Sturmflut
Dienstag, 1. November 2011
Gläser
Ich habe heute früher Schluss gemacht bei der Arbeit und war irgendwie in der Laune, mir eine Kleinigkeit zu gönnen (was in vollkommenem und moralisch verwerflichem Gegensatz zu einigen meiner letzten Beiträge und Kommentare steht). Ich habe mich also meiner ausgeprägten Abneigung gegen Ankleidekabinen widersetzt und ein bisschen probiert und schließlich ein Shirt gekauft in einer Farbe, die ich noch nicht hatte. Zufrieden wollte ich mit meiner Beute nach hause radeln, da sah ich am Markt ein Schild mit der Aufschrift "Trödelmarkt". Eins von den neonfarbigen, die kommerzielle Märkte ankündigen. Aber ich konnte doch nicht widerstehen.

Die fliegenden Händler mit ihren Kunstleder-Portemonnaies, billigen Uhren, den Stand mit den russischen Pop-Schallplatten und den Turbo-Gemüseraspelmann ließ ich links liegen und stoppte statt dessen an den Ständen mit dem hübschen Bernsteinschmuck (zu teuer) in verstaubten Kästen, den kuriosen Einzelstücken, Petroleumlaternen und antiquarischen (bisweilen auch nur antiquierten) Büchern. So stieß ich auf eine blaue Plastikkiste, in der sich ungefähr zwölf alte Einmachgläser samt Glasdeckeln befanden. Ich kriegte die ganze Ladung für fünf Euro und auf dem Heimweg mit zwei Tüten am Lenker das große Schlingern.

Aber was für Schätze, was für Erinnerungen. Ich mag Glas. Die Art, wie es zugleich flüssig und fest wirkt, die Transparenz und wie sich das Licht darin bricht, und vor allem mag ich an diesen alten Einmachgläsern die Prägungen. Allein die Deckel sind kleine Kunstwerke, obwohl sie noch vor fünfzig, sechzig Jahren für die Menschen Alltagsgegenstände waren.



Eingemachtes gehört zu den deutlichsten meiner Kindheitserinnerungen. Es gab eingemachte Süß- und Sauerkirschen zum Nachtisch, eingemachte Pflaumen und Äpfel, Birnen und Rhabarber (der faserig im Zuckersaft schwamm wie das Haar einer toten Fee und den ich gehasst habe wie die Pest, ebenso wie die Stachelbeeren). Das Zischen, wenn man am orangeroten Gummiring zog, und die wilden Flüche meiner Mutter, wenn die kleine Lasche des Rings wieder mal abriss...



Vor mir liegen diese Glasdeckel mit der Prägung: Gerrix, Heye, Weck... Wenn ich sie unter den Fingern fühle, dann wird mir wieder klar, dass sich Erinnerung nicht nur in Worten und Bildern abspeichert. Das Geräusch, wenn man den Deckel wieder auflegt, die feine Riffelung am Rand, die rostigen Schlieren, die alle Deckel irgendwann von den Spannklammern in der Mitte hatten - das alles fügt sich zu einem Bild zusammen.



Was mache ich jetzt mit meinen Neuerwerbungen? Erst neulich dachte ich daran, dass ich gern welche hätte. Um Kerzen hineinzustellen, jetzt, da es draußen wieder so früh dunkel ist. Die Gläser sind so robust, die können auch draußen auf der Hintertreppe stehen. Im Sommer mache ich dann Henkel aus Draht dran und hänge sie unter das Plexidach. Oder ich backe Kuchen darin. Oder ich benutze sie als Anzucht-Gewächshäuschen für die Granatapfel-Samen, die ich noch habe - praktisch, wegen der transparenten Deckel.

Oder ich hebe all die kleinen Schätze drin auf, die sich bei mir angesammelt haben. Abgeschliffene Steine, Muscheln, blaue und grüne Glasmurmeln, Scherben von Porzellan und Fliesen, deren Muster mir gefiel... Ich erinnere mich auch, wie ich einmal mit meinen Eltern, meiner Schwester und ihrer Freundin ein paar Tage auf Ameland verbrachte. Da stand auf einem nachgedunkelten Kiefernbord im Kinderzimmer des Ferienhäuschens ein solches Schatzglas, ein magischer Anziehungspunkt. Ich liebte es, es hin- und herzudrehen und anzuschauen, wie sich die Murmeln und Muscheln an die gläsernen Wände pressten. Bis ich nicht widerstehen konnte und es ausleeren musste, um den Inhalt auf dem Teppich auszubreiten und in die Hand zu nehmen.

Vielleicht bin ich deshalb so eine Elster geworden. Und vielleicht schleppe ich deshalb auch tütenweise alte Einmachgläser nach hause.

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