen, in denen ich aus dem gewünschten Rahmen abrutschte in nurmehr ausreichende Gefilde, was man denn auch treffend als Leistungsabfall wahrnahm, aber nicht weiter nach den Ursachen forschte. "Du bist doch nicht dumm!" war die Hauptaussage meiner Mutter, und manchmal klang sie sogar eher fragend. "Ich habe eingesehen, dass es besser ist, zu lernen!" schrieb ich als Mädchen in mein Tagebuch - so als sei das eine Frage von vernunftsmäßiger Einsicht. Wenn ich nun tatsächlich nicht dumm war, wie meine Mutter mutmaßte, dann blieb nur noch die Variante mit der Faulheit. Ich strengte mich wohl einfach nicht genug an. Auf mich prasselten Fragen und Phrasen ein. "Wie willst Du das denn schaffen?" "Wieso hast Du Dich nicht hingesetzt und was dafür getan?" "Willst Du Nachhilfe?" "Reiß Dich doch mal zusammen!" Und am schönsten: "Werd bloß nicht so wie Dein Onkel! Der war auch nur faul, der hätte auch gekonnt, wenn er gewollt hätte!"

Was ich daraus mitgenommen habe, war die folgende Grundbotschaft:
"Wenn es schiefgeht, bist Du selbst Schuld, weil Du Dich nicht genug angestrengt hast. Wenn es gut läuft, war es schieres Glück. Oder der Stoff war leicht. Jedenfalls hast Du das nicht verdient. Und es hätte noch besser laufen können, wenn Du noch mehr dafür getan hättest."

Als ich im Studium meine Zwischenprüfung absolviert hatte (nach 20 Sitzungen mit dem universitätseigenen Psychologen wegen meiner Prüfungsangst) und meine Profs mir in Politologie eine glatte 1 gaben, erzählte ich meinen Eltern nichts davon. Statt dessen fragte ich mich, ob ich diese Benotung denn wohl verdient hätte oder ob sie mir nicht aus reiner Sympathie geschenkt worden war.

An meinem Abschluss kaue ich noch immer - ich bin und bleibe die ewige Studentin. Neulich las ich erstmalig vom "self-handicapping". Laut Wikipedia kurz zusammengefasst: "Self-handicapping is described as an action or choice which prevents a person from being responsible for failure." Für mich bedeutet das: Ich sabotiere mich selbst, indem ich gar nicht erst versuche, eine Leistung zu erbringen. Denn egal, ob ich die Herausforderung meistern würde oder nicht, ich bin auf jeden Fall davon überzeugt, dass das Ergebnis "failure" sein wird, und das verkraftet mein Selbstbewusstsein nicht. Die Verweigerung, die mein Inneres leistet, ist ein Schutz vor längst vergangenen Abwertungen. Dieser Teil in mir sagt: Verantwortung für meine Fehlerhaftigkeit und mein Versagen (die in diesem Fall noch nicht einmal feststehen!) kann ich nicht übernehmen, weil ich mit dieser Fehlerhaftigkeit nicht leben könnte. Denn wer Fehler macht, den liebt man nicht. Nur wer leistet, wird dafür auch geliebt. Und bevor ich's riskiere, bleibe ich doch lieber auf der sicheren Seite... Dass dieses Verharren und Verweigern in sich schon ein Scheitern ist, trägt nicht zur Auflösung des Dilemmas bei, sondern verstärkt es eher noch. Denn nicht einmal versuchen kann ich es. Sogar dazu bin ich zu doof. Und los geht die Talfahrt in der depressiven Spirale.

Reines Verstehen war für mich immer der Anfang von Veränderung. Und ich beginne langsam zu begreifen, was meine Seele für Kapriolen geschlagen hat und noch schlägt, und warum das so ist. Das sind keine Manöver, die ich mir aus Bequemlichkeit ausdenke, keine Indizien für meine Inkompetenz und Faulheit. Es sind sehr clevere Strategien, die darauf abzielen, den inneren Kern nicht der völligen Infragestellung und Auflösung preiszugeben. Das ist logisch, denn andernfalls hätte ich mich vollkommen aufgeben müssen. Ich bin heute erstaunt darüber, was ich dennoch in der Schule geleistet habe, angesichts all der täglichen Angst und dem Druck und dem, was sonst noch geschah, außerhalb der Schule. Stolz auf diese Leistungen muss ich erst noch lernen. Denn ein Teil von mir sagt auch heute noch "Ich mach' noch lange nicht, was IHR wollt!", und genau das ist Leistung für mich: Was SIE wollen. Ich selbst will Wollen erst lernen. Geliebt werde ich inzwischen ohne Leistung (und lerne, diese Liebe anzunehmen). Vielleicht macht mich das frei dafür, das Erreichte auch wirklich anzuerkennen und zu genießen.

In den Referrers zu diesem Blog findet sich immer allerhand Spannendes, besonders im Bezug auf das Thema "Darf man Kinder schlagen?" Darin fand ich jüngst auch die gegoogelte Frage: "was machen wenn man von eltern geschlagen wird nur wegen schlechte schulnoten?" Ja, was machen?

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Freitag, 25. Februar 2011
Big sister is watching...
Wenn ich es recht bedenke, hatte ich lange Zeit regelrecht Angst vor meiner Schwester. Zwischen uns beiden herrschte scharfe Konkurrenz um das sparsame Wohlwollen der Eltern. Als Kind und Jugendliche und sogar manches Mal als junge Erwachsene habe ich meine Schwester oft von ganzem Herzen gehasst. Sie provozierte mich häufig und schaffte es auf unsagbar trickreiche und elegante Art, am Ende als Siegerin dazustehen (wenngleich das Siege zweifelhafter Natur waren, wie ich heute besser weiß). Sobald meine Eltern einmal aus dem Haus waren, delegierte sie sämtliche unangenehme Arbeiten an mich und konnte mich anschließend als stinkfaul hinstellen, wenn ich mich weigerte, ihren Kommandos Folge zu leisten. Sie hingegen hatte immer eine gute Ausrede.

Seit dem Weggang meines Vaters hat sie es nie ganz abgelegt, mich zu bevormunden. In ihrer Welt ist ganz klar definiert, was richtig und was falsch zu sein hat. Sie be- und verurteilt schnell - nicht nur mich, sondern alle Menschen um sich herum. Ohne Schubladen schafft sie es einfach nicht.

Ich habe mich ihr gegenüber eigentlich immer in der Defensive gefühlt. Ich habe mir oft anhören müssen, dass mein Verhalten, meine Art zu denken, mein Charakter falsch seien. Ich war immer diejenige, die Dinge tat, die man in ihren Augen nicht tun sollte, und sie gab mir durch ihre Art zu verstehen, dass sie mich unmöglich fand. Vor allem aber hatte sie die Definitionsmacht. Ihr Altersvorsprung sorgte dafür, dass sie mir drei Jahre an Argumentationstalent voraus hatte, und später, als das keine Rolle mehr spielte und ich sie faktisch längst eingeholt und überholt hatte, verharrte ich trotzdem mit dem Gefühl von Hilf- und Machtlosigkeit wie ein Kaninchen im Scheinwerfer. Egal, was ich sagte, sie ließ mich spüren, dass sie es besser wusste und dass ihre Realität diejenige war, an der man sich am besten auszurichten hatte. Es gab wenig Raum für anderes, und am meisten habe ich es gehasst, wenn sie mich - subtil, aber mit Nachdruck - für unzurechnungsfähig erklärte. Mal vor unseren Eltern, mal vor anderen Menschen, mal allein mit mir in einer Diskussion oder einem Streit.

In Gegenwart meiner Schwester fühlte ich mich noch lange klein, unterlegen, irgendwie lahm. Sie hat schließlich all das, was man gemeinhin anstrebt: Eine perfekte Familie mit inzwischen zwei süßen Kindern, denen sie die perfekte Mutter ist (und die sie im Gegensatz zu mir, die nicht "normal tickt", auch wollte). Den Beruf als Ärztin, den sie mit Eloquenz ausübt (und natürlich wusste sie gleich nach der Schule, was sie mit ihrem 1er-Abi anfangen wollte). Den perfekten Ehemann und perfekten Papa ihrer Kinder, der ebenfalls ein sehr engagierter Arzt ist. Sie ist ihren Eltern die perfekte Tochter, den Schwiegereltern die perfekte Schwiegertochter, immer eine vollendete Gastgeberin. Sie zieht bald in einen perfekten, architektonisch durchdesignten Neubau in einer gehobenen Gegend. Alles ist so rund, Probleme weist sie weit von sich, sie ist so ganz und gar...

...naja, eben doch nicht.


Es liegt inzwischen viel Distanz zwischen uns beiden, neben den so unterschiedlichen Lebenswelten auch begründet durch meinen Kontaktabbruch zu den Eltern. Früher haben wir immerhin noch gemeinsam über sie gelästert oder gejammert. Jetzt, wo es ernst ist, reden wir nicht mehr. Zwei Monate vor der Geburt ihres Sohnes erwähnte sie ihre Schwangerschaft und den Geburtstermin beiläufig in einer E-Mail. Von ihrem bevorstehenden Umzug weiß ich nur von der Rückseite einer Danksagungskarte, die sie an alle wohlmeinenden Geburtsgratulanten verschickte. Zwischen uns liegen weit mehr als nur 200 Kilometer, es sind Welten. Das ist an und für sich nicht weiter schlimm, wenn mir auch manchmal schmerzhaft bewusst ist, dass sie meine Schwester ist und sich Schwestern so viel mehr sein könnten, als wir es uns sind.

Die Distanz ermöglicht mir auch, sie endlich aus einer anderen Perspektive zu sehen, frei von Verstrickungen und als Mensch, der genau so gebeutelt ist von inneren Erschütterungen, Unsicherheiten, banalen Sorgen wie ich. In meiner teilweise hass- und angsterfüllten Nähe zu ihr sah ich das nicht, da sah ich nur ihre Gehässigkeiten und die Gefahr, dass sie mich mit ihren spitzen, subtilen und von außen kaum merklichen Bemerkungen tief verletzen könnte. Ich war nicht nur misstrauisch, ich war Misstrauen. Ich fühlte mich so minderwertig im Vergleich mit ihr und war zugleich hin- und hergerissen: Will ich so sein, oder will ich das genaue Gegenteil?

Jetzt sehe ich sie von ferne. Bemerkenswert daran ist, dass ich in Gedanken inzwischen weit weniger hart zu ihr bin, als ich es bisher war, und zwar in demselben Verhältnis, in dem ich auch zu mir selbst milder wurde. Gestern hatte ich sie am Telefon. Sie wirkte gehetzt und unruhig, beinahe manisch und redete wie ein Wasserfall, was ich gar nicht von ihr gewohnt bin. Sie fühlte sich an, als stehe sie vollkommen unter Strom, auf Hab-Acht-Stellung, in angespanntem Stress und stets bereit, kleinste Signale von mir aufzunehmen und eventuellen Subtext korrekt zu deuten.

Sie war so sehr außerhalb ihrer Mitte. Eigentlich war sie immer schon leicht verkrampft und angestrengt, aber gestern war es irgendwie schlimmer. Zuerst habe ich geglaubt, das sei auf meine eigene veränderte Wahrnehmung zurückzuführen, aber auch mein Mann registrierte den Unterschied.

Plötzlich wirkt meine große Schwester, die Heldin und Erfolgsfrau, klein und zerbrechlich auf mich. Früher hätte ich mich möglicherweise sogar darüber gefreut, denn es hätte mich erleichtert, weil es sie entthront und mir bewiesen hätte, dass sie nicht die allwissende Königin der Welt ist. Heute muss ich mich nicht mehr vergleichen. Der Kontaktabbruch hat dazu geführt, dass ich von der Meinung und Beurteilung meiner Eltern unabhängig geworden bin. Damit ist auch die ewige Konkurrenz zu meiner Schwester plötzlich obsolet. Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich ihr und ihrer Art zu denken nicht entspreche. Sie stellt keine Bedrohung für mich dar, und so muss ich nicht hinter jeder Ecke einen Schatten, hinter jedem Wort eine Spitze vermuten. Statt der kühl kalkulierenden, manipulativen Hassfigur sehe ich einen Menschen, der auf mich zutiefst verunsichert wirkt, kaum authentisch und hinter all dem Perfektionismus unendlich traurig. Ich spüre, dass sie meine Schwester ist. Ich denke daran, dass sie wahrscheinlich auch erlebt und erlitten hat, was mir geschah. Sie hat nur eine andere Strategie dagegen entwickelt. Es ist vollkommen logisch, dass sie ist, wie sie ist.

Meine Schwester beobachtet mich. Das kenne ich von mir. Mir selbst ging es ständig so: Auf jedes Detail achten! Darüber wachen, alle Erwartungen zu erfüllen! Dafür sorgen, dass einem keine einzige, noch so winzige Anspielung und Anforderung entgeht! Da sein, auf den Punkt! Mag sein, dass sie mich auch beobachtet, um mich zu beurteilen. Mag sein, dass sie eine Schwäche sucht. Aber hauptsächlich, so ist mein aktueller Eindruck, gibt sie sich unendliche Mühe, nichts falsch zu machen, damit kein Konflikt entsteht, keine Konfrontation. Damit der Deckel auf der Büchse der Pandora bleibt (auch wenn oder weil es innen zu toben scheint - wie der Gatte mein Gespür bestätigte).

Ich werde nicht versuchen, auf sie einzureden, wenn ich sie nächste Woche treffe. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ich muss mich nicht erklären, ich bin nicht in der Pflicht. Aber da ich auch nichts zu verlieren habe, kann ich offen sein. Das macht mich innerlich ruhig - ich weiß, wer ich bin. Vielleicht schaffen wir es ja, einander in den Augen der anderen zu finden, ohne zu fordern, sie möge verstehen, bejahen, so werden wie wir selbst. Ich wünsche es mir. Und ich habe Zeit, zu warten.

Meine Musik des Tages:
Rebekka Bakken - As I lay myself bare

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Dienstag, 15. Februar 2011
Fern der Realität
Eine Zeit lang habe ich geglaubt, ich sei zu direkt gewesen und habe in ein Wespennest gestochen. Ich stellte meiner Mutter brieflich vor Weihnachten einige Fragen nach der Affäre.

Die Affäre: Mein Vater betrog meine Mutter mit einer ihrer Freundinnen. Ich war sechs, meine Schwester neun, als mein Vater bei uns auszog. Alle hatten gesagt, ich sei so klein gewesen, ich hätte davon sicher nichts mitbekommen. Aber die Zeit war einprägsam.

Wie auch schon in den anderen Briefen an meine Mutter war der Zweck der Übung, an Informationen zu kommen, die eigenen Erinnerungen anzureichern mit denen meiner Mutter. Ich wollte Auskunft erhalten über ihre Gefühle und die Umstände. Meine Fragen haben sicher gewirkt wie ein Trommelfeuer, eine nach der anderen und ziemlich ohne Umschweife. Deshalb wunderte es mich nicht, dass lange keine Antwort kam. Erst letzte Woche lag dann ein fünf Seiten starker Brief in meinem Kasten.

Was habe ich erwartet? Ich weiß es gar nicht so recht. Aber ich hätte ahnen können, was kommt: Eine seitenlange Rechtfertigung. Nicht dafür, dass meine Mutter so fühlt, wie sie fühlt. Schon gar nicht für ihre Verletzung und deren Rechtmäßigkeit. Nein. Es ist eine Rechtfertigung für das Fremdgehen meines Vaters.

Sie beide seien unerfahren gewesen, hätten vor ihrer Ehe nur kurze Verliebtheiten gehabt (aus denen "nichts wurde" aufgrund religiöser Motive und Standesdünkel). Mein Vater habe wohl erst in der Ehe begriffen, wie gut er aufgrund seines Aussehens und seiner "temperamentvollen Art" bei den Frauen ankäme. Und auch das Alltagsleben mit Familie habe man sich vielleicht anders vorgestellt. Während sie, meine Mutter, voll und ganz in der "Familienarbeit" aufgegangen sei, müsse meinem Vater wohl der Gedanke gekommen sein: "Das kann es doch nicht gewesen sein!" Und dann auch noch meine dominante Großmutter, die mit ihnen lebte und die dem jungen Paar die Unabhängigkeit und Freiheit unmöglich machte...

Seine eigentlichen Motive seien einmal dahingestellt. Er hat mich darüber zur Genüge eingeweiht, mir mehr erzählt, als ich jemals hätte wissen wollen. Ich habe dazu meine eigene Theorie, die ihm sicher nicht gefallen würde.

Bemerkenswert an dem Brief ist die offensichtliche Realitätsferne meiner Mutter. Sie hat eine Menge hingenommen (wie es ihre Art ist, wohl in der Hoffnung, dass sich das Hinnehmen irgendwann einmal auszahlt - oder in dem Bewusstsein, dass es das schon tut). Sie nahm hin, dass auf dem Weg in den Familienurlaub nach Italien bei der besagten Frau und ihrem damaligen Verlobten noch einmal Halt gemacht werden musste. Sie nahm hin, dass er oft abends abwesend war und der Kontakt der Frau noch enger wurde, als sie mit ihrem Dann-Mann in die Nähe zog. Meine Mutter nahm ihren Mann als in der Ehe abwesend wahr und nahm es hin. Meine Mutter nahm hin, nahm hin, nahm hin. Und ihn schließlich wieder zurück, also noch mehr hin.

Zuvor kam es jedoch zum Eklat. Irgendeine Bekannte hatte es ihr erzählt, und sie schrieb mir weiter: "Viele wussten es, nur die eigenen Ehe-Partner nicht." Ich würde behaupten, es war nur einfach der Punkt gekommen, an dem auch die Ehepartner es nicht mehr ignorieren konnten. Nachdem meine Mutter von der Affäre erfahren hatte, gab es dauernd Streit zuhause. Diese Streitereien blieben mir in Erinnerung und haben mich niemals meine Angst vor schlagenden Türen und lautem Gebrüll verlieren lassen. Wie ein "2.-Wahl-Mensch" habe sie sich gefühlt, schrieb meine Mutter.

Ich begreife ihre Verletztheit, auch wenn es mir schwer fällt, mich in die Abhängigkeit zu denken und zu fühlen, die sie gelebt haben muss. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das will. Denn ich glaube, ich kann ohnehin diese Zeit nicht begreifen und nicht verstehen, wie es ist, so gestrig zu leben, wie sie es noch in den 70er-Jahren taten. Abendlicher Telefonterror machte meiner Mutter das Leben schwer, nachdem mein Vater ausgezogen war - ob es Männer oder Frauen waren, die da anriefen zum Zwecke anrüchiger Bemerkungen oder sich moralisch ereifernder Tiraden, das lässt meine Mutter offen. Sie hat mir einmal erzählt, wie sie im Dorf angestarrt wurde, als verlassene Ehefrau mit den zwei Kindern, und dass sie den Blick kaum ertragen hat. Komisch, war doch mein Vater der Fremdgänger.

Der jedenfalls scheint seine neue Freiheit genossen zu haben, während meine Mutter zuhause zum Heulen aufs Klo ging, damit wir nichts davon mitbekamen. Denn er schob während der Trennungszeit gleich noch eine "Bekanntschaft" hinterher, die ihm, so meine Mutter, "Erfahrungen gebracht" habe. Sie ihrerseits saß zur selben Zeit in der Praxis eines Psychologen, um ihre Gedanken zu ordnen.

Heute indessen, schreibt meine Mutter, sei alles ganz anders. Man sei reifer und toleranter miteinander geworden und nach vierzig Jahren Ehe werde es immer besser. Mein Vater habe gemeint, seine damalige Geliebte habe ihn nur benutzt und ausgenutzt, und sie, die betrogene Ehefrau, ärgere sich heute noch manchmal - darüber, dass sich eine Frau so gehen lassen und sich der Freundin mit den zwei kleinen Kindern gegenüber so übel verhalten habe.

Ich ließ den Brief im Wohnzimmer für meinen Mann zum Lesen liegen, bevor ich mich an dem Tag abends zum Tai Chi aufmachte. Als ich wiederkam, schüttelte er fassungslos den Kopf. Denn wir beide wissen: Mein Vater hatte nach dieser Liebschaft und seiner Rückkehr ins traute Heim noch weitere außereheliche Affären, mal länger, mal kürzer. Er traf sich auch mit jener Frau noch bis in meine Studienzeit hinein, also noch fünzehn bis zwanzig Jahre später. Er informierte mich darüber, er machte mich zu seiner Verbündeten. Ich frage mich manchmal, ob ich vielleicht noch irgendwo Halbgeschwister habe, von denen er möglicherweise selbst nichts weiß.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie groß die Angst meiner Mutter vor dem Verlassenwerden, dem materiellen "Notstand" und dem Alleinsein sein muss, dass sie ihre eigene Würde in diesem Ausmaß drangibt. Es ist ihre Entscheidung, die sie Tag für Tag immer neu fällt. Sie macht sich selbst etwas vor, also ist es auch kein Wunder, dass sie mir brieflich etwas vormachen muss. Die "gereifte" Beziehung zweier über 60 Jahre alter Menschen ist in Wirklichkeit infantil und narzisstisch, und zwar nicht nur auf Seiten meines Vaters, sondern auch auf ihrer. Sie beide wollen die Verantwortung nicht tragen. Besonders hübsch fand ich seine Aussage, die Geliebte habe ihn nur ausgenutzt und benutzt. Auf mich machte sein Reden über sie zu keinem Zeitpunkt diesen Eindruck. Und sehr hübsch auch, wie sich meine Mutter aus der Affäre zog, indem sie uns Kindern die Verantwortung für ihre Entscheidung übertrug, ihn "zurückzunehmen". Sie schrieb: "Deine Schwester kam aus dem Bett ins Wohnzimmer und bat "Mama, sag ja!", und dann kamst Du dazu, und es war gut so."

Mitnichten war es gut so. Auch im Gespräch hatte sie das schon mal angerissen: "Er kam doch dann auch nach hause, und danach war alles wieder normal!" Aber was in der Luft hängen blieb - spürbar für jedes fühlende Wesen - war ihre Bitterkeit, ihre unbearbeitete Wut, sein noch immer unbefriedigter Drang nach ständig neuer Bestätigung, sein unerfüllter Wunsch nach Vergebung, ihr Misstrauen. Wie oft hat sie sich bei mir beklagt, über jeden seiner Flirts, seiner Unachtsamkeiten und Gehässigkeiten ihr gegenüber. Wie oft hat er sich bei mir beschwert über ihre Kälte, Gleichgültigkeit und ihren Mangel an Selbstbewusstsein und Attraktivität, und geschwärmt von der Wärme und Echtheit anderer Frauen.

Wenn ich dieses Papier heute in der Hand halte, dann blicke ich in eine andere Welt. Es ist nicht mehr meine Welt, und ich bin über kaum etwas anderes so froh wie darüber. Ich habe lange gebraucht, um meine Angst vor Nähe abzubauen und mich anzuvertrauen, spürend, dass der andere bei mir bleibt, auch wenn ich unbequem und fehlerbehaftet bin, auch dann, wenn ich weine, auch dann, wenn ich für eine Weile nur mich selbst sehen kann und nicht funktioniere. Manchmal kann ich es heute noch kaum glauben. Aber darüber wundere ich mich nicht mehr.

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Dienstag, 25. Januar 2011
In too deep...
Manchmal komme ich um Aufräumarbeiten nicht herum. In meinem Zimmer stand noch eine Kiste mit allerhand Papieren drin, und ich brauchte den Platz. Ich hätte das Zeug einfach unter dem Vermerk "Nicht jetzt...!" auf den Dachboden verschieben können, aber mit dabei war ein großer Stapel Zeitschriften, den ich nicht da heraufschleppen wollte, und außerdem wusste ich nicht, ob noch etwas Wichtiges drin ist. Und auf der Kiste lag außerdem ein großer Stapel Papier, der ebenfalls unbedingte Aufmerksamkeit verlangte und schon regelrecht zu quengeln begann. Also habe ich alles ins Wohnzimmer getragen, Haufen gemacht, gelocht, geheftet, Aktenordner neu beschriftet, mehrere Kisten mit Altpapier gefüllt - kurzum: Ordnung gemacht. Durchaus auch erfolgreich.

Die unmittelbaren Folgen dieser Ordnungsaktion waren sichtbar und hätten mich eigentlich gut fühlen lassen können: Platz für das neue Sofa, nie wieder Lohnabrechnungen suchen, keine wackeligen Stapel mehr, alles Wichtige beieinander... Die nicht sichtbaren Folgen spürte ich indessen diffus drei Tage lang, bevor ich sie genauer in Augenschein nehmen und verstehen konnte. Ich hatte Kopfschmerzen und ein Gefühl, im falschen Film zu sein, und innerlich meinte ich, gar nicht richtig aufgeräumt zu haben. Ich fühlte mich fremd in meinen eigenen vier Wänden. Etwas stimmte nicht.

Vergangenheit in Kisten ist etwas, das einem wirklich den Tag verderben kann, und zwar schleichend, ohne dass man es wirklich greifen kann. Der Inhalt präsentierte mir meine eigenen Unfähigkeiten, mein Scheitern. Da waren Belege und Bescheinigungen für meine eigene Unzulänglichkeit, Mahnungen, die mich mit der Heftigkeit eines Holzhammers an meine Versäumnisse erinnerten. Wie Gerüche und Geräusche drängten sich Eindrücke wieder auf, die mich in die Vergangenheit hinabzogen, und das Heute spielte auf einmal gar keine Rolle mehr. Ich war wieder das Mängelexemplar, das nicht einmal die einfachsten Dinge hinbekommt (Formalitäten erledigen, Dinge rechtzeitig machen, Rechnungen zahlen, Ordnung halten). Während ich knietief in Papier watete, schrie eine Stimme in mir: "Na, da haben wir's ja wieder, Du Versagerin, Du Null, Du Niete!" Ich schämte mich in Grund und Boden, aber das war mir inmitten dieser Wühlaktion nicht klar.

Schlimmer noch. Wann immer ich mich danach fragte, was denn nun eigentlich los sei, sagte mir die Stimme in meinem Inneren: "An der Aufräumaktion kann es nicht liegen. So ein bisschen Papieresortieren bringt einen nicht derart durcheinander. Das kann gar nicht sein."

Drei Tage später, beim Spaziergang am Fluss, schmiegte ich mich im Dunkeln an meinen Mann und weinte seine Jacke nass. Da erst hatte ich begriffen, was mir so schwer auf den Schultern lastete, den Kopf und die Seele zerfraß. Erst, nachdem ich das verstanden hatte, konnte ich sagen: "Das ist vergangen!" Heute ist das Leben anders. Die Art, wie ich damals die Dinge erledigt habe, war meine einzige Möglichkeit, mich über Wasser zu halten. Mehr war nicht drin, weil ich so sehr damit beschäftigt war, zu überleben.

Es ist vorbei, es ist vorbei... - das ist der größte Trost, den es gibt. Ich gehe vorwärts, nicht rückwärts. Daran können auch Gefühlsspuren und Erinnerungen in Kisten nichts ändern. Gespräche und liebevolle Hände holen mich zurück in die Gegenwart. Das einzige, was ich tun muss, ist akzeptieren.

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