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Dienstag, 11. Oktober 2011
Gemischte Gefühle
Am 11. Okt 2011 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Bevor mir mein Kopf irgendwas über den Zustand meiner Seele sagt, sagt es mir mein Körper. Oder vielleicht eher noch: Bevor mein Kopf zuhört, muss erst der Körper mit dem Holzhammer kommen, damit der gesamte Mensch glaubt, dass irgendwas im Busch ist.
Bei kleineren Sorgen und Problemen äußert sich das in verspannter Nackenmuskulatur und den daraus folgenden Kopfschmerzen und gern auch nächtlichem Zähneknirschen. Wenn es schlimmer wird, kommt Schlaflosigkeit dazu. Aber am heftigsten ist es, wenn die Migräne zuschlägt.
Das tat sie dann auch, am Freitag. Ich hatte gerade erst eine Stunde lang gearbeitet, da spulte sich das bekannte Programm ab. Blinde Flecken im Gesichtsfeld, Flimmern – weiteres Arbeiten am Bildschirm vollkommen ausgeschlossen. Da ließ ich mich nach hause fahren, um in sicherem und ruhigen Rahmen den Rest der ganzen Angelegenheit abzuwarten. Den Tag schrieb ich ab und harrte unter der Wolldecke auf dem Sofa dem Einsetzen der Taubheit in den Händen, dem Aussetzen von Sprache und Denkvermögen und schließlich der totalen Erschöpfung und der bohrenden Kopfschmerzen. Am Abend bilanzierte ich dann gemeinsam mit dem Gatten: Die Aussicht auf den für Samstag bevorstehenden zweitägigen Besuch bei meiner Schwester hat wohl meine Seele mehr in Anspruch genommen, als mir bewusst war. Vielleicht auch, als ich mir eingestehen wollte.
Wir hatten diesen Besuch recht spontan vereinbart. Bekannte meiner Schwester hatten für das Wochenende abgesagt, und wir wollten die Kinder und auch meinen Schwager endlich mal wieder sehen. Außerdem hatten wir das neugebaute Haus noch nicht in Augenschein genommen. So war das alles ziemlich kurzfristig zusammengekommen.
Man kann sich fragen, was mich an so einem Besuch eigentlich so sehr umtreibt (und das tat ich auch selbst). Der Haken an der Sache ist, dass ich meiner Schwester einfach nicht traue. Am Telefon war sie entspannt und fast schon vergnügt, und das hatte mir gefallen. Aber tief in mir lauert eine Angst vor ihren verdeckten Spitzen und Gehässigkeiten. Ich kenne sie mein Leben lang, und ich habe mir mein Leben lang etwas aus ihr und ihren Ansichten gemacht. Sie war für mich oft Vaterersatz und hat lange Zeit definiert, wie "man" zu fühlen und zu denken hat. Dieser langjährigen Erfahrung gegenüber stehen nun erst neuerdings wenige Jahre voller großer persönlicher Entwicklungsschritte, die mich aber leider längst nicht immer dahin bringen, gelassen oder sogar gleichgültig ihr gegenüber zu sein. Diesen Umstand anzuerkennen, ist ja schon mal ein Anfang. Aber tief in mir ist diese Angst, die ähnlich beschaffen ist wie die vor meinem Vater - beide sind sie Menschen, die sich die Deutungshoheit über mein Leben angemaßt haben. Es ist zwar nicht mehr bestimmend, aber dennoch schmerzhaft, wenn sie mich mit diesem Blick anschaut und es sich für mich anfühlt, als würde sie mich im nächsten Atemzug irgendwo einweisen lassen wollen. Da muss ich erst noch vollständig begreifen, dass nicht sie es ist, die die einzig richtige Sichtweise auf die Welt hat, auch wenn sie das für sich in Anspruch nimmt.
Ich ging am Abend mit der Erleichterung ins Bett, den Migräneanfall überstanden zu haben. Die Kopfschmerzen blieben zwar zurück, aber ich hatte die Hoffnung, darüber hinwegzuschlafen. Den nächsten Tag starteten wir mit einem gemütlichen Frühstück bei einer alten Episode von "A bit of Fry and Laurie", die mich zum Lachen brachte und den Schmerz fast verscheuchte. Dann packten wir unseren Kram und fuhren los. Und sobald ich auf dem Beifahrersitz saß, legte sich ebenso pünktlich wie bilderbuchmäßig wieder ein neuer flimmernder Schleier über die an mir vorbeiziehende Landschaft. "Wir fahren trotzdem!" verkündete ich in Richtung Gemahl, nicht bereit, zu kapitulieren und die Angst sich weiter verfestigen zu lassen. Die zweieinhalbstündige Fahrt ging unter in allen schon geschilderten hässlichen Begleiterscheinungen. Unterwegs schloss ich die Augen. Als wir dann vor dem brandneuen Wohnhaus meiner Schwester parkten, war es endlich vorbei, und der sogar die Kopfschmerzen verzogen sich.
Das Wochenende war ein Gemisch aus Eindrücken, eher wie die Komposition eines Musikstückes oder Gemäldes denn zwei halbe miteinander verbrachte Tage. Ich hatte endlich mal Gelegenheit, meine Nichte und meinen Neffen etwas länger zu sehen. Die Kleine ist jetzt vier Jahre alt und ein zartes, liebes und ungeheuer folgsames Geschöpf, dass fast immer brav fragt "Darf ich...?", bevor es etwas tut, anfasst, isst oder vor die Tür geht. Berührt hat mich ihre Art der vertrauensvollen Kontaktaufnahme, wie ich sie auch bei meinen anderen Nichten erlebt habe und immer wieder erlebe. Da findet sich plötzlich eine kleine warme Hand in der meinen, das hohe Stimmchen fragt mich etwas, macht kluge Bemerkungen. Das Kind schaut mich aus großen Augen an, und ich finde, es gibt an ihm wenig bis gar nichts auszusetzen. Junior robbt inzwischen mit kaum enden wollender Begeisterung über den frisch verlegten Fliesenboden und ist nur durch Wände, Türen und Gitter zu stoppen. Er ist allerdings verquollen und hat rote Augen und eine Triefnase.
Hübsche, liebenswerte Kinder insgesamt. Auch, worauf ich von den Eltern wiederholt hingewiesen werde, sind die beiden typisch Mädchen, typisch Junge. Der Kleine sei ja motorisch so viel weiter als meine Nichte zur selben Zeit war, während sie verbal alle an die Wand gespielt habe. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht. Schon gerade nicht mit Medizinern, denn die wollen jeden Widerspruch auch gern gleich empirisch belegt haben, sonst fällt ihnen die Anerkennung von Einwänden eher schwer.
Wir sprechen viel über das Haus. Mir gefällt es. Ich würde die Bauweise nicht als innovativ bezeichnen, aber gemessen am Umfeld, in dem sie sich niedergelassen haben, ist natürlich ein modifizierter Bauhaus-Stil schon recht gewagt. Das finden auch die Nachbarn (die alle Siedlungshäuschen aus den Dreißigern mit Giebeln bewohnen), und die haben alle Möglichkeiten bis hin zu juristischen ausgeschöpft, um ihren Unmut kundzutun. Was ihnen aber nicht geholfen hat. Ich lerne daher auch von meiner Schwester: Man weiß (weil Ärzte ja miteinander sprechen), dass die Frau Nachbarin, der das Projekt so missfällt, unter einer bipolaren Störung leidet. Das erklärt natürlich alles. Auch, dass sie an einem Tag so griesgrämig schaut und nicht einmal die Tür öffnet, als sich die neu Zugezogenen vorstellen wollen, am anderen aber großherzig eine Betreuung der Kinder anbietet, falls Bedarf bestünde. Dieses Verhalten lasse sich vollständig aus ihrem manisch-depressiven Zustand ableiten. Den Zusammenhang erläutert man mir am Mittagstisch aber bloß lapidar und in knappen Sätzen dahingehend, dass Depressive nunmal nicht leicht mit Neuem fertig würden. Offenbar auch nicht mit Bauhaus-Häusern. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht.
Es folgen noch Spaziergänge mit den Kindern, Kaffeetrinken, Plaudereien, gemeinsame Mahlzeiten. Wir haben Fotos mitgebracht von Ibiza, die wir uns noch auf dem Fernseher anschauen, als die Kinder im Bett sind und mein Schwager zur Notarzt-Nachtschicht. Meine Schwester vererbt mir eine Jeans, die zu schmal für sie geworden ist, und ich bin dankbar, denn für lange Beine ist immer schwer etwas zu finden. Wir haben dieselbe Länge. Dieser Umstand beschränkt sich aber auf die Beine. Es wird nicht viel gehaltvolles geredet, und ich bin froh darüber, denn ich weiß, dass ich mich keinem Rechtfertigungszwang aussetzen möchte und keiner tiefen Schürferei. Sonst bekommt sie nämlich wieder diesen Blick. Andererseits spüre ich, sie würde gern gemeinsam mit mir über unsere Eltern lästern, wie wir es früher taten. Das geht nicht. Ich habe nicht mehr viel zu sagen, was unsere Eltern betrifft.
Irgendwann geht mir auf, wie freudlos dieses Umfeld eigentlich ist. Alles ist durchdacht, sortiert, geordnet, geplant. So sauber, wie es mit Kindern eben sein kann. Alles aufeinander abgestimmt. Aber Lachen höre ich wenig. Wenn mein Schwager mit der Kleinen scherzt, dann. Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine Schwester lebt und lacht oder vielleicht mal singt. Vielleicht ist sie nur in meiner Gegenwart so angespannt, aber so fühlt es sich nicht an. Eher so, als habe sie in ihrem Leben die Bremse angezogen. Als sei sie auf der Hut vor dem verwilderten, überwältigenden Leben, das links und rechts des Weges lauert. Wenn sie Anflüge von Humor zeigt, dann wirken sie entweder sehr herablassend oder fast schon kindlich-albern. Erwachsen und aufrecht fast nie, unbefangen auch nicht.
Außerdem bemerke ich, wie sehr sie sich abgrenzen müssen gegen andere, alle beide. Wie sie es unseren Verwandten übel nehmen, dass die das neue Haus nicht mögen. Das schreiben sie deren hinterwäldlerischer Art zu, die ja typisch für den Landstrich sei, aus dem wir gebürtig kommen. Gegen die Vorortbewohner, mit denen sie das gutsituierte Wohnviertel teilen, müssen sie sich auch abgrenzen. Das wiederum - so lassen sie durchblicken - seien alles Spießer. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht.
Ab und an überkommt mich durchaus auch Wohlgefühl. Immerhin, mit meiner Schwester auf dieser Basis zusammenzutreffen ist möglich, selbst wenn sich die Gespräche auf Smalltalk beschränken. Es fühlt sich so an, als habe ich noch eine Schwester. Innig waren wir nie, und wenn sich nicht ganz viel ändert, werden wir es auch nicht. Mir geht wieder Vienna Tengs "Antebellum" durch den Kopf: The borderlines we drew between us keep the weapons down, keep the wounded safe..." Das ist es, nicht mehr, nicht weniger.
Ihre Art hilft mir irgendwie auch, mich selbst anders und besser wahrzunehmen. Die Lebendigkeit, die ich bei ihr vermisse, spüre ich in mir.
Nur eines schmerzt wirklich.
Die Kleine sitzt am Esstisch, vor sich ein angeknabbertes Käsebrot und ein Obstpüree, und mag nicht mehr essen. Viel zu aufgekratzt, abgelenkt, überdreht. Sie hibbelt ein bisschen hin und her. Meine Schwester ist der Ansicht, sie sollte aufessen. Ihr Ton wird scharf. "Hör auf, herumzuzappeln! Du isst das jetzt auf!" Sie greift das Kind sehr hart am Arm und versucht wiederholt erfolglos, es zu füttern, das Brot in den kleinen Mund hineinzuzwingen. Die Augen der Kleinen werden feucht. "Mama, hör auf, Du tust mir weh!" sagt sie. In mir dreht sich alles um. Mein Mann und ich schauen uns an. Er sagt später: "Das war Schlagen ohne Schlagen." Ich verbuche es unter: Wie man eine Vierjährige erfolgreich demütigt. Als alle vom Tisch aufgestanden sind (sie hat das Brot natürlich nicht mehr gegessen), schnauzt meine Schwester das Mädchen an: "Ich glaube, Du willst mich ärgern!"
Seitdem beschäftigt mich diese Szene. Ich sehe sich die Geschichte wiederholen. In den Augen meiner Schwester sehe ich die Härte meines Vaters, gepaart mit der Kälte meiner Mutter. Ich sehe unter allem Perfektionismus und aller Beherrschtheit nach außen einen Schimmer ihres eigenen Schmerzes, den nun meine kleine Nichte zu spüren bekommt, weil meine Schwester ihn selbst nicht spüren will. Ich spüre Mitgefühl. Für beide. Ich weiß, wie es ist.
Am Sonntag abend fahren wir in die Dämmerung hinein nach hause, mit diesem Konglomerat an Gefühlen. Ich glaube, ich muss noch oft darüber sprechen, es immer neu widerkäuen, es hin- und herfließen lassen, nachschauen, ob sich dieses Bild verändert, ob es verblasst oder plötzlich etwas anderes zeigt. Ich bin nicht in der Lage, es zu bewerten. Es ist nicht gut oder schlecht, es ist jetzt gerade einfach da, und sieht höchst eigenartig aus. Durstig, traurig, einsam, gespannt, starr, unerreichbar, gläsern, monochrom. Die gemeinsam verbrachte Zeit wie eine Art seltsamer Kokon, den man eine Weile teilte, aber nicht wirklich bewohnte. Erkenntnisse werde ich posten.
Bei kleineren Sorgen und Problemen äußert sich das in verspannter Nackenmuskulatur und den daraus folgenden Kopfschmerzen und gern auch nächtlichem Zähneknirschen. Wenn es schlimmer wird, kommt Schlaflosigkeit dazu. Aber am heftigsten ist es, wenn die Migräne zuschlägt.
Das tat sie dann auch, am Freitag. Ich hatte gerade erst eine Stunde lang gearbeitet, da spulte sich das bekannte Programm ab. Blinde Flecken im Gesichtsfeld, Flimmern – weiteres Arbeiten am Bildschirm vollkommen ausgeschlossen. Da ließ ich mich nach hause fahren, um in sicherem und ruhigen Rahmen den Rest der ganzen Angelegenheit abzuwarten. Den Tag schrieb ich ab und harrte unter der Wolldecke auf dem Sofa dem Einsetzen der Taubheit in den Händen, dem Aussetzen von Sprache und Denkvermögen und schließlich der totalen Erschöpfung und der bohrenden Kopfschmerzen. Am Abend bilanzierte ich dann gemeinsam mit dem Gatten: Die Aussicht auf den für Samstag bevorstehenden zweitägigen Besuch bei meiner Schwester hat wohl meine Seele mehr in Anspruch genommen, als mir bewusst war. Vielleicht auch, als ich mir eingestehen wollte.
Wir hatten diesen Besuch recht spontan vereinbart. Bekannte meiner Schwester hatten für das Wochenende abgesagt, und wir wollten die Kinder und auch meinen Schwager endlich mal wieder sehen. Außerdem hatten wir das neugebaute Haus noch nicht in Augenschein genommen. So war das alles ziemlich kurzfristig zusammengekommen.
Man kann sich fragen, was mich an so einem Besuch eigentlich so sehr umtreibt (und das tat ich auch selbst). Der Haken an der Sache ist, dass ich meiner Schwester einfach nicht traue. Am Telefon war sie entspannt und fast schon vergnügt, und das hatte mir gefallen. Aber tief in mir lauert eine Angst vor ihren verdeckten Spitzen und Gehässigkeiten. Ich kenne sie mein Leben lang, und ich habe mir mein Leben lang etwas aus ihr und ihren Ansichten gemacht. Sie war für mich oft Vaterersatz und hat lange Zeit definiert, wie "man" zu fühlen und zu denken hat. Dieser langjährigen Erfahrung gegenüber stehen nun erst neuerdings wenige Jahre voller großer persönlicher Entwicklungsschritte, die mich aber leider längst nicht immer dahin bringen, gelassen oder sogar gleichgültig ihr gegenüber zu sein. Diesen Umstand anzuerkennen, ist ja schon mal ein Anfang. Aber tief in mir ist diese Angst, die ähnlich beschaffen ist wie die vor meinem Vater - beide sind sie Menschen, die sich die Deutungshoheit über mein Leben angemaßt haben. Es ist zwar nicht mehr bestimmend, aber dennoch schmerzhaft, wenn sie mich mit diesem Blick anschaut und es sich für mich anfühlt, als würde sie mich im nächsten Atemzug irgendwo einweisen lassen wollen. Da muss ich erst noch vollständig begreifen, dass nicht sie es ist, die die einzig richtige Sichtweise auf die Welt hat, auch wenn sie das für sich in Anspruch nimmt.
Ich ging am Abend mit der Erleichterung ins Bett, den Migräneanfall überstanden zu haben. Die Kopfschmerzen blieben zwar zurück, aber ich hatte die Hoffnung, darüber hinwegzuschlafen. Den nächsten Tag starteten wir mit einem gemütlichen Frühstück bei einer alten Episode von "A bit of Fry and Laurie", die mich zum Lachen brachte und den Schmerz fast verscheuchte. Dann packten wir unseren Kram und fuhren los. Und sobald ich auf dem Beifahrersitz saß, legte sich ebenso pünktlich wie bilderbuchmäßig wieder ein neuer flimmernder Schleier über die an mir vorbeiziehende Landschaft. "Wir fahren trotzdem!" verkündete ich in Richtung Gemahl, nicht bereit, zu kapitulieren und die Angst sich weiter verfestigen zu lassen. Die zweieinhalbstündige Fahrt ging unter in allen schon geschilderten hässlichen Begleiterscheinungen. Unterwegs schloss ich die Augen. Als wir dann vor dem brandneuen Wohnhaus meiner Schwester parkten, war es endlich vorbei, und der sogar die Kopfschmerzen verzogen sich.
Das Wochenende war ein Gemisch aus Eindrücken, eher wie die Komposition eines Musikstückes oder Gemäldes denn zwei halbe miteinander verbrachte Tage. Ich hatte endlich mal Gelegenheit, meine Nichte und meinen Neffen etwas länger zu sehen. Die Kleine ist jetzt vier Jahre alt und ein zartes, liebes und ungeheuer folgsames Geschöpf, dass fast immer brav fragt "Darf ich...?", bevor es etwas tut, anfasst, isst oder vor die Tür geht. Berührt hat mich ihre Art der vertrauensvollen Kontaktaufnahme, wie ich sie auch bei meinen anderen Nichten erlebt habe und immer wieder erlebe. Da findet sich plötzlich eine kleine warme Hand in der meinen, das hohe Stimmchen fragt mich etwas, macht kluge Bemerkungen. Das Kind schaut mich aus großen Augen an, und ich finde, es gibt an ihm wenig bis gar nichts auszusetzen. Junior robbt inzwischen mit kaum enden wollender Begeisterung über den frisch verlegten Fliesenboden und ist nur durch Wände, Türen und Gitter zu stoppen. Er ist allerdings verquollen und hat rote Augen und eine Triefnase.
Hübsche, liebenswerte Kinder insgesamt. Auch, worauf ich von den Eltern wiederholt hingewiesen werde, sind die beiden typisch Mädchen, typisch Junge. Der Kleine sei ja motorisch so viel weiter als meine Nichte zur selben Zeit war, während sie verbal alle an die Wand gespielt habe. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht. Schon gerade nicht mit Medizinern, denn die wollen jeden Widerspruch auch gern gleich empirisch belegt haben, sonst fällt ihnen die Anerkennung von Einwänden eher schwer.
Wir sprechen viel über das Haus. Mir gefällt es. Ich würde die Bauweise nicht als innovativ bezeichnen, aber gemessen am Umfeld, in dem sie sich niedergelassen haben, ist natürlich ein modifizierter Bauhaus-Stil schon recht gewagt. Das finden auch die Nachbarn (die alle Siedlungshäuschen aus den Dreißigern mit Giebeln bewohnen), und die haben alle Möglichkeiten bis hin zu juristischen ausgeschöpft, um ihren Unmut kundzutun. Was ihnen aber nicht geholfen hat. Ich lerne daher auch von meiner Schwester: Man weiß (weil Ärzte ja miteinander sprechen), dass die Frau Nachbarin, der das Projekt so missfällt, unter einer bipolaren Störung leidet. Das erklärt natürlich alles. Auch, dass sie an einem Tag so griesgrämig schaut und nicht einmal die Tür öffnet, als sich die neu Zugezogenen vorstellen wollen, am anderen aber großherzig eine Betreuung der Kinder anbietet, falls Bedarf bestünde. Dieses Verhalten lasse sich vollständig aus ihrem manisch-depressiven Zustand ableiten. Den Zusammenhang erläutert man mir am Mittagstisch aber bloß lapidar und in knappen Sätzen dahingehend, dass Depressive nunmal nicht leicht mit Neuem fertig würden. Offenbar auch nicht mit Bauhaus-Häusern. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht.
Es folgen noch Spaziergänge mit den Kindern, Kaffeetrinken, Plaudereien, gemeinsame Mahlzeiten. Wir haben Fotos mitgebracht von Ibiza, die wir uns noch auf dem Fernseher anschauen, als die Kinder im Bett sind und mein Schwager zur Notarzt-Nachtschicht. Meine Schwester vererbt mir eine Jeans, die zu schmal für sie geworden ist, und ich bin dankbar, denn für lange Beine ist immer schwer etwas zu finden. Wir haben dieselbe Länge. Dieser Umstand beschränkt sich aber auf die Beine. Es wird nicht viel gehaltvolles geredet, und ich bin froh darüber, denn ich weiß, dass ich mich keinem Rechtfertigungszwang aussetzen möchte und keiner tiefen Schürferei. Sonst bekommt sie nämlich wieder diesen Blick. Andererseits spüre ich, sie würde gern gemeinsam mit mir über unsere Eltern lästern, wie wir es früher taten. Das geht nicht. Ich habe nicht mehr viel zu sagen, was unsere Eltern betrifft.
Irgendwann geht mir auf, wie freudlos dieses Umfeld eigentlich ist. Alles ist durchdacht, sortiert, geordnet, geplant. So sauber, wie es mit Kindern eben sein kann. Alles aufeinander abgestimmt. Aber Lachen höre ich wenig. Wenn mein Schwager mit der Kleinen scherzt, dann. Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine Schwester lebt und lacht oder vielleicht mal singt. Vielleicht ist sie nur in meiner Gegenwart so angespannt, aber so fühlt es sich nicht an. Eher so, als habe sie in ihrem Leben die Bremse angezogen. Als sei sie auf der Hut vor dem verwilderten, überwältigenden Leben, das links und rechts des Weges lauert. Wenn sie Anflüge von Humor zeigt, dann wirken sie entweder sehr herablassend oder fast schon kindlich-albern. Erwachsen und aufrecht fast nie, unbefangen auch nicht.
Außerdem bemerke ich, wie sehr sie sich abgrenzen müssen gegen andere, alle beide. Wie sie es unseren Verwandten übel nehmen, dass die das neue Haus nicht mögen. Das schreiben sie deren hinterwäldlerischer Art zu, die ja typisch für den Landstrich sei, aus dem wir gebürtig kommen. Gegen die Vorortbewohner, mit denen sie das gutsituierte Wohnviertel teilen, müssen sie sich auch abgrenzen. Das wiederum - so lassen sie durchblicken - seien alles Spießer. Aha. Ich lasse es so stehen, denn Diskussionen lohnen sich nicht.
Ab und an überkommt mich durchaus auch Wohlgefühl. Immerhin, mit meiner Schwester auf dieser Basis zusammenzutreffen ist möglich, selbst wenn sich die Gespräche auf Smalltalk beschränken. Es fühlt sich so an, als habe ich noch eine Schwester. Innig waren wir nie, und wenn sich nicht ganz viel ändert, werden wir es auch nicht. Mir geht wieder Vienna Tengs "Antebellum" durch den Kopf: The borderlines we drew between us keep the weapons down, keep the wounded safe..." Das ist es, nicht mehr, nicht weniger.
Ihre Art hilft mir irgendwie auch, mich selbst anders und besser wahrzunehmen. Die Lebendigkeit, die ich bei ihr vermisse, spüre ich in mir.
Nur eines schmerzt wirklich.
Die Kleine sitzt am Esstisch, vor sich ein angeknabbertes Käsebrot und ein Obstpüree, und mag nicht mehr essen. Viel zu aufgekratzt, abgelenkt, überdreht. Sie hibbelt ein bisschen hin und her. Meine Schwester ist der Ansicht, sie sollte aufessen. Ihr Ton wird scharf. "Hör auf, herumzuzappeln! Du isst das jetzt auf!" Sie greift das Kind sehr hart am Arm und versucht wiederholt erfolglos, es zu füttern, das Brot in den kleinen Mund hineinzuzwingen. Die Augen der Kleinen werden feucht. "Mama, hör auf, Du tust mir weh!" sagt sie. In mir dreht sich alles um. Mein Mann und ich schauen uns an. Er sagt später: "Das war Schlagen ohne Schlagen." Ich verbuche es unter: Wie man eine Vierjährige erfolgreich demütigt. Als alle vom Tisch aufgestanden sind (sie hat das Brot natürlich nicht mehr gegessen), schnauzt meine Schwester das Mädchen an: "Ich glaube, Du willst mich ärgern!"
Seitdem beschäftigt mich diese Szene. Ich sehe sich die Geschichte wiederholen. In den Augen meiner Schwester sehe ich die Härte meines Vaters, gepaart mit der Kälte meiner Mutter. Ich sehe unter allem Perfektionismus und aller Beherrschtheit nach außen einen Schimmer ihres eigenen Schmerzes, den nun meine kleine Nichte zu spüren bekommt, weil meine Schwester ihn selbst nicht spüren will. Ich spüre Mitgefühl. Für beide. Ich weiß, wie es ist.
Am Sonntag abend fahren wir in die Dämmerung hinein nach hause, mit diesem Konglomerat an Gefühlen. Ich glaube, ich muss noch oft darüber sprechen, es immer neu widerkäuen, es hin- und herfließen lassen, nachschauen, ob sich dieses Bild verändert, ob es verblasst oder plötzlich etwas anderes zeigt. Ich bin nicht in der Lage, es zu bewerten. Es ist nicht gut oder schlecht, es ist jetzt gerade einfach da, und sieht höchst eigenartig aus. Durstig, traurig, einsam, gespannt, starr, unerreichbar, gläsern, monochrom. Die gemeinsam verbrachte Zeit wie eine Art seltsamer Kokon, den man eine Weile teilte, aber nicht wirklich bewohnte. Erkenntnisse werde ich posten.
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