Sturmflut
Dienstag, 10. Januar 2012
Versteckspiel
In meinem Zimmer im Haus meiner Eltern stand auf meinem Schreibtisch die alte Schreibmaschine meiner Mutter. Ich tippte frenetisch darauf herum, weil das Tippen an sich mir Freude bereitete - zu sehen, wie sich das Blatt nach und nach mit schwarzen, fransigen Buchstaben füllte, der Bauch des kleinen a schwarzgrau ausgefüllt. Ab und an musste ich am Farbband herumfummeln oder die verklemmten Hebel zurück in ihre Position schieben. Ich liebte die Schreibmaschine. Aber nicht nur wegen ihr mechanischen Faszination.

Ich schrieb irgendwann dann Geschichten. Und machte den Fehler, sie offen auf dem Schreibtisch liegen zu lassen. Mein Vater nahm ungefragt die kleine Geschichte, die ich über das Leben und den Tod geschrieben hatte, las sie und trug sie zum Pfarrer, der ihm schließlich bestätigte, wie tiefgründig und toll ich schreiben konnte. Mein Vater erzählte mir davon. Ich ließ fortan nie mehr etwas offen liegen.

Als wir im Computerzeitalter angelangt waren und ich in der Dachkammer meines Elternhauses vor dem Bildschirm saß, wurde ich eine Meisterin darin, beim kleinsten Geräusch offene Fenster in den Hintergrund zu klicken. "Du nimmst Dich zu wichtig!" sagte mein Vater, als er einmal so ein Fenster verschwinden sah, nachdem er ohne zu klopfen eingetreten war.

Mit 18, vielleicht 19 Jahren saß ich jeden Tag auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern und schaute eine Fernsehserie an. Ich mochte die weibliche Hauptrolle - ich identifizierte mich mit ihr, weil sie verletzbar und verletzt und spirituell und stark gleichermaßen war. Ein bisschen wie ich selbst, aber vor allem so, wie ich sein wollte. Bis zu dem Tag, als mein Vater zu mir sagte: "Ach, guckst Du Dir wieder diesen Mist an?" Ich wusste, dass es vollkommen zwecklos war, ihm irgendwas zu erklären. Ich sorgte zukünftig dafür, dass der Fernseher ausgeschaltet war, wenn er kam, egal, ob die aktuelle Folge schon gelaufen war.

Gierig gelesen habe ich, so lange ich denken kann. Was sich zwischen zwei Buchdeckeln verbarg, offenbarte ganz andere Welten. Noch heute stapeln sich neben meinem Bett die Bücher, und auch schon damals taten sie es. Ich war talentiert darin, auf jedes kleine Geräusch aus der unteren Etage zu lauschen und bei Bedarf schlagartig das Licht auszumachen, wenn ich abends noch heimlich las. Ich nahm die Bücher überall hin mit. Irgendwann fing ich an, bestimmte Bücher im Bettkasten unter der Matratze zu verstecken, die Frage fürchtend: "Was liest Du denn da?" Denn manches war ihnen zu trivial, anderes zu dramatisch, wieder anderes ging zu sehr in Richtung Teenager-Schnulze. Das, was ich mochte, war in ihren Augen noch längst nicht gut.

Zu Kinder- und Jugendzeiten war mein Tagebuch der Vertraute, der mir im wirklichen Leben fehlte. In der Schule lief es mies, da träumte ich mich zwischen die Zeilen meines Collegeblocks und stahl mich davon, vertiefte mich in kleine Kritzeleien und ließ mich auslachen, wenn ich im Unterricht eine Antwort nicht wusste. Zuhause unter dem Licht meiner Schreibtischlampe füllte ich Seite um Seite, Kladde um Kladde im geräuschlosen Dialog mit einer papiernen Freundin. Ich erschuf meine eigene Welt. Ich war anderswo, auf einsamen Inseln und in dichtem Dschungel - Hauptsache nicht in dem tristen, täglich schmerzhaften Alltag, in dem es von Belang war, wer welche Kleider trug und wessen Eltern viel Geld verdienten. Später schrieb ich von den Begegnungen im Jugendcafé, von den Menschen, die mich mochten und die ich mochte, mit denen ich Zeit verbrachte, in die ich mich verliebte. Was ich über meine Erlebnisse zu sagen hatte, sagte ich mit Tinte und Papier. Eines Samstagabends, ich war 17, blieb ich zu lange weg. Meine Eltern brachen die Schublade in meinem Zimmer auf und nahmen die Tagebücher heraus. Sie sagten, sie hätten herausfinden wollen, wo ich sei. Und lasen auch alles andere.

Vor ein paar Jahren habe ich in einem Forum, geschützt von der Anonymität und verborgen hinter meinem Nickname, etwas über Kindheitserlebnisse geschrieben. Da kontaktierte mich der Forenbetreiber. Meine Schilderung sei so lebendig, so greifbar - ob ich nicht mehr schreiben wolle? Vielleicht für seine Seite? Dass ich jetzt hier blogge, habe ich in großem Maße seiner Ermutigung zu verdanken. Als ich mit dem Bloggen begann, sagte ich meinem Mann nichts davon. Zu Beginn war das Bloggen ohnehin nur ein Versuch. Dann verselbständigte es sich. Inzwischen ist es mir Tagebuch und Kommunikationsplattform in einem, es ist mir wichtig. Aber ich hatte meinem Mann nichts gesagt. Zwischendurch fragte ich mich immer wieder, warum eigentlich nicht. Ich denke, ich weiß es inzwischen. Für alle anderen bin ich anonym, ich bin die Sturmfrau, Frau Sturmflut, eine Bloggerin unter vielen. So frei und offen ich in diesem Blog auch von meinen Erlebnissen und Erkenntnissen schreibe, so persönlich das alles ist, es ist doch unverbindlich, weil anonym.

Für den Gatten allerdings bin ich seine Frau. Aber was geschieht, wenn er es nicht gut findet, dass ich schreibe und worüber? Was, wenn er mich verurteilt, beurteilt, ablehnt? Es kann so furchtbar schmerzhaft sein, mein Inneres bloßzulegen - umso schmerzhafter, je näher mir die Person steht, der ich mich offenbare. Ich besitze diesen eigenartigen Reflex, mich zu verstecken. Ich habe dieses Verhalten so sehr verinnerlicht, dass ich gar nicht mal mehr bemerke, dass ich es tue. Und plötzlich, weil ich mich so lang versteckt habe, ist es eine große Sache. Dabei gibt es nichts, was ich verstecken müsste. Das wird mir jetzt klar. Dieser Mensch wird mich nicht verraten und betrügen, dieser Mensch wird mir nichts nehmen, was ich ihm nicht freiwillig gebe. Dieser Mensch wird sich nicht lustig machen über mein Inneres. Dieser Mensch bricht keine Schubladen auf. Dieser Mensch zeigt nicht erst "Interesse", um mir dann in den Rücken zu fallen. Dieser Mensch verurteilt mich nicht dafür, dass ich das tue, wozu ich Lust habe. Er verteilt keine Schulnoten für meine Texte und steckt meine Gefühle nicht in Schubladen. Dieser Mensch liebt mich.

Es ist so verdammt schwer zu begreifen. Aber ich bin dankbar dafür, jeden Tag lernen zu dürfen, ohne dass es jedes Mal gleich fürchterlich weh tun muss. Das Versteckspiel ist meiner unwürdig.

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