Sturmflut
Montag, 22. Juli 2013
Wahr haben. Recht sein.
Ich muss unbedingt mein Oberstübchen durchputzen, weil es ganz ohne das nun doch nicht geht. Meine Gedanken kreisen um die Diskussionskultur im Netz.

Es gab mal eine Zeit, da bin ich viel in - meist themengebundenen - Internet-Foren unterwegs gewesen. Es ging mir dabei darum, mich auszukotzen und das Sich-Anvertrauen zu üben, denn es war mir wichtig, zu merken, dass ich mit meinen Problemen nicht allein bin. Manchmal half die Forentätigkeit auch, wenn ich in sensiblen Dingen und persönlichen Angelegenheiten einen Rat brauchte oder einfach nur Trost. Und es gab auch eine Zeit, in der es sehr zu meinem Selbstbewusstsein beitrug, anderen zu helfen und zu raten - was mich zuverlässig davor schützte, mich eigenem Schmerz und eigener Angst zu widmen.

Die Zeit der Foren war etwas ganz eigenes, wichtiges. Da hat man sich manchmal einen Troll gefangen, sich über seitenlange Threads hinweg Argumentationsschlachten geliefert, hat wirklich wichtigen, guten Rat bekommen. Ich durfte sehr wertvolle Menschen kennenlernen, mit denen mich heute noch intensive Freundschaften verbinden. Ich habe gelernt, zu meinem Wort und meiner Meinung zu stehen und auch klein beizugeben, wenn die Erkenntnis kam, mich geirrt zu haben.

Letztlich waren Foren für mich aber auch Energieräuber und somit eine wunderbare Trainingswiese dafür, eigene Grenzen zu erkennen und mich schließlich zurückzuziehen.

Eine solche Grenze war erreicht, als ich mal aus der Feder eines anderen lesen durfte, an dem Missbrauch durch meinen Vater selbst schuld gewesen zu sein. Jemand anderes verknüpfte das Schicksal des Missbrauchtwerdens gar an schlechtes Karma. Es gab auch Machtspielchen zwischen Forenbetreiberinnen, zwischen deren Fronten ich nicht kommen wollte. Oder Themen, die mich nicht mehr interessierten, nachdem ich mich an ihnen abgearbeitet hatte und über mich lernen durfte, dass ich auch ganz wunderbare Stellvertreterkriege im Netz durchfechten konnte, um mich realen Menschen und Aspekten nicht stellen zu müssen.

Irgendwann war es wichtiger und spannender, aus dem Netz wieder in die Realität zu treten und den Dingen ins Auge zu sehen. Ich habe das Forenlesen und -schreiben völlig aufgegeben. Denn Foren besitzen ein großes Aufregerpotenzial, und wenn man beginnt, mehr über eigene Grenzen und Ressourcen zu verstehen, dann weiß man irgendwann auch, dass man sich nicht mehr über alles aufzuregen braucht und nicht jeden einzelnen Kampf durchfechten muss, nur um... Ja, warum eigentlich? Weil es sich so toll anfühlt, andere zu überzeugen, an die Wand zu argumentieren, sich durchzusetzen, Recht zu behalten oder das letzte Wort?

Dann kam das Blog, und natürlich bin ich mit dem Ende der Foren nicht völlig aus der Netzkommunikation ausgestiegen. Konfrontationen, Debatten, Argumentationen ähneln sich schon oft. Die schriftliche Kommunikation verläuft in Kommentarsträngen ähnlich wie in Forenthreads - missverständlich, sehr persönlich und bisweilen erheblich ungehemmter als bei einem Gespräch Auge in Auge. Meinungen stehen einander gegenüber, teilweise starr wie Burgmauern. Ich habe meine Dauerthemen, die mir immer wieder aufs Neue Adrenalinschübe durch die Blutbahn jagen, während anderes mich total kalt lässt. Manches habe ich auch durchgekaut und brauche es nicht mehr. Manchen Dialog habe ich aufgegeben nach der Erkenntnis, dass andere nicht so ticken wie ich und das weitere Bemühungen aufgrund gegenseitiger Fremdheit oder gegenseitigen Befremdens unfruchtbar sind. Mit manchen Menschen wollte und will ich einfach nicht kommunizieren. Es gibt Glücksgriffe und Griffe ins Klo, auch beim digitalen Austausch.

Die Grundsatzfrage, die ich mir zwischendurch immer mal wieder stelle ist, was ich denn eigentlich im Netz will. Das Netz ist ein wunderbarer Raum, der bevölkert wird von spannenden Menschen mit spannenden Ansichten. Die muss ich nicht immer teilen, im Gegenteil. Beim Lesen in anderer Leute Blogroll, in verlinkten Artikeln, in Kommentaren zu Selbstgeschriebenem stoße ich auf ganz aufregende neue Gedankenstränge, an die ich selbst nicht gedacht, die mir allein nie in den Sinn gekommen wären oder die mich einfach immer wieder aufs Neue berühren. Manche Schreiber finden Worte für das, was ich nicht ausdrücken kann oder genau so hätte sagen wollen. Es ist nicht immer der Gleichgesinnte, der inspiriert. Die Meinungen anderer helfen mir bei der Orientierung und Findung der eigenen Position.

Und dann gibt es natürlich auch Leute, die halte ich für total daneben, kann mich weder mit ihrem Lebensentwurf noch mit ihrer Haltung anderen gegenüber anfreunden und nehme selbige manchmal genau deshalb unter die Lupe, um den eigenen Blick zu schärfen. Ich rege mich auf, ich geb's zu. Wie kann man nur...? Ich be- und verurteile, grenze mich ab, fluche und schimpfe und lasse mich ärgern und atme dann durch und lerne wieder Neues über mich und die Zwiebelschichten und die wunden Punkte und Haken und Ösen. Ich führe lange Kopfdialoge mit Menschen. Stimmt, mir kocht das Blut. Anschließend bin ich klarer.

Es soll ja Menschen geben, die schon mit einer Antwort auf alles auf die Welt gekommen sind und die sich selbst jederzeit in dem Zustand wähnen, im Recht zu sein, die einzig fundierte Position zu besitzen, die Wahrheit zu kennen und sie allen anderen mundgerecht servieren zu müssen. Ich gebe mir große Mühe, das nicht zu tun. Es gibt Diskussionen, und es gibt Diskussionen. In ersteren lässt man sich schubsen, stoßen, schieben und den eigenen Blickwinkel verändern, man hobelt und spänt, und manchmal lässt man sich auch bestätigen, ist einer Meinung und freut sich darüber, nicht allein zu sein, sondern Gleichklang zu finden. Letztere schürfen und scheuern, verletzen, verkrampfen, verwunden und enden nicht eher, bis einer dem anderen glaubwürdig vermittelt oder gar das Zugeständnis abgerungen hat, die einzig legitime Auffassung vom Universum zu besitzen, die es gibt und geben darf.

Welcher Art Diskussion ich mich widme, ist für mich ein Lernprozess in Sachen Energiemanagement. Ich werde besser darin, aber ich bin nicht wirklich gut. Vielleicht werde ich es auch nie. Macht nichts. Recht haben, die Wahrheit kennen, das letzte Wort schreiben oder sprechen muss ich nicht immer. Mindestens ist es nicht so viel wert, wie es scheint. Draußen den Grünspan von Zaunlatten zu scheuern, kann weitaus befriedigender sein als das. Es wird ohnehin niemals vorkommen, dass die ganze Welt meiner Meinung ist.

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