Sturmflut
Dienstag, 28. Februar 2012
Style und Stil
Neulich saß ich halbwach im Linienbus zur Arbeit. Das Schaufenster eines Schuhgeschäfts glitt an mir vorbei, darin ein riesengroßes Plakat mit einer (was auch sonst) lächelnden, blonden Frau darauf und dem Halbsatz "Genau mein Style!".

Mal davon abgesehen, dass ich diese Verdenglishungen (auch dies - was für ein beklopptes Wort!) nicht leiden kann, fragte ich mich, was das wohl sei, Style. Zuerst kam mir natürlich die Frage in den Sinn: Wieso verwenden die Plakatemacher nicht das deutsche Wort "Stil"? Dafür lassen sich natürlich allerhand werbetechnische Gründe finden, zuvorderst vor allem die irrige Annahme, dass, was "englisch" ist, trendy wirkt. Trendy. Bäh. Allerdings, das sagt man ja auch nicht mehr. Inzwischen sagt man "stylisch". Eben. Dagegen der Satz "Genau mein Stil!" klingt doch ein wenig antiquiert, nach rosafarbenen Twinsets und Bundfaltenhosen.

Genau wie die Werbetexter habe auch ich ganz unterschiedliche Assoziationen zu den Wörtern "Style" und "Stil".

Bei "Style" muss ich an die unzähligen Teenager-Blogs denken, die hier im Dorf seit geraumer Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen sind und eine inhaltliche Bandbreite abdecken von "Ich weis gar nich, was ich heute blogen soll...!!!! XD" über "Ich hab kein Bock auf Hausaufgaben!" bis hin zu "Wie findet ihr heute mein Style?". Der "Style" besteht dann aus Leggings im Presswurst-Format, sieben übereinandergezogenen Longshirts und goldfarbenen Plastik-Ohrringen im Fünferpack. Mit Stil hat das in der Tat wenig zu tun. Während der Begriff "Stil" die besondere Art und Weise bezeichnet, wie sich jemand kleidet oder ausdrückt, wie er denkt und kommuniziert, ist "Style" das, was man sich irgendwo abgeguckt hat und kopiert, weil man es "cool" oder eben "stylisch" findet. Millionen Teenager laufen herum wie Celine, Angelina, Jana. Auf mich wirkt schon das besitzanzeigende Fürwort "mein" in der Verbindung mit "Style" paradox.

Ich würde jetzt aber auch nicht behaupten, eine Stil-Ikone zu sein. Ich laufe die meiste Zeit in Jeans und Stiefeln durch die Gegend und bin damit weder besonders individualistisch noch bis zur Unkenntlichkeit angepasst. Vor längerer Zeit sagte Freundin I. mal über eine neu erstandene Jacke zu mir: "Hey, das ist eine totale Sturmfrau-Jacke!". Wie es scheint, gibt es an meinem Erscheinungsbild also zumindest eine Art Richtung, aber Stil?

Wenn man sagt "Das hat Stil!", dann meint man ja zumeist etwas Ausgesuchtes, Besonderes. Meine Mutter ist so eine Person, die von sich behauptet, Stil zu haben und nicht der Masse "hinterher zu rennen". Dabei habe ich allerdings die spannende Beobachtung gemacht, dass dies eher Wunsch denn Realität ist. In Wahrheit läuft auch sie ziemlich durchschnittlich herum, wohnt ziemlich durchschnittlich und isst ziemlich durchschnittlich. Das ist ja nicht weiter schlimm, aber ich glaube, sie fürchtet sich vor Durchschnitt in gleichem Maß, wie sie Geltungssucht anwidert. Sie bewegt sich auf dem Grat zwischen grauer Bedeutungslosigkeit und bemühter Auffälligkeit und pflegt dabei ein Understatement, das kein solches ist, weil sie es so sehr betont.

Vor Kurzem sah ich im Fernsehen einen Bericht über Upper-Class-Eltern, die ihre vier-, fünfjährigen Kinder in ein Benimm-Seminar brachten. Dort stand ein dynamischer, freundlicher Mittvierziger im Anzug vor den lieben Kleinen, Typ Unternehmensberater, und brachte ihnen die Grundregeln anständiger Kommunikation und ordentlichen Verhaltens bei - mit Hilfe zweier Plüschhunde. Einer von beiden sah aus, wie Schnuffi und Bello nun einmal so aussehen, braunes Fell, Schlappohren, Knopfaugen. Der andere erinnerte an ein in Fernost gefertigtes Werbegeschenk, mit großen Comicaugen und einem grellfarbigen Hemd. Der nette Mann fragte die Kinder: "Was meint ihr denn wohl, wer von den beiden kommt besser an, dieser da oder der bunte, geschmacklose hier?" Und ließ die Kinder abstimmen, die natürlich bei einer derart suggestiv gestellten Frage ganz brav die erwartete Antwort vorbrachten (wenngleich der freundliche Familien-Unternehmensberater das für eine "ganz freie" Abstimmung hielt und das auch betonte). "Also, wenn die jetzt kommen, die beiden, was meint ihr, wen wird wohl der Hunde-Chef einstellen? Richtig! Das hier will keiner!" Sprachs und schwenkte den bunten Hund. Ich hätte brechen können. Die Lektion für's Leben: Geschmacklosigkeit kommt nicht gut an, ist sogar ein Verstoß gegen die guten Sitten. Passe Dich an! Und das vor Fünfjährigen.

Ich frage mich, was es uns so schwer macht, einfach wir selbst zu sein. Uns anpassen wollen wir, uns abheben wollen wir, besonders sein und doch nicht allein. Wir wollen mithalten, wollen uns ausdrücken und nach außen kehren und doch nicht zu sehr herausstechen.

Wenn wir heute sagen "Gefällt mir!" und einen Daumen hoch halten, ist nicht mehr sicher, ob das aus innerem Antrieb geschieht oder nur das Resultat der tausend Eindrücke ist, die wir uns täglich einverleiben und die wir irgendwie sortieren müssen. Wir sind noch allenfalls mitgerissen von den Ideen anderer, aber weder inspiriert noch kreativ. Wir leben im "klingt wie"- und "erinnert an"- und "war schon mal da"-Universum, gehen zugrunde an unserer gepflegten Langeweile und suchen. Suchen nach dem "ultimativen Style" oder dem ganz eigenen "Stil" und sind doch dabei schon längst selbst, die wir sind, ohne es gemerkt zu haben.

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