Sturmflut
Freitag, 30. Dezember 2011
Leonie
Gerade war ich mit dem Gemahl noch kurz in der Innenstadt. Ein paar Lebensmittel sollten besorgt werden und die durchlöcherten Socken ersetzt, die gestern in die Tonne gewandert waren.

Also waren wir im Klamottenladen. Der hiesige erstreckt sich über drei Etagen - unten Damen, mittig Herren, oben Kinder. Im mittleren Geschoss kramten der Gemahl und ich in der Wühlkiste mit den Sammelpacks Socken, da schrillte es durch den Laden:

"Leonie!! Leonie!!"

Ich sah indessen ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren mit der Rolltreppe in den oberen Stock fahren. Zum Gemahl sagte ich: "Na, da klingt aber jemand herzlich!" "Naja, wenn die Kleine ausgebüchst ist..." gab mein Mann zu bedenken.

Wir ließen Leonie Leonie sein und fuhren wieder ein Stockwerk tiefer, wo ich nach Strümpfen schauen wollte, da brüllte die Mama erneut vernehmlich durch den ganzen Laden: "Leonie? Leonie?!" Komm jetzt gefälligst her!" Was sich noch zirka drei-, viermal wiederholte. Dann: "Leeeeonie!! Okay, ich geh' jetzt!" Und eine halbe Minute später: "Leonie!!", ehe dann das vermisste Mädchen auftauchte. Von der Mutter zusammengestaucht und zur Rede gestellt, sagte das Kind: "Mama, ich hab' Dich gesucht!" "Ja ja. Immer hier rumrennen, ich glaub', es hakt - Du Arsch!"

"Ich glaub', Du hattest Recht mit Deinem Bauchgefühl!" meinte mein Mann, während wir betreten ob der mütterlichen Wortwahl hinter der Madame her Richtung Ausgang stapften.

"Du Ziege!" fauchte sie ihr Kind an und gab ihm einen kräftigen Schubser von hinten. Da platzte mir der Kragen. "Hallo? Wie reden Sie eigentlich mit Ihrem Kind?" Die Angesprochene wuchtete ihren massigen Körper herum und starrte mich feindselig an. "Ja klar! Wer hat denn jetzt schon wieder was zu meckern?"

Ich sagte nur: "Bei einem solchen Ton würde ich als Kind auch weglaufen!"

"Ja! Auf Wiedersehen!" motzte die Dame und ging nach draußen. Ob sie mein "Hoffentlich nicht!" noch hörte, weiß ich nicht.

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Adieu 2011!
Ich sage dem alten Jahr so langsam Lebewohl. Nicht wie in den letzten Jahren mit einem Rückblick, sondern irgendwie leise und - mir fehlt die Angst.

Das meine ich durchaus so, wie ich es schreibe. Jedes Jahr, immer wieder aufs Neue, kristallisierte sich all meine Erwartungsangst zum Jahresende. Hier schlugen sich all die Gedanken nieder, "Ich sollte..." und "Ich muss!" und "Ich habe immer noch nicht...!".

Mit jedem Tag wurde die Annahme schmerzhafter, dass ich nicht alles bin, was ich sein könnte. Dass mir das neue Jahr Dinge abverlangen würde, die ich nicht erfüllen könnte. Dagegen verrannen die letzten Tage des alten Jahres wie Sand in den Händen und der Kokon, die Wärme und die netten Ereignisse, auf die ich mich zurückziehen konnte, wurden immer kleiner, immer weniger. So, als zöge sich eine Schlinge zu um meinen Hals.

Die Entscheidungen, die ich mehr oder weniger getroffen habe, haben das geändert. Jetzt muss ich damit umgehen, so zu sein, wie ich bin, und ehrlich gesagt habe ich damit beinahe weniger Schwierigkeiten, als damit, erst noch jemand anders werden zu müssen, um in Ordnung zu sein. Das Scheitern ist plötzlich in Ordnung.

Nur - wie ein konditioniertes Tier vermisse ich beinahe den innerlichen Stress, der mich so lange begleitete. So, als machte mir die Wärme der Sonne Angst, die draußen vor der offenen Türe der Gefängniszelle auf mich wartet. Genau so war es, als sich meine Schlafstörungen langsam besserten - abends im Bett liegend fragte ich mich, ob da nicht noch irgendeine Sorge, eine Schande, ein Schmerz warten müsste, der mich am Schlafen hindert. Nicht mehr. Nun nicht mehr.

Es wird nicht alles einfacher. Es wird nicht alles gleich anders. Aber nach dem Fehlen der Furcht festzustellen, dass es nichts zum Fürchten mehr gibt, das ist ein guter Ausblick.

Im neuen Jahr steht ein Gespräch mit dem Chef über die Festanstellung an. Zugleich "feiere" ich im April meine fünfjährige Firmenzugehörigkeit, wie mir die firmenintern herumgeschickte Agenda in dieser Sache neulich mitteilte. Und es mag sein, dass nicht alles glatt läuft, nicht alles in meinem Sinne abläuft - dennoch... Da ist plötzlich ein Vertrauen in das Leben, das trägt. Wie auch immer es schließlich laufen wird, ich werde am Leben bleiben.

Wie anders als noch letztes Jahr mein Inneres tickt, verriet mir neulich ein Traum. Ich bin beinahe nur Katastrophenträume gewohnt, in denen ich verfolgt werde, mich rechtfertigen oder wehren muss, gezwungen bin, bei meinen Eltern wieder einzuziehen, in denen Dinge schiefgehen oder ich gewalttätig werde. Aber jüngst träumte ich von (m)einem Gespräch mit dem Chef. Ich sagte ihm, was ich gern wollte, und er saß mir gegenüber und lächelte und sagte: "Mensch, Frau Sturmflut, wir haben uns auch schon den Kopf darüber zerbrochen, was wir ohne Sie tun sollen. Gut, dass sie sich so entschieden haben!" Und schließlich feierte die Belegschaft mit mir meine Festanstellung.

Wenn es in mir stimmt, was soll dann schiefgehen? Ich spürte im Traum die Wertschätzung, vor allem meine eigene mir selbst gegenüber. Und ich weiß, dass ich Freunde habe und die unendlich warmen Arme meines Mannes, dass ich mir Liebe nicht verdienen muss. Dass es Stimmen gibt, die mich ermutigen und Menschen, die mich unerwartet mit Worten beschenken.

2012 wird gut. Es ist das Ende des Bilanzierens und Bewertens, die Ankunft in meiner eigenen Nähe und eine wirkliche Chance auf Leben, frei von dieser neurotischen Angst, die mich so lang in ihren kalten Klauen hielt.

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