Sturmflut
Samstag, 24. März 2012
Reality sucks...!?
Es wird Frühling. Wenn ich draußen auf dem moosverfilzten Rasen unseres Grundstückes stehe, kann ich die Veränderung in der Luft riechen, ich kann die Sonne auf der Haut spüren, ich kann sehen, wie die grünen Spitzen der Iris jeden Tag ein bisschen weiter aus der Erde schauen und sich der Frauenmantel langsam entfaltet. Ich nehme mein Bedürfnis nach mehr Bewegung und nach helleren Farben wahr und spüre ein sanftes Prickeln in der Magengrube. Das ist in diesen Augenblicken meine Realität. Ich kann es fühlen, greifen, atmen.

Andererseits umgeben mich allerhand Umstände, Erlebnisse und Erfahrungen, die lediglich mittelbar sind, virtuell, artifiziell. Ich beuge mich dem künstlichen Rhythmus meiner Arbeit, sitze vor einem Monitor, der mir aus Einsen und Nullen errechnete Bilder entgegenstrahlt. Hinter den weißen Lamellen der Bürofenstervorhänge sind die Menschen unterwegs, die sich gerade im wirklichen Leben befinden, während ich mir anvertraute Daten verarbeite und zwischendurch verstohlen ab und an einen Blick in meine Mailbox werfe oder ins Blog. Kommentare lese, die andere Menschen an anderen Bildschirmen und Tastaturen an anderen Orten in ihre Rechner getippt haben, Mails, die mir von automatischen Versendern geschickt wurden und mich auf die Möglichkeit hinweisen, in virtuellen Geschäften echte Kleider zu erwerben, die dann auf wundersame Weise via Paketdienst in meiner Welt materialisieren.

Die Leute hinter den weißen Lamellen biegen auch irgendwann ab in die virtuelle Welt, steigen aus, setzen sich vor die Automaten des Spielsalons nebenan oder zuhause vor die Glotze, oder sie verschwinden ins Netz, zu Fratzenbuch und Co. und pflegen ihre 437 virtuellen Freundschaften oder ihre Blogs, schreiben Forenbeiträge, stellen Fragen und suchen Antworten.

Ich weiß nicht, ob früher weniger Realitätsferne war. Man unterstellte einst auch eifrigen Bücherlesern, sich vor der Welt zu verkriechen. Ich frage mich, ob man überhaupt unterscheiden kann zwischen der Realität und einer virtuellen Welt, so lange das, was wir hier und dort erleben, gleichermaßen Gefühle in uns erzeugt und uns beeinflusst. Ist mein Lachen weniger echt, wenn ich über eine kluge Pointe oder eine treffend formulierte Beobachtung lache, die jemand am anderen Ende der Welt niedergeschrieben hat? Sind die Schauer, die mir über die Arme laufen, weniger wahr, weil es das Erleben einer Romanfigur ist, das diese Saite in mir zum Klingen bringt? Ich denke nicht. Eine gut erzählte Geschichte, ein spannender Film oder ein mitreißender, authentisch geschriebener Blogeintrag können mich ebenso bewegen wie meine Begegnungen in der "wirklichen" Welt, und das macht sie real.

Aber das Virtuelle, Fiktive und Künstliche könnte in mir vermutlich keine Resonanz erzeugen, wenn ich nicht zuvor im wirklichen Leben, in meiner ganz eigenen Realität, etwas erlebt hätte, das einen unsichtbaren Faden knüpft und einen Anklang schafft. Ich habe immer wieder erlebt, dass es Dinge gibt, die mich vollkommen kalt lassen, weil diese Verknüpfung nicht gegeben ist. Ich schätze mich glücklich, einer Generation anzugehören, die die Möglichkeit unverstellter "Real Life"-Kindheitserlebnisse noch hatte. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, dann schaue ich in eine Zeit, in der das Fernsehen noch eine nachrangige Rolle spielte und mein Leben und Empfinden nur wenig beeinflusst hat. Ich schaue in eine Zeit, in der Videospiele, PCs und der eigene Fernseher im Kinderzimmer noch weitestgehend die Ausnahme waren. Es waren Prä-Fernbedienungs- und Nur-drei-Programme-Zeiten, und nur einige Sonderlinge hatten einen Brotkasten oder Amiga. Umstände, die jeden (und nicht nur Jugendliche) heute vermutlich verzweifeln lassen würden. Ich war in meiner Kindheit noch nicht reduziert auf visuelle und akustische Eindrücke, die ich lediglich passiv rezipiert habe. Ich hatte Dreck unter den Fingernägeln, aufgeschürfte Knie, Winkelhaken in den Hosen und Brennnesselquaddeln an den Waden. Das sind im Gegensatz zu Play-Station und KiKa sehr unmittelbare Erfahrungen.

Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, dann staune ich, wie vielen Menschen ich begegne, die vollkommen gebannt auf das Smartphone in ihrer Hand starren, ohne irgend etwas anderes zu tun oder wahrzunehmen. Ich will mich nicht auf altbackene Art darüber ereifern, ich kann dieses Verhalten nur überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man mal außer Acht lässt, dass es das Verkehrsgeschehen äußerst negativ beeinflusst, treibt mich doch darüber hinaus vor allem die Frage um, was zum Henker denn so Spannendes auf den kleinen Geräten geschieht, die die Bezeichnung "Telefon" ohnehin kaum noch verdienen. Ich habe selbst auch ein Handy. Meistens ist der Akku leer, weil ich es in meiner Tasche vergesse. Es kommt vor, dass ich es wochenlang überhaupt nicht benutze. Das Gebaren der Smartphone-Nutzer kommt mir befremdlich vor. Es wirkt auf mich wie eine symbiotische Verschmelzung mit dem Gerät, die den Benutzer von seiner Umgebung beinahe schon hermetisch abschirmt (auch wenn mir das durch meine Fahrradklingel erzeugte Erschrecken mancher radfahrenden und gleichzeitig displaystarrenden Teenies bisweilen ein gehässiges Grinsen ins Gesicht treibt – man möchte fast einen Sport daraus machen...).

Ist das, was medial gefesselte Menschen erleben, noch Realität? Oder ist es Virtualität pur, frei von jeglichem Bezug zum Hier und Jetzt? Manchmal erlebe ich das sogar beim Herrn Gemahl, der – nur schwer ansprechbar – auf seinem Smartphone mit seinem besten Freund Nachrichten austauscht, während dieser drei Meter neben ihm in der anderen Ecke des Sofas sitzt. Das erinnert mich dann an die wunderbar treffend inszenierte "Friendface"-Folge der britischen Comedy-Serie "The IT Crowd", in der die gesamte Belegschaft der IT-Abteilung über ihre Laptops gebeugt miteinander via Internet "kommuniziert", obwohl sie alle im selben Raum sitzen. "Oh my God, I feel so social!" - mit diesem Satz, den die Macher der Serie der weiblichen Hauptperson Jen in dieser Szene feinsinnig-ironisch in den Mund legen, ist dazu eigentlich alles gesagt.

(Wobei ich mich gerade dabei ertappe, dass ich zur Illustration eines von mir real empfundenen Umstands auf eine Fernsehserie zurückgreife. Das aber nur am Rande.)

Unter sozialer Interaktion verstehe ich selbst immer einen äußerst komplexen, auf Begegnungen und Beziehungen basierenden Umgang von Individuen miteinander. Dabei spielt noch vieles mehr eine Rolle als lediglich die Worte, die man einander sagt. Das Phänomen der „Social Media“ empfinde ich nun so gar nicht als sozial im eigentlichen Sinne. Der Postillon persifliert die Selbstverständlichkeit dieses Phänomens auf ganz hinreißende Weise und trifft damit mein Empfinden ziemlich genau. Man fühlt sich heute "sozial" (oder vielleicht eher "social"?), wenn man möglichst viele sogenannte Freunde in der virtuellen Welt hat, wenn man jemanden "kennt", der jemanden "kennt", wenn man viele "friend requests" bekommt, zu allem seine Meinung via "Daumen hoch" bekunden kann... Mich erschreckt allerdings die Verflachung, die das mit sich bringt. Analog zur Reduktion der Wahrnehmung auf das Visuelle und noch maximal Akustische reduziert sich auch Meinung ("gefällt mir" oder "gefällt mir nicht"), und wenn mir mal jemand im virtuellen Universum nicht mehr „gefällt“, dann wartet ja an der nächsten Ecke jemand anders, der sich über eine "Freundschaftsanfrage" freut. Man muss nicht mehr investieren, Freunden und Freundinnen heulend oder grantig gegenübersitzen, man muss keine Konflikte mehr austragen, sich nicht mehr in sozialer Interaktion erproben und dabei neu geboren werden, man muss sich nicht mehr entwickeln, nicht mehr aneinander wachsen. Der virtuelle "Freund" wird zum austauschbaren Objekt, das ich konsumiere, wenn ich wieder einmal Anerkennung oder die Illusion von Kontakt brauche.

Ich nutze das Internet gern zur Kommunikation mit Freunden. Ohne dieses Mittel wäre es für mich erheblich schwieriger, Kontakt zu halten zu einigen Menschen, die teils auch im Ausland leben, und manchen lieben Menschen hätte ich ohne das Netz nicht kennengelernt. Aber die Mails, die wir schreiben, sind meist lang und ein wenig wie die Briefe, die wir als Schülerinnen noch handschriftlich verfassten und in Umschläge steckten. Und manchmal tun wir das auch noch immer. Heute überraschte mich eine Postkarte, die ich in meinem realen Briefkasten fand. Sie stammte von meiner Tai Chi Kursleiterin, und sie fragte an, ob es mir gesundheitlich gutginge, denn ich war zu den letzten zwei Kursstunden des Semesters nicht mehr gekommen. Ob ich nicht Lust hätte, wieder mitzumachen. Ganz analog, ganz handschriftlich, und gekrönt von einer farbenfrohen Tulpenwiese auf der Vorderseite. Ich bezweifle, dass ich mich über eine Mail von ihr so gefreut hätte.

Meine ganz persönliche virtuelle Welt braucht diese Unterfütterung aus Realität, sonst würde ich verarmen und verflachen. Wesentliches transportiert sich nicht via Twitter oder SMS, so wie Wesentliches auch nicht bei Twitter oder auf dem Handy stattfindet. Das Wesentliche, Unmittelbare ist um mich herum, und alles, was ich tun muss, ist, die Augen zu öffnen und jeden Tag wieder neu sehen zu lernen. Nur auf diese Weise entstehen die Geschichten, die mich wirklich interessieren und die ich dann, egal ob sie mir virtuell oder auf Papier gedruckt oder durch die Stimme einer Freundin oder eines Freundes erzählt werden, in mich hineinlassen kann und die in mir Resonanz und Gefühle erzeugen. Das Wesentliche ist in einem Blick, in einer Begebenheit oder Begegnung, in einem Detail, das man beobachtet, im Ausdruck anderer. Es lebt in aufgeregten, fruchtbaren Diskussionen oder einfachen Berührungen. Das ist Leben und Realität.

Auf einem Laternenpfahl in meiner Universitätsstadt sah ich mal einen Spuckzettel mit der Aufschrift "Glotze aus! Nachdenken!" Ich halte das für eine gute Idee (und möchte es gern ergänzen um "Nachfühlen!"), und ich frage mich doch dabei: Retten wir uns eigentlich vor der fiesen Realität auf das Sofa vor den Fernseher, ins Netz oder in eine Spielewelt? Brauchen wir das alles, um die Umstände erträglicher zu machen? Oder schaffen wir mit diesem Verhalten erst eine Welt, die uns die eigene Realität als unerträglich empfinden lässt? Was tut so weh daran, aufzutauchen und kalte Luft zu atmen? Kommen wir mit der Komplexität der Wirklichkeit, mit ihren aufgeschürften Knien und Seelen und mit unseren eigenen grauen Gesichtern im Spiegel nicht mehr klar? Oder wollen wir's eventuell gar nicht mehr, da es doch so viel einfacher ist, jemand anders zu sein, (wo)anders zu leben?

Meine Gedanken kreisen um einen großen Stromausfall.

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