Sturmflut
Freitag, 25. Februar 2011
Big sister is watching...
Wenn ich es recht bedenke, hatte ich lange Zeit regelrecht Angst vor meiner Schwester. Zwischen uns beiden herrschte scharfe Konkurrenz um das sparsame Wohlwollen der Eltern. Als Kind und Jugendliche und sogar manches Mal als junge Erwachsene habe ich meine Schwester oft von ganzem Herzen gehasst. Sie provozierte mich häufig und schaffte es auf unsagbar trickreiche und elegante Art, am Ende als Siegerin dazustehen (wenngleich das Siege zweifelhafter Natur waren, wie ich heute besser weiß). Sobald meine Eltern einmal aus dem Haus waren, delegierte sie sämtliche unangenehme Arbeiten an mich und konnte mich anschließend als stinkfaul hinstellen, wenn ich mich weigerte, ihren Kommandos Folge zu leisten. Sie hingegen hatte immer eine gute Ausrede.

Seit dem Weggang meines Vaters hat sie es nie ganz abgelegt, mich zu bevormunden. In ihrer Welt ist ganz klar definiert, was richtig und was falsch zu sein hat. Sie be- und verurteilt schnell - nicht nur mich, sondern alle Menschen um sich herum. Ohne Schubladen schafft sie es einfach nicht.

Ich habe mich ihr gegenüber eigentlich immer in der Defensive gefühlt. Ich habe mir oft anhören müssen, dass mein Verhalten, meine Art zu denken, mein Charakter falsch seien. Ich war immer diejenige, die Dinge tat, die man in ihren Augen nicht tun sollte, und sie gab mir durch ihre Art zu verstehen, dass sie mich unmöglich fand. Vor allem aber hatte sie die Definitionsmacht. Ihr Altersvorsprung sorgte dafür, dass sie mir drei Jahre an Argumentationstalent voraus hatte, und später, als das keine Rolle mehr spielte und ich sie faktisch längst eingeholt und überholt hatte, verharrte ich trotzdem mit dem Gefühl von Hilf- und Machtlosigkeit wie ein Kaninchen im Scheinwerfer. Egal, was ich sagte, sie ließ mich spüren, dass sie es besser wusste und dass ihre Realität diejenige war, an der man sich am besten auszurichten hatte. Es gab wenig Raum für anderes, und am meisten habe ich es gehasst, wenn sie mich - subtil, aber mit Nachdruck - für unzurechnungsfähig erklärte. Mal vor unseren Eltern, mal vor anderen Menschen, mal allein mit mir in einer Diskussion oder einem Streit.

In Gegenwart meiner Schwester fühlte ich mich noch lange klein, unterlegen, irgendwie lahm. Sie hat schließlich all das, was man gemeinhin anstrebt: Eine perfekte Familie mit inzwischen zwei süßen Kindern, denen sie die perfekte Mutter ist (und die sie im Gegensatz zu mir, die nicht "normal tickt", auch wollte). Den Beruf als Ärztin, den sie mit Eloquenz ausübt (und natürlich wusste sie gleich nach der Schule, was sie mit ihrem 1er-Abi anfangen wollte). Den perfekten Ehemann und perfekten Papa ihrer Kinder, der ebenfalls ein sehr engagierter Arzt ist. Sie ist ihren Eltern die perfekte Tochter, den Schwiegereltern die perfekte Schwiegertochter, immer eine vollendete Gastgeberin. Sie zieht bald in einen perfekten, architektonisch durchdesignten Neubau in einer gehobenen Gegend. Alles ist so rund, Probleme weist sie weit von sich, sie ist so ganz und gar...

...naja, eben doch nicht.


Es liegt inzwischen viel Distanz zwischen uns beiden, neben den so unterschiedlichen Lebenswelten auch begründet durch meinen Kontaktabbruch zu den Eltern. Früher haben wir immerhin noch gemeinsam über sie gelästert oder gejammert. Jetzt, wo es ernst ist, reden wir nicht mehr. Zwei Monate vor der Geburt ihres Sohnes erwähnte sie ihre Schwangerschaft und den Geburtstermin beiläufig in einer E-Mail. Von ihrem bevorstehenden Umzug weiß ich nur von der Rückseite einer Danksagungskarte, die sie an alle wohlmeinenden Geburtsgratulanten verschickte. Zwischen uns liegen weit mehr als nur 200 Kilometer, es sind Welten. Das ist an und für sich nicht weiter schlimm, wenn mir auch manchmal schmerzhaft bewusst ist, dass sie meine Schwester ist und sich Schwestern so viel mehr sein könnten, als wir es uns sind.

Die Distanz ermöglicht mir auch, sie endlich aus einer anderen Perspektive zu sehen, frei von Verstrickungen und als Mensch, der genau so gebeutelt ist von inneren Erschütterungen, Unsicherheiten, banalen Sorgen wie ich. In meiner teilweise hass- und angsterfüllten Nähe zu ihr sah ich das nicht, da sah ich nur ihre Gehässigkeiten und die Gefahr, dass sie mich mit ihren spitzen, subtilen und von außen kaum merklichen Bemerkungen tief verletzen könnte. Ich war nicht nur misstrauisch, ich war Misstrauen. Ich fühlte mich so minderwertig im Vergleich mit ihr und war zugleich hin- und hergerissen: Will ich so sein, oder will ich das genaue Gegenteil?

Jetzt sehe ich sie von ferne. Bemerkenswert daran ist, dass ich in Gedanken inzwischen weit weniger hart zu ihr bin, als ich es bisher war, und zwar in demselben Verhältnis, in dem ich auch zu mir selbst milder wurde. Gestern hatte ich sie am Telefon. Sie wirkte gehetzt und unruhig, beinahe manisch und redete wie ein Wasserfall, was ich gar nicht von ihr gewohnt bin. Sie fühlte sich an, als stehe sie vollkommen unter Strom, auf Hab-Acht-Stellung, in angespanntem Stress und stets bereit, kleinste Signale von mir aufzunehmen und eventuellen Subtext korrekt zu deuten.

Sie war so sehr außerhalb ihrer Mitte. Eigentlich war sie immer schon leicht verkrampft und angestrengt, aber gestern war es irgendwie schlimmer. Zuerst habe ich geglaubt, das sei auf meine eigene veränderte Wahrnehmung zurückzuführen, aber auch mein Mann registrierte den Unterschied.

Plötzlich wirkt meine große Schwester, die Heldin und Erfolgsfrau, klein und zerbrechlich auf mich. Früher hätte ich mich möglicherweise sogar darüber gefreut, denn es hätte mich erleichtert, weil es sie entthront und mir bewiesen hätte, dass sie nicht die allwissende Königin der Welt ist. Heute muss ich mich nicht mehr vergleichen. Der Kontaktabbruch hat dazu geführt, dass ich von der Meinung und Beurteilung meiner Eltern unabhängig geworden bin. Damit ist auch die ewige Konkurrenz zu meiner Schwester plötzlich obsolet. Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich ihr und ihrer Art zu denken nicht entspreche. Sie stellt keine Bedrohung für mich dar, und so muss ich nicht hinter jeder Ecke einen Schatten, hinter jedem Wort eine Spitze vermuten. Statt der kühl kalkulierenden, manipulativen Hassfigur sehe ich einen Menschen, der auf mich zutiefst verunsichert wirkt, kaum authentisch und hinter all dem Perfektionismus unendlich traurig. Ich spüre, dass sie meine Schwester ist. Ich denke daran, dass sie wahrscheinlich auch erlebt und erlitten hat, was mir geschah. Sie hat nur eine andere Strategie dagegen entwickelt. Es ist vollkommen logisch, dass sie ist, wie sie ist.

Meine Schwester beobachtet mich. Das kenne ich von mir. Mir selbst ging es ständig so: Auf jedes Detail achten! Darüber wachen, alle Erwartungen zu erfüllen! Dafür sorgen, dass einem keine einzige, noch so winzige Anspielung und Anforderung entgeht! Da sein, auf den Punkt! Mag sein, dass sie mich auch beobachtet, um mich zu beurteilen. Mag sein, dass sie eine Schwäche sucht. Aber hauptsächlich, so ist mein aktueller Eindruck, gibt sie sich unendliche Mühe, nichts falsch zu machen, damit kein Konflikt entsteht, keine Konfrontation. Damit der Deckel auf der Büchse der Pandora bleibt (auch wenn oder weil es innen zu toben scheint - wie der Gatte mein Gespür bestätigte).

Ich werde nicht versuchen, auf sie einzureden, wenn ich sie nächste Woche treffe. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ich muss mich nicht erklären, ich bin nicht in der Pflicht. Aber da ich auch nichts zu verlieren habe, kann ich offen sein. Das macht mich innerlich ruhig - ich weiß, wer ich bin. Vielleicht schaffen wir es ja, einander in den Augen der anderen zu finden, ohne zu fordern, sie möge verstehen, bejahen, so werden wie wir selbst. Ich wünsche es mir. Und ich habe Zeit, zu warten.

Meine Musik des Tages:
Rebekka Bakken - As I lay myself bare

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Rotterdam Centraal Dagretour
Irgendwie sind wir immer beschäftigt mit Wenns und Danns und Plänen, die sich erfüllen können, wenn erst bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Bevor wir etwas haben oder tun können, das uns am Herzen liegt, müssen wir vor allem erst Zeit und Geld haben, es auch zu tun.

Sich darüber hinwegzusetzen, fühlte sich für mich reichlich eigenartig und fast schon ein bisschen fremd an, obwohl es eigentlich keine "große Sache" war. Am Mittwochmorgen in aller Herrgottsfrühe setzte ich mich in den Zug nach Rotterdam, um einen mir lieben Menschen zu treffen und endlich, endlich persönlich kennenzulernen. Sie lebt in der Schweiz und hatte in Belgien zu tun, und so schrie mir die Gelegenheit ins Gesicht: "Pack mich am Schopf! Sofort!!"

Jeder normale Mensch, der halbwegs beieinander ist, kann sich für zweieinhalb Stunden in den Zug setzen, um an einem wenig weit entfernten Ort jemanden zu treffen. Aber es war dennoch ein wunderbares Wagnis. Es war ein Tag, der sich anfühlte wie mindestens drei auf einmal. Nach so vielen Mails, Fotos und SMS war es etwas besonderes, sie in den Arm zu nehmen und ihre strahlenden Augen zu sehen, und ja, ein wenig aufgeregt war ich vorher auch. Es war spannend, nach Wochen und Wochen von Arbeit in immer der selben wintergrauen Kleinstadt und in den eigenen - zugegebenermaßen behaglichen - vier Wänden endlich mal etwas anderes zu sehen, auch wenn es in der Hauptsache Graffitys, Baustellen, vermatschte Kleingärten und verwehter Müll an der Bahntrasse war. Es war schön, einmal wieder eine andere Sprache zu sprechen und festzustellen, dass auch das geht und dass ich sogar recht gut Konversation machen kann.

Die Erwartungen an Rotterdam waren niedrig. Als ich das letzte Mal dort war, regnete es in Strömen, und ich hatte wenig Geld in der Tasche und viel Zeit herumzukriegen. Dieses Mal war es hell und bis auf ein paar schüchterne Schneeflocken trocken. Die Stadt war viel hübscher als vermutet und erinnert. Und ich war längst nicht so leutescheu wie beim letzten Mal Großstadt, auch wenn die Züge wegen der Krokusvakantie überfüllt waren.

Wir saßen in einem Restaurant nah der Erasmusbrug und schauten zusammen über die grauen Wellen und redeten und redeten. Ließen uns von der Tram durch die Gegend schaukeln. Redeten noch mehr, hätten ewig reden können. Am frühen Abend fuhren unsere Züge in unterschiedliche Richtungen davon, wir winkten einander und waren schließlich andere Menschen als zuvor.

Mich berauscht mein Vertrauen. Nicht nur die Tatsache, dass das Vertrauen in diesen Tag gerechtfertigt war und nicht enttäuscht wurde, weder von Menschen noch von Orten - was zugegebenermaßen eine schöne Erfahrung war. Sondern hauptsächlich, dass ich es einfach getan habe, dass es keine Wenns und Danns gab, die mich davon abhielten und dass ich spüren konnte: Ich kann... Fortgehen, zurückkommen, verabschieden, willkommen heißen und geheißen werden. Es reicht einzig und allein, dass ich es will. Der Dank dafür war ein Tag wie ein großes Geschenk, einfach so.

Die Musik dieses speziellen Tages:
Bløf - Mooie dag

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