Sturmflut
Dienstag, 16. August 2011
Von Leichtigkeit und Schwere
Mit leichtem Kopf durch die Stadt gelaufen, eine Waffel mit Eis in der Hand, Musik in den Ohren, Sonnenschein im Gesicht. Irgendwie nehmen solche Momente zu, in denen ich präsent bin im Hier und Jetzt. Früher war das so selten und ich so verkrampft und beschwert durch bleierne Müdigkeit. Aber meine Stürze sind nicht mehr so tief, der Schmerz ist nicht mehr so zersetzend. Was hat sich verändert? Bin ich eine andere geworden, hat sich mein Blickwinkel verändert, sind es diese letzten Jahre voller Tränen und Arbeit an mir selbst, die das bewirkt haben?

Während ich da so an die warme Mauer gelehnt stehe und auf meinen Bus warte, läuft der Mensch an mir vorbei, der mir beim Selbstwerden half. Da ist der Mensch, dessen Blick mich küsste, der mir zeigte, sein zu dürfen. Während mir die Lebendigkeit die Kehle hinaufsteigt und ich mich so sehr eins fühle mit allem, schaut er auf seine Füße oder den Asphalt. Seine Schritte wirken schwer und müde, der Rücken, als trüge er eine tonnenschwere Last. Seine Linke hält er zur Faust geballt, er schaut nicht nach links und rechts, sieht nicht mich, sieht niemanden. So bin ich auch oft durch die Gegend geschlichen, und ich habe plötzlich ein fast schmerzhaftes Mitgefühl mit ihm. Später fährt mein Bus an seinem Fenster vorbei, und ich sehe ihn sitzen, mit geschlossenen Augen, zurückgelehnt in seinem Sessel, dem ich selbst so lang gegenüber saß.

Fast erscheint es mir unfair, dass ich mich so lebendig fühle, während er so erschöpft wirkt. Als hätte ich meine Lebensfreude aus seiner Präsenz gezogen und ihn seiner Ressourcen beraubt. Ich weiß, dass es nicht so ist und dass es wohl dieser Beruf ist, der nicht leicht zu tragen ist, der immer eigenes Hinterfragen und inneres Abgrenzen erfordert. Vielleicht hat er auch bloß schlecht geschlafen oder Stress gehabt, oder vielleicht sieht er auch ganz einfach nur nach außen anders aus als nach innen. Ich kann es nicht wissen. Ich weiß, säße ich ihm nun wieder gegenüber, dann würde er mich wohl fragen, warum mich das so sehr berührt und mir sagen, dass es nicht um ihn, sondern um mich geht - wie er es so oft getan hat. Dennoch habe ich das Bedürfnis, ein bisschen zurückzugeben von der Fülle, die er in mir geweckt hat. Vielleicht nur, um für einen Moment wieder mal das Blitzen in seinen sehr blauen Augen sehen zu dürfen. Er ist und bleibt in gewisser Hinsicht mein erster Mensch, auch wenn ich längst ohne ihn laufen und lachen kann. Das werde ich nie vergessen.

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