Sturmflut
Dienstag, 31. Juli 2012
Weserbergland (3): Tour de force
"An seine Grenzen gehen" ist eine viel bemühte Wendung. Nicht unbedingt eine, die man mit Wandern in einem deutschen Mittelgebirge verbindet. Vermutlich haftet dem Wandern dafür ein zu biederes Image an. Echte Sportler betreiben mindestens Trekking, Trailrunning oder Freeclimbing. Und wahre Hartgesottene "gehen" mindestens den Camino. Wandern ist was für Weicheier.

Am zweiten Tag unserer Weserbergland-Wanderung habe ich einen anderen Eindruck vom Wandern bekommen. Ähnliches habe ich nur erlebt, als ich zwei Sommer in Folge als schwimmender Teil einer Staffel an einem Volkstriathlon teilnahm. Während uns am Ende unseres ersten Wandertages einfach nur die Beine weh taten und wir verdammt groggy waren, bot der zweite eine grundlegende Neudefinition der schlichten Aussage "Ich kann nicht mehr!"

Nach unserer Stippvisite beim Kloster brachen wir ausgeruht und entschlossen auf. Die Idee, einen Bus bis nach Oedelsheim zu nehmen und von dort aus weiter zu laufen erwies sich als unmöglich: Der erste, der fuhr, war ein Anrufbus und hätte bereits vorher bestellt werden müssen, und weitere Busse fuhren nur noch um die Mittagszeit, was uns zu spät war. Wir schulterten also unsere Rucksäcke (an deren Riemen sich der Körper sehr gut erinnerte!) und stiegen über eine Hangwiese hinter dem Ort hinauf in den Wald.



Das erste Teilstück unserer Etappe verlief entspannt. Wir waren in dem stillen, kühlen Buchenwald weitgehend allein, sieht man mal von einigen Forstarbeitern ab. Nach dem ersten Anstieg war auch der Weg einigermaßen zahm. Es ging leicht auf und ab, das war dann aber auch schon alles.



Einige Kilometer vor Oedelsheim führte uns der Weg am Waldsaum entlang, mit Blick über die Wiesen und hinunter zur Weser.



"Was ist denn das da?" Wir hatten uns angeregt unterhalten, da zeigte S. unvermittelt auf einen Punkt hinter einer Kuppe. "Vielleicht ein Hund?" Wir blieben stehen und starrten gebannt in die Richtung, in die sie gezeigt hatte. "Oder ein Fuchs...", flüsterte ich. Dann tauchte hinter der Kuppe ein Paar sehr langer Ohren auf, und dann noch eines. Ein Feldhasenpärchen hüpfte auf uns zu, umeinander Haken schlagend, und verschwand schließlich einige Meter vor uns rechts im Wald. Unser Gespräch und unsere Schritte schienen sie überhaupt nicht gestört zu haben. Wir freuten uns über den unerwarteten Anblick, sind doch Feldhasen erheblich seltener zu Gesicht zu bekommen als Kaninchen. Kaum hatten wir wieder einige Schritte zurückgelegt, tauchte vor uns schon der nächste auf. Der Wind stand wohl günstig für uns. Auch dieses langbeinige Exemplar sprang schließlich in die Büsche, an eben der Stelle, an dem auch seine Artgenossen vom Weg abgebogen waren. Schließlich folgte noch ein vierter. Wir waren inzwischen dort angelangt, wo sich die anderen Hasen ins Gebüsch geschlagen hatten. Dieser bemerkte uns zuerst überhaupt nicht, sondern blieb anderthalb Meter vor uns mit starrem, messingfarbenem Blick sitzen. Dann zuckte er zusammen und suchte das Weite.



Auch wenn S. die gefürchtete Auge-zu-Auge-Begegnung mit einer Bache und ihren Jungen erspart blieb, fiel uns im Verlauf unserer Wanderschaft immer wieder auf, wieviel mehr man sieht, wenn man das Tempo verlangsamt und die Augen nicht auf die Straße richten muss, sondern ganz nach Belieben stehen bleiben kann. Da waren allerhand Raubvögel mit beachtlicher Flügelspannweite, die sich in der Thermik treiben ließen, da waren Reiher an den Ufern von Weihern und in den Wiesen, Schwalben am Flussufer, Schnecken auf den Wegen und im matschigen Untergrund manches Mal auch interessante Spuren wühlwütiger Wildschweine, leichtfüßiger Rehe und verstohlener Dachse.



Wir näherten uns Oedelsheim durch die von Mohn und Kamille gesäumten Kornfelder und Wiesen, gut gelaunt und noch längst nicht fußmüde. Trotzdem wollten wir nach Alternativen zur Überquerung des Höhenrückens im Reinhardswald auf der anderen Weserseite suchen. Wir hatten beschlossen, nach dem Übersetzen mit der Fähre in einem Örtchen namens Gieselwerder eine Pause zwecks Mahlzeit zu machen und uns dort nach Bus oder Taxi zu erkundigen. In Oedelsheim setzten wir uns bei der Fähre erst einmal auf eine Bank, streckten die Beine aus, knabberten Mandeln, Kekse und Würstchen und warteten auf den Fährmann. Nach einer Weile tauchte jemand auf der Straße auf und rief: "Wollen sie rüber?" Wir wollten. Mit bemerkenswerter Routine nahm der Fährmann seine Fähre von der Kette, schob ein bisschen und kurbelte sie in die Strömung, die dann ein Übriges tat und uns ans andere Ufer trieb.



Ab dort wurde das Laufen dann ein wenig mühselig. Den qualitativen Unterschied zwischen Asphalt und Waldweg glaubt man in der Tat erst, wenn man eine Weile auf beiden gegangen ist. Wir mussten eine ziemliche Strecke entlang der Straße gehen, vorbei an leicht verfallenen Häusern. S. hatte zwischenzeitlich ziemlich an Tempo zugelegt - so sehr, dass ich mich wunderte. "Das Haus da war irgendwie gruselig, ich wollte da weg", erklärte sie mir später.

Bis Gieselwerder waren es noch vier Kilometer, und wir waren froh, als wir irgendwann wieder im Wald angelangt waren, abseits der größeren Straßen. Zwar ärgerten uns die Bremsen, die das feuchtwarme Wetter besonders mochten, aber es ging ohne Stiche ab. In Gieselwerder waren wir fix und fertig. Die Suche nach einem Linienbus brachte dasselbe Ergebnis wie in Bursfelde - nach Mittag fuhr nichts mehr. Es gab ein Freibad, Minigolf, einen Tante-Emma-Laden, eine Bäckerei und ein paar Häuser - das war's. Die Suche nach einem Schiff war ebenfalls wenig erfolgreich, denn selbiges fuhr nur einmal die Woche.

Wir saßen in der Ortsmitte, und ich versuchte herauszufinden, wie es denn jetzt weitergehen könnte. Im Tante-Emma-Laden hatten wir nach einer Telefonnummer für ein Taxi gefragt, aber die Gegend war so gottverlassen, dass ich befürchtete, allein die Anfahrt eines Taxis würde horrende Kosten verursachen. S. war reichlich unentschieden. Es war schwierig, herauszufinden, ob sie erst Pause machen und dann nach einem Transportmittel suchen wollte. Ich sehnte mich nach einer Bank und einem Happen aus der Knusper-Reserve im Rucksack, während sie hin- und herlief und den Ortskern von Gieselwerder auf diese Weise mehrfach durchquerte, ohne deutlich zu sagen, was sie damit eigentlich bezweckte. Ich setzte mich irgendwann einfach hin und begann zu essen.

Nach vielem Hin und Her schließlich fragte S.: "Oder meinst du, wir sollten einfach weitergehen?" Ich fragte sie, ob sie sich das zutraue, und dann fiel der Beschluss. Wir würden es anpacken. Wir machten noch kurz in der Bäckerei halt, damit S. sich anständig verpflegen konnte, und dann brachen wir auf. Mit dem Mut der Verzweifelten und ungeachtet der schmerzenden Füße und Schultern.

Was folgte, war anstrengend, wunderschön und dramatisch zugleich. Wir hatten einen Anstieg von rund 200 Höhenmetern vor uns, die S. mit ihrem leichteren Gepäck, aber offenkundig auch auf leichteren Füßen erheblich besser bewältigte als ich. Dieses Ungleichgewicht zwischen uns sollte sich aufwärts noch öfter zeigen. In der feuchten Wärme stiefelte ich hinter ihr her, bemüht, einen Rhythmus zu finden und mein eigenes Tempo zu gehen. Bisweilen hatte ich das ungute Gefühl, dass als nächstes meine Lunge platzen würde. Bei jeder Kuppe hoffte ich, dies sei denn nun auch die letzte. Irgendwann war das dann aber tatsächlich der Fall, und wir fanden uns inmitten eines Märchenwaldes wieder.



Die Wegmarkierung war teilweise nicht leicht zu finden und führte uns über schmale, moosige Waldpfade - Idylle pur. Wieder begegneten wir keiner Menschenseele. Der steile Anstieg war ziemlich bald vergessen, und Probleme sollte ich erst wieder kriegen, als es gegen Ende der Etappe noch einmal abschnittweise über Asphalt bergauf ging. In der Zwischenzeit bescherte uns die Strecke abwechslungsreiches Terrain mit Mischwald, und tatsächlich lugte die Sonne hervor, es klarte zusehends auf.



Gegen sechs Uhr abends kündigten wir der charmanten älteren Dame, die unsere Pension in Bad Karlshafen führte, unsere Verspätung an. Wir versicherten auf ihre besorgte Nachfrage hin, wir könnten noch gehen und es gehe uns gut.

Irgendwann fingen wir an zu singen, mehr oder minder melodisch. All die alten Lieder, die wir von irgendwelchen Jugendfreizeiten kannten und "Take me home, country roads". Gut, dass uns niemand gehört hat. Wir hatten einen Heidenspaß.

Der Weg hinunter nach Bad Karlshafen verlief eine ganze Weile bergab entlang eines Hangs und war gerade so breit, dass wir nebeneinander laufen konnten. S. büßte auf diesem letzten Streckenabschnitt allmählich wirklich an Kondition ein. Immer wieder fragte ich sie: "Pause? Was trinken? Was essen? Traubenzucker? Geht es noch?", während ich besorgt merkte, dass sie hier und da über ihre eigenen Füße stolperte.



Angesichts des Gerölls, auf dem wir manchmal gingen, war mir dabei alles andere als wohl, und ich hoffte schließlich nur noch, dass wir die Etappe unfallfrei und heil würden beenden können. S.'s weiche Knie machten mir weiche Knie. Wir waren beide froh, als wir schließlich den Ort erreichten. Über kopfsteingepflasterte Straßen schlichen wir die letzten paar hundert Meter auf schmerzenden Füßen zu unserer Pension.

Hätten wir nicht noch ein Abendessen gebraucht, wären wir an diesem Tag keinen einzigen Meter mehr gegangen.

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