Sturmflut
Montag, 25. Januar 2010
Heimweh
Nichts gegen Schnee... Als es gestern abend nach mehreren Schmelztagen wieder zu schneien begann, da gefielen mir die glitzernden Flocken, die sich leise über alles legten. Spätestens heute gegen Mittag hatte ich das Bild dann aber wieder satt: Salz, Matsch, durchnässte Sohlen, Grau-in-Grau. Ich höre das Geräusch von Autoreifen auf feuchtem Asphalt, hier und da liegen noch ein paar angepappte, rostrote Böllerreste auf den Gehwegen. Alltag, jeden Tag Häuserreihen, dieselben Wege, dasselbe Grau, dieselbe Kälte.

Ich habe Heimweh. Ich werde jetzt richtig sentimental. Ich möchte auf meine Insel. Ich weiß, eigentlich müsste es Fernweh heißen, aber jedes Mal, wenn die Fähre im Hafen anlegt, ist das wie Nachhausekommen. Eben doch Heimweh. Bald nach dem Verlassen der Fähre verläuft sich die Menschenmenge, und es ist ruhig und weit. Ein paar Radfahrer sind unterwegs und der schwarzweiße Geländewagen vom Staatsbosbeheer.

Ich würde mir gern etwas Seeluft durch die Haare wehen lassen und endlos am Meer entlang laufen. Ich brauche das Liebliche nicht, ich habe immer mehr das Rauhe und Stürmische gemocht. Die Insel ist auch im Winter schön.

Es ist sehr schwer, zu erklären, warum man einen Menschen liebt. Es sind selten seine Eigenschaften, die man aufzählen und positiv bewerten kann, es ist nicht das Plus unterm Strich. Es ist Charakter, es sind Eigenheiten, einzigartige Merkmale, die nicht zwangsläufig immer glatt, schön, perfekt sein müssen – im Gegenteil. Mit Orten verhält es sich da nicht anders als mit Menschen. Schwer zu beschreiben, warum ein Ort Charakter hat. Man käme nicht weit mit einer Analyse, sie ist nicht fassbar, „meine“ Insel. Nähert man sich ihr mit dem Fährschiff, so ist sie bei oberflächlichem Hinsehen nichts weiter als ein Sandhaufen, gegen den die Nordsee anbrandet. Hier scheint nicht immer die Sonne, und die Menschen hier feiern keine dauernde Party.

Es dauert lang, um hinzukommen, so lang, wie bei keiner anderen der friesischen Inseln. Die Fähre muss, gebunden an die Gezeiten, lange Schlenker durch den Wattenschlick und mit der Fahrrinne den einen oder anderen Knick machen. Unterwegs kommt es einem so vor, als käme man nie hin, weil man ihr das Gesicht zwischendurch immer wieder abwendet. Aber irgendwann ist ihre Silhouette unverkennbar, selbst bei trübem Wetter.

Es gibt einiges, das nicht sehr romantisch wirkt an dieser Insel, ein potthässlicher Supermarkt zum Beispiel oder die in den Boden eingelassenen Glascontainer, oder das Hafenterminal, ein totaler Zweckbau. Auch hier treiben Tetrapaks im Meerwasser und Puppenköpfe, und manchmal landen hier ganze Containerladungen an - zuletzt waren es Marken-Turnschuhe, in rauen Mengen.

Trotzdem liebe ich den Sandhaufen. Ich liebe den Geruch der Dünen und die kleinen Apfelbäume, die in den Dünentälern wachsen. Ich mag den Kniepsand, der an den Waden prickelt, wenn man bloße Beine hat. Ich mag die kleinen Spaghettihäufchen von den Wattwürmern. Ich mag den morbiden Hauch, der über den Inselfriedhöfen liegt und die Inschriften, Segelschiffe und Totenköpfe auf den Steinen. Ich mag das rote Fischgrätpflaster in den Gassen. Ich liebe das Knattern der ausgefransten Flaggen im Wind. Ich mag es, wenn das Hochwasser bis an die zweite Mauer im Hafen steht und sie die Durchgänge mit Schotten schließen. Ich mag die Kiefern, die schwarz gegen den blauen Nachthimmel ragen. Ich mag heißen Snert und Kakao mit Sahne, wenn man von draußen reinkommt. Ich mag es, dass der idyllischste Ort auf der Insel den Namen "Doodemanskisten" trägt.



Ja, ja, ich weiß, ich habe wirklich Heimweh... Es könnte daran liegen, dass ich die Nase ziemlich voll habe von hier. Aber vielleicht auch daran, dass ich diese Insel vermisse wie einen lieben Freund, den ich lange nicht mehr gesehen habe und den ich seiner Eigenarten wegen so sehr mag. Und daran, dass mir das Meer immer irgendwie die Seele beruhigt.

Permalink



... früher