Sturmflut
Dienstag, 15. Februar 2011
Fern der Realität
Eine Zeit lang habe ich geglaubt, ich sei zu direkt gewesen und habe in ein Wespennest gestochen. Ich stellte meiner Mutter brieflich vor Weihnachten einige Fragen nach der Affäre.

Die Affäre: Mein Vater betrog meine Mutter mit einer ihrer Freundinnen. Ich war sechs, meine Schwester neun, als mein Vater bei uns auszog. Alle hatten gesagt, ich sei so klein gewesen, ich hätte davon sicher nichts mitbekommen. Aber die Zeit war einprägsam.

Wie auch schon in den anderen Briefen an meine Mutter war der Zweck der Übung, an Informationen zu kommen, die eigenen Erinnerungen anzureichern mit denen meiner Mutter. Ich wollte Auskunft erhalten über ihre Gefühle und die Umstände. Meine Fragen haben sicher gewirkt wie ein Trommelfeuer, eine nach der anderen und ziemlich ohne Umschweife. Deshalb wunderte es mich nicht, dass lange keine Antwort kam. Erst letzte Woche lag dann ein fünf Seiten starker Brief in meinem Kasten.

Was habe ich erwartet? Ich weiß es gar nicht so recht. Aber ich hätte ahnen können, was kommt: Eine seitenlange Rechtfertigung. Nicht dafür, dass meine Mutter so fühlt, wie sie fühlt. Schon gar nicht für ihre Verletzung und deren Rechtmäßigkeit. Nein. Es ist eine Rechtfertigung für das Fremdgehen meines Vaters.

Sie beide seien unerfahren gewesen, hätten vor ihrer Ehe nur kurze Verliebtheiten gehabt (aus denen "nichts wurde" aufgrund religiöser Motive und Standesdünkel). Mein Vater habe wohl erst in der Ehe begriffen, wie gut er aufgrund seines Aussehens und seiner "temperamentvollen Art" bei den Frauen ankäme. Und auch das Alltagsleben mit Familie habe man sich vielleicht anders vorgestellt. Während sie, meine Mutter, voll und ganz in der "Familienarbeit" aufgegangen sei, müsse meinem Vater wohl der Gedanke gekommen sein: "Das kann es doch nicht gewesen sein!" Und dann auch noch meine dominante Großmutter, die mit ihnen lebte und die dem jungen Paar die Unabhängigkeit und Freiheit unmöglich machte...

Seine eigentlichen Motive seien einmal dahingestellt. Er hat mich darüber zur Genüge eingeweiht, mir mehr erzählt, als ich jemals hätte wissen wollen. Ich habe dazu meine eigene Theorie, die ihm sicher nicht gefallen würde.

Bemerkenswert an dem Brief ist die offensichtliche Realitätsferne meiner Mutter. Sie hat eine Menge hingenommen (wie es ihre Art ist, wohl in der Hoffnung, dass sich das Hinnehmen irgendwann einmal auszahlt - oder in dem Bewusstsein, dass es das schon tut). Sie nahm hin, dass auf dem Weg in den Familienurlaub nach Italien bei der besagten Frau und ihrem damaligen Verlobten noch einmal Halt gemacht werden musste. Sie nahm hin, dass er oft abends abwesend war und der Kontakt der Frau noch enger wurde, als sie mit ihrem Dann-Mann in die Nähe zog. Meine Mutter nahm ihren Mann als in der Ehe abwesend wahr und nahm es hin. Meine Mutter nahm hin, nahm hin, nahm hin. Und ihn schließlich wieder zurück, also noch mehr hin.

Zuvor kam es jedoch zum Eklat. Irgendeine Bekannte hatte es ihr erzählt, und sie schrieb mir weiter: "Viele wussten es, nur die eigenen Ehe-Partner nicht." Ich würde behaupten, es war nur einfach der Punkt gekommen, an dem auch die Ehepartner es nicht mehr ignorieren konnten. Nachdem meine Mutter von der Affäre erfahren hatte, gab es dauernd Streit zuhause. Diese Streitereien blieben mir in Erinnerung und haben mich niemals meine Angst vor schlagenden Türen und lautem Gebrüll verlieren lassen. Wie ein "2.-Wahl-Mensch" habe sie sich gefühlt, schrieb meine Mutter.

Ich begreife ihre Verletztheit, auch wenn es mir schwer fällt, mich in die Abhängigkeit zu denken und zu fühlen, die sie gelebt haben muss. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das will. Denn ich glaube, ich kann ohnehin diese Zeit nicht begreifen und nicht verstehen, wie es ist, so gestrig zu leben, wie sie es noch in den 70er-Jahren taten. Abendlicher Telefonterror machte meiner Mutter das Leben schwer, nachdem mein Vater ausgezogen war - ob es Männer oder Frauen waren, die da anriefen zum Zwecke anrüchiger Bemerkungen oder sich moralisch ereifernder Tiraden, das lässt meine Mutter offen. Sie hat mir einmal erzählt, wie sie im Dorf angestarrt wurde, als verlassene Ehefrau mit den zwei Kindern, und dass sie den Blick kaum ertragen hat. Komisch, war doch mein Vater der Fremdgänger.

Der jedenfalls scheint seine neue Freiheit genossen zu haben, während meine Mutter zuhause zum Heulen aufs Klo ging, damit wir nichts davon mitbekamen. Denn er schob während der Trennungszeit gleich noch eine "Bekanntschaft" hinterher, die ihm, so meine Mutter, "Erfahrungen gebracht" habe. Sie ihrerseits saß zur selben Zeit in der Praxis eines Psychologen, um ihre Gedanken zu ordnen.

Heute indessen, schreibt meine Mutter, sei alles ganz anders. Man sei reifer und toleranter miteinander geworden und nach vierzig Jahren Ehe werde es immer besser. Mein Vater habe gemeint, seine damalige Geliebte habe ihn nur benutzt und ausgenutzt, und sie, die betrogene Ehefrau, ärgere sich heute noch manchmal - darüber, dass sich eine Frau so gehen lassen und sich der Freundin mit den zwei kleinen Kindern gegenüber so übel verhalten habe.

Ich ließ den Brief im Wohnzimmer für meinen Mann zum Lesen liegen, bevor ich mich an dem Tag abends zum Tai Chi aufmachte. Als ich wiederkam, schüttelte er fassungslos den Kopf. Denn wir beide wissen: Mein Vater hatte nach dieser Liebschaft und seiner Rückkehr ins traute Heim noch weitere außereheliche Affären, mal länger, mal kürzer. Er traf sich auch mit jener Frau noch bis in meine Studienzeit hinein, also noch fünzehn bis zwanzig Jahre später. Er informierte mich darüber, er machte mich zu seiner Verbündeten. Ich frage mich manchmal, ob ich vielleicht noch irgendwo Halbgeschwister habe, von denen er möglicherweise selbst nichts weiß.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie groß die Angst meiner Mutter vor dem Verlassenwerden, dem materiellen "Notstand" und dem Alleinsein sein muss, dass sie ihre eigene Würde in diesem Ausmaß drangibt. Es ist ihre Entscheidung, die sie Tag für Tag immer neu fällt. Sie macht sich selbst etwas vor, also ist es auch kein Wunder, dass sie mir brieflich etwas vormachen muss. Die "gereifte" Beziehung zweier über 60 Jahre alter Menschen ist in Wirklichkeit infantil und narzisstisch, und zwar nicht nur auf Seiten meines Vaters, sondern auch auf ihrer. Sie beide wollen die Verantwortung nicht tragen. Besonders hübsch fand ich seine Aussage, die Geliebte habe ihn nur ausgenutzt und benutzt. Auf mich machte sein Reden über sie zu keinem Zeitpunkt diesen Eindruck. Und sehr hübsch auch, wie sich meine Mutter aus der Affäre zog, indem sie uns Kindern die Verantwortung für ihre Entscheidung übertrug, ihn "zurückzunehmen". Sie schrieb: "Deine Schwester kam aus dem Bett ins Wohnzimmer und bat "Mama, sag ja!", und dann kamst Du dazu, und es war gut so."

Mitnichten war es gut so. Auch im Gespräch hatte sie das schon mal angerissen: "Er kam doch dann auch nach hause, und danach war alles wieder normal!" Aber was in der Luft hängen blieb - spürbar für jedes fühlende Wesen - war ihre Bitterkeit, ihre unbearbeitete Wut, sein noch immer unbefriedigter Drang nach ständig neuer Bestätigung, sein unerfüllter Wunsch nach Vergebung, ihr Misstrauen. Wie oft hat sie sich bei mir beklagt, über jeden seiner Flirts, seiner Unachtsamkeiten und Gehässigkeiten ihr gegenüber. Wie oft hat er sich bei mir beschwert über ihre Kälte, Gleichgültigkeit und ihren Mangel an Selbstbewusstsein und Attraktivität, und geschwärmt von der Wärme und Echtheit anderer Frauen.

Wenn ich dieses Papier heute in der Hand halte, dann blicke ich in eine andere Welt. Es ist nicht mehr meine Welt, und ich bin über kaum etwas anderes so froh wie darüber. Ich habe lange gebraucht, um meine Angst vor Nähe abzubauen und mich anzuvertrauen, spürend, dass der andere bei mir bleibt, auch wenn ich unbequem und fehlerbehaftet bin, auch dann, wenn ich weine, auch dann, wenn ich für eine Weile nur mich selbst sehen kann und nicht funktioniere. Manchmal kann ich es heute noch kaum glauben. Aber darüber wundere ich mich nicht mehr.

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