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Samstag, 17. August 2013
...und als nächstes die rosa Liste?
Am 17. Aug 2013 im Topic 'Deckschrubben'
Die Züchtung von Feindbildern war schon immer ein erfolgreiches Konzept, wenn es darum ging, Menschen von der eigenen Misere abzulenken. Im Allgemeinen ist die Klage über Werteschwund eine bemerkenswert inhaltslose Angelegenheit, die sich pauschal zur Anwendung auf allerhand Situationen eignet, und das macht sie auch gefährlich. Werte. Die sollen in Schulen wieder den Schülern nähergebracht werden. Die sollen im traditionellen Familiensystem vermittelt werden - da werden klassische Konstellationen gern als Garant dafür betrachtet. Die soll auch der Staat sicherstellen, indem er gesetzlich unterbindet, was Werte angreift.
Da muss man aber erst einmal grundsätzlich definieren, was man unter Werten und möglicherweise auch unter Moral versteht. Es schreien bemerkenswerterweise meist die am lautesten nach Werten und Moral, die sich selbst als Bessermenschen verstehen, die Reinheit, Unschuld und heile Welt verfechten. Hedonismus, materielle Gier, ausufernde Sexualität, zunehmender Egoismus - all dies sind dann Einflüsse, die einen bestehenden Wertekanon angeblich zersetzen. Was das aber für Werte sind, für die man da eigentlich eintreten möchte, darüber wird man lieber nicht präziser.
Postulieren lassen sich diese zersetzenden Kräfte übrigens ganz ohne jeglichen Beleg. Der ist auch nicht erforderlich, denn schließlich kann ja jeder in seinem Alltag beobachten, dass es so ist, oder etwa nicht?
Die Welt wird ja ständig gefühlt fieser, und deswegen muss mal endlich jemand kommen, der die unbequeme, politisch unkorrekte Wahrheit ausspricht: Wir verwildern, wir wissen nicht mehr, wo wir hingehören, und an allem sind die anderen schuld. Diejenigen, die sich nicht kasteien, die sich nicht an Regeln halten wollen, die, die ihren Instinkten, ihrer Lust, ihrem Herzen und Verstand folgen. Wenn das jeder täte! Du meine Güte!
Der britische Schauspieler und Komiker Stephen Fry war schon immer jemand, der mich mit seiner Haltung beeindruckt hat. Auf seiner Internet-Seite hat er nun einen offenen Brief an den britischen Premier und das Internationale Olympische Komitee verfasst, der mir aus dem Herzen spricht. Sport ist in der Tat nicht unpolitisch, nicht unkulturell. Die Olympischen Spiele an einem Ort, in einem Land abzuhalten, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe direkt diskriminiert, freie Rede und Gefühlsäußerungen unter Strafe stellt und Gewalttaten an dieser Gruppe zusieht, ohne mit der Wimper zu zucken, läuft dem Gedanken von Olympia und dem respektvollen Miteinander unterschiedlichster Menschen absolut zuwider.
Zurück zu den Werten. Auch die in Russland propagierten Werte, die die Basis der Gesetzgebung gegen Homosexuelle und Homosexualität bilden, gründen sich auf die oben erwähnten Ansprüche an Moral, Anstand und Unschuld. Homosexualität wird in Russland häufig gleichgesetzt mit Pädophilie, und so meint man, die Unversehrtheit der jungen Menschen durch eine solche Gesetzgebung schützen zu müssen. Es ist wie so oft in der Moraldebatte: Mit dem Scheinargument, es müsse doch auch mal jemand an die Kinder denken, lassen sich alle Anforderungen an ein menschliches Miteinander locker über Bord werfen. Indem man eine (lediglich behauptete) Gefährdung der Kinder in die Debatte mit einbringt, emotionalisiert man in einem Ausmaß, dass wirkliche Argumente keinen Raum mehr haben.
Diejenigen, die die Erhaltung der Werte für sich in Anspruch nehmen und deren Sicherung durch so geartete Gesetze befürworten, richten sie in Wahrheit zugrunde. Werte messen sich dann nicht mehr am Verhalten gegenüber unseren (wie auch immer gestrickten) Mitmenschen, sondern an einem künstlichen Konstrukt aus tradierten, Sicherheit vermittelnden Maßstäben. Die Würde des Einzelnen steht zur Disposition und wird zum exklusiven Recht desjenigen, der sich an diese Maßstäbe hält. Wer sich nicht fügt, wird pathologisiert und abgewertet, mehr noch, er wird zum Freiwild gestempelt, das keine Handhabe gegen erlittenes und noch zu erleidendes Unrecht hat. Was bitte hat das dann noch mit Werten zu tun?
Ein wirklicher Wert ist Respekt gegenüber dem anderen. Ein wirklicher Wert ist verbindende Gemeinschaft, die Betonung des Menschlichen, die Achtung für Gefühle anderer und die Freiheit, zu sagen, was man denkt. Wie empfindlich in Russland auf verletzte Gefühle reagiert wird, wenn es die eigenen sind, das zeigte der Ausgang der Pussy-Riot-Aktion. Dort wurde deutlich, dass die (religiösen und moralischen) Gefühle mancher Menschen mehr wert sind als die anderer. Eine ganze Gruppe von Menschen allein ihrer sexuellen Orientierung wegen zu diskriminieren, einzuschränken, ihnen den Mund zu verbieten und sie vor seelischer und körperlicher Verletzung nicht genau so in Schutz zu nehmen, wie jeden anderen Bürger, das zeugt von extremer Scheinheiligkeit.
Stephen Fry spricht die Sündenbock-Funktion an, die schwule und lesbische Menschen erfüllen, und er verweist meines Erachtens völlig zu Recht auf Parallelen zum Nationalsozialismus. Vermeintliche Eigenschaften einer begrenzten Bevölkerungsgruppe werden als zersetzende Faktoren für das Bewahrenswerte, Hochmoralische, Hehre und Edle betrachtet. Es ist ganz egal, ob man damit die "arische Rasse" meint oder anständige, saubere, familiäre Grundwerte. Jemand anderem den Anstand, die Sauberkeit und Werte abzusprechen, ist nichts weiteres als die mutwillige Stigmatisierung andersartiger Menschen zu dem Zweck, sie zur Zielscheibe für den latent vorhandenen Volkszorn zu machen. Und wer dieses Vorgehen kritisiert, dem wird vorgeworfen, er packe gleich die "Nazi-Keule" aus.
Auch Homosexuellen wird unterstellt, sich auszubreiten wie Parasiten und all das zu unterwandern, worauf unsere Gesellschaft angeblich baue. Russland steht mit dieser Haltung nicht alleine. Eine Leserbriefschreiberin vergleicht im evangelikalen "idea spektrum" homosexuelle Ehen und Partnerschaften mit einer Ehe mit dem Haustier. Da könne man ja auch gleich den eigenen Hund heiraten. Die Äußerungen triefen nur so vor ätzender Polemik. Nicht, dass man nicht wüsste, wes Geistes Kind Menschen sind, die bei Idea oder der "Freien Welt" ihre Meinung zum Besten geben - aber manchmal beschleicht mich der Verdacht, solche Auffassungen könnten gesellschaftsmittiger sein, als man so gemeinhin annimmt.
Letztlich stelle ich mir die Frage, wie schwach wir eigentlich sind, wenn wir tatsächlich mit den Andersartigkeiten der anderen nicht mehr umgehen können. Wieso ruft es so viel Gewalt und Hass hervor, wenn sich Menschen frei entscheiden, wen sie lieben und heiraten wollen? Wieso wird es als Angriff auf Werte empfunden, wenn Männer mit Männern und Frauen mit Frauen Sex haben? Wie wackelig muss denn das Familienbild einer oder eines Konservativen wirklich sein, wenn er glaubt, es könne dadurch zerstört werden? Faktisch ist das nämlich nicht so.
Die ganz subjektive Unsicherheit wird durch solche Gesetze wie dasjenige zum Verbot der "Homosexuellen-Propaganda" gefördert. Sie vermitteln das Gefühl, Schwule und Lesben stellten tatsächlich eine ernste Gefahr dar - sonst wäre ja ein Gesetz auch gar nicht nötig. Damit legitimiert ein solches Gesetz auch Gewalt und Ausschreitungen und provoziert sie gar. Es kanalisiert den diffusen Hass der Bevölkerung gegen alles, was anders ist.
Schlagworte wie "Homosexuellen-Propaganda" oder auch das der hierzulande unter Strengkatholiken mit rechter Gesinnung, Evangelikalen und anderen Verwirrten sehr beliebten "Homo-Lobby" implizieren, dass dort - analog zum "Weltfinanzjudentum" - ganz gerichtete Kräfte am Werk seien, die nichts sonst im Sinn hätten, als bewusst die Jugend zu verderben, den Anständigen zu schaden, die traditionelle Familie und mit ihr die geschlechtliche Fortpflanzung in Frage zu stellen und Werte auszuhöhlen. Diese "Argumente" sind nicht neu.
Freundin I. meinte dazu sehr lapidar, dies sei "history repeating", und sie hat Recht damit. Viel beängstigender noch als das Phänomen an sich ist, dass wir so blind dafür sind. Diejenigen, die dann im Winter nach Sotschi reisen mit der Begründung, bei den Olympischen Spielen gehe es um Sport und nur um Sport, die werden auch die Inszenierung der Spiele 1936 in Deutschland für ein ganz unschuldiges Sportereignis gehalten haben. Jesse Owens durfte dort ja schließlich auch antreten, dem hat ja niemand den Schädel eingeschlagen, oder?
Die Behauptung, Schwule und Lesben könnten ja in Russland ja nach wie vor ungestraft "ihre Dinge treiben" (Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow), verzerrt das Ausmaß der Diskriminierung. Im Gegenteil, Schwule und Lesben werden ihrerseits als Diskriminierer inszeniert und das Gesetz wird damit gerechtfertigt, dass es nicht in Ordnung sei, wenn sie Kindern aggressiv ihre fremden Werte aufzwängten.
Definiert sich also Freiheit nach dem, was einem in den eigenen vier Wänden erlaubt ist, worüber man im privaten Kreis sprechen darf? Nein, ausschlaggebend ist, was an die Öffentlichkeit dringt, denn das bestimmt, wie präsent, wie gesehen und wie akzeptiert man ist. Menschen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, war schon immer ein probates Mittel, sie gesellschaftlich irrelevant zu machen. Eine öffentliche Stimme zu besitzen, bedeutet auch, Macht zu besitzen.
Eine Frau, die zu hause eingesperrt wird und nur unter Begleitung und/oder von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Tür gehen darf, hat definitiv nicht die gleichen Rechte wie ein Mann, der darin alle Freiheiten genießt. Selbst dann nicht, wenn es ihr freisteht, hinter der geschlossenen Tür Schleier abzulegen und leicht bekleidet herumzulaufen. Den Juden wurden in Nazi-Deutschland zunächst schleichend die "kleinen" Rechte beschnitten - die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, das Sitzen auf der nicht-jüdischen Allgemeinheit vorbehaltenen Parkbänken. Aber wie nett, dass sie sich doch in ihren eigenen vier Wänden hinsetzen durften, wo sie wollten, oder? Dem Ausschluss folgten Stigmatisierung, Diskriminierung, Vertreibung, Ermordung. Wer den Vergleich für weit hergeholt hält, sollte sich in Erinnerung rufen, dass es einer Umfrage zufolge immerhin 5% der russischen Bevölkerung für angebracht hielte, Homosexuelle zu "liquidieren". Als nächstes dann die "rosa Liste"? Damit man die armen Fehlgeleiteten zumindest einer angemessenen Heilbehandlung zuführen kann?
Der Schoß ist warm noch, aus dem das kroch. Und was da kroch und wieder kriecht, hat mit Werten nichts zu tun. Im Gegenteil, es ist die bewusste Unterminierung von Solidarität, Brüder- und Schwesterlichkeit, Verbundenheit, Freiheit. Sie geschieht zugunsten der Kontrolle der Bevölkerung über die Angst. Biete den Menschen eine Strategie zur Kompensation ihrer Unsicherheiten, und Du wirst ihre Sympathie ernten. Alle anderen Probleme werden vergessen, oder sie werden zumindest nicht Dir angelastet. Es gibt ja einen Sündenbock.
Mich packt zum wiederholten Male das blanke Entsetzen. Gerade erst lernt man, mit dem Herzen zu verstehen, dass es ganz gleich ist, wer wen liebt, so lange er liebt. Gerade lernt man, es als Selbstverständlichkeit und nicht als mutigen Ausnahmefall zu begreifen, wenn sich jemand offen zu seinem Mann oder ihrer Frau bekennt, ganz genau wie Heterosexuelle das auch tun. Gerade lernt man, dass an den Pseudoargumenten über die Zerstörung der Familie nichts dran ist als Hysterie, und dass Homosexualität keine neumodische Strömung ist, sondern nichts weiter als eine Lebens-Variante von vielen anderen. Da schmerzt die kranke Borniertheit erst so richtig, egal, ob hier oder anderswo.
Man möchte Stephen Frys Rat folgen und lachen über die jämmerlichen Akteure in diesem Spiel. Aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken, das Spiel ist zu abscheulich.
Da muss man aber erst einmal grundsätzlich definieren, was man unter Werten und möglicherweise auch unter Moral versteht. Es schreien bemerkenswerterweise meist die am lautesten nach Werten und Moral, die sich selbst als Bessermenschen verstehen, die Reinheit, Unschuld und heile Welt verfechten. Hedonismus, materielle Gier, ausufernde Sexualität, zunehmender Egoismus - all dies sind dann Einflüsse, die einen bestehenden Wertekanon angeblich zersetzen. Was das aber für Werte sind, für die man da eigentlich eintreten möchte, darüber wird man lieber nicht präziser.
Postulieren lassen sich diese zersetzenden Kräfte übrigens ganz ohne jeglichen Beleg. Der ist auch nicht erforderlich, denn schließlich kann ja jeder in seinem Alltag beobachten, dass es so ist, oder etwa nicht?
Die Welt wird ja ständig gefühlt fieser, und deswegen muss mal endlich jemand kommen, der die unbequeme, politisch unkorrekte Wahrheit ausspricht: Wir verwildern, wir wissen nicht mehr, wo wir hingehören, und an allem sind die anderen schuld. Diejenigen, die sich nicht kasteien, die sich nicht an Regeln halten wollen, die, die ihren Instinkten, ihrer Lust, ihrem Herzen und Verstand folgen. Wenn das jeder täte! Du meine Güte!
Der britische Schauspieler und Komiker Stephen Fry war schon immer jemand, der mich mit seiner Haltung beeindruckt hat. Auf seiner Internet-Seite hat er nun einen offenen Brief an den britischen Premier und das Internationale Olympische Komitee verfasst, der mir aus dem Herzen spricht. Sport ist in der Tat nicht unpolitisch, nicht unkulturell. Die Olympischen Spiele an einem Ort, in einem Land abzuhalten, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe direkt diskriminiert, freie Rede und Gefühlsäußerungen unter Strafe stellt und Gewalttaten an dieser Gruppe zusieht, ohne mit der Wimper zu zucken, läuft dem Gedanken von Olympia und dem respektvollen Miteinander unterschiedlichster Menschen absolut zuwider.
Zurück zu den Werten. Auch die in Russland propagierten Werte, die die Basis der Gesetzgebung gegen Homosexuelle und Homosexualität bilden, gründen sich auf die oben erwähnten Ansprüche an Moral, Anstand und Unschuld. Homosexualität wird in Russland häufig gleichgesetzt mit Pädophilie, und so meint man, die Unversehrtheit der jungen Menschen durch eine solche Gesetzgebung schützen zu müssen. Es ist wie so oft in der Moraldebatte: Mit dem Scheinargument, es müsse doch auch mal jemand an die Kinder denken, lassen sich alle Anforderungen an ein menschliches Miteinander locker über Bord werfen. Indem man eine (lediglich behauptete) Gefährdung der Kinder in die Debatte mit einbringt, emotionalisiert man in einem Ausmaß, dass wirkliche Argumente keinen Raum mehr haben.
Diejenigen, die die Erhaltung der Werte für sich in Anspruch nehmen und deren Sicherung durch so geartete Gesetze befürworten, richten sie in Wahrheit zugrunde. Werte messen sich dann nicht mehr am Verhalten gegenüber unseren (wie auch immer gestrickten) Mitmenschen, sondern an einem künstlichen Konstrukt aus tradierten, Sicherheit vermittelnden Maßstäben. Die Würde des Einzelnen steht zur Disposition und wird zum exklusiven Recht desjenigen, der sich an diese Maßstäbe hält. Wer sich nicht fügt, wird pathologisiert und abgewertet, mehr noch, er wird zum Freiwild gestempelt, das keine Handhabe gegen erlittenes und noch zu erleidendes Unrecht hat. Was bitte hat das dann noch mit Werten zu tun?
Ein wirklicher Wert ist Respekt gegenüber dem anderen. Ein wirklicher Wert ist verbindende Gemeinschaft, die Betonung des Menschlichen, die Achtung für Gefühle anderer und die Freiheit, zu sagen, was man denkt. Wie empfindlich in Russland auf verletzte Gefühle reagiert wird, wenn es die eigenen sind, das zeigte der Ausgang der Pussy-Riot-Aktion. Dort wurde deutlich, dass die (religiösen und moralischen) Gefühle mancher Menschen mehr wert sind als die anderer. Eine ganze Gruppe von Menschen allein ihrer sexuellen Orientierung wegen zu diskriminieren, einzuschränken, ihnen den Mund zu verbieten und sie vor seelischer und körperlicher Verletzung nicht genau so in Schutz zu nehmen, wie jeden anderen Bürger, das zeugt von extremer Scheinheiligkeit.
Stephen Fry spricht die Sündenbock-Funktion an, die schwule und lesbische Menschen erfüllen, und er verweist meines Erachtens völlig zu Recht auf Parallelen zum Nationalsozialismus. Vermeintliche Eigenschaften einer begrenzten Bevölkerungsgruppe werden als zersetzende Faktoren für das Bewahrenswerte, Hochmoralische, Hehre und Edle betrachtet. Es ist ganz egal, ob man damit die "arische Rasse" meint oder anständige, saubere, familiäre Grundwerte. Jemand anderem den Anstand, die Sauberkeit und Werte abzusprechen, ist nichts weiteres als die mutwillige Stigmatisierung andersartiger Menschen zu dem Zweck, sie zur Zielscheibe für den latent vorhandenen Volkszorn zu machen. Und wer dieses Vorgehen kritisiert, dem wird vorgeworfen, er packe gleich die "Nazi-Keule" aus.
Auch Homosexuellen wird unterstellt, sich auszubreiten wie Parasiten und all das zu unterwandern, worauf unsere Gesellschaft angeblich baue. Russland steht mit dieser Haltung nicht alleine. Eine Leserbriefschreiberin vergleicht im evangelikalen "idea spektrum" homosexuelle Ehen und Partnerschaften mit einer Ehe mit dem Haustier. Da könne man ja auch gleich den eigenen Hund heiraten. Die Äußerungen triefen nur so vor ätzender Polemik. Nicht, dass man nicht wüsste, wes Geistes Kind Menschen sind, die bei Idea oder der "Freien Welt" ihre Meinung zum Besten geben - aber manchmal beschleicht mich der Verdacht, solche Auffassungen könnten gesellschaftsmittiger sein, als man so gemeinhin annimmt.
Letztlich stelle ich mir die Frage, wie schwach wir eigentlich sind, wenn wir tatsächlich mit den Andersartigkeiten der anderen nicht mehr umgehen können. Wieso ruft es so viel Gewalt und Hass hervor, wenn sich Menschen frei entscheiden, wen sie lieben und heiraten wollen? Wieso wird es als Angriff auf Werte empfunden, wenn Männer mit Männern und Frauen mit Frauen Sex haben? Wie wackelig muss denn das Familienbild einer oder eines Konservativen wirklich sein, wenn er glaubt, es könne dadurch zerstört werden? Faktisch ist das nämlich nicht so.
Die ganz subjektive Unsicherheit wird durch solche Gesetze wie dasjenige zum Verbot der "Homosexuellen-Propaganda" gefördert. Sie vermitteln das Gefühl, Schwule und Lesben stellten tatsächlich eine ernste Gefahr dar - sonst wäre ja ein Gesetz auch gar nicht nötig. Damit legitimiert ein solches Gesetz auch Gewalt und Ausschreitungen und provoziert sie gar. Es kanalisiert den diffusen Hass der Bevölkerung gegen alles, was anders ist.
Schlagworte wie "Homosexuellen-Propaganda" oder auch das der hierzulande unter Strengkatholiken mit rechter Gesinnung, Evangelikalen und anderen Verwirrten sehr beliebten "Homo-Lobby" implizieren, dass dort - analog zum "Weltfinanzjudentum" - ganz gerichtete Kräfte am Werk seien, die nichts sonst im Sinn hätten, als bewusst die Jugend zu verderben, den Anständigen zu schaden, die traditionelle Familie und mit ihr die geschlechtliche Fortpflanzung in Frage zu stellen und Werte auszuhöhlen. Diese "Argumente" sind nicht neu.
Freundin I. meinte dazu sehr lapidar, dies sei "history repeating", und sie hat Recht damit. Viel beängstigender noch als das Phänomen an sich ist, dass wir so blind dafür sind. Diejenigen, die dann im Winter nach Sotschi reisen mit der Begründung, bei den Olympischen Spielen gehe es um Sport und nur um Sport, die werden auch die Inszenierung der Spiele 1936 in Deutschland für ein ganz unschuldiges Sportereignis gehalten haben. Jesse Owens durfte dort ja schließlich auch antreten, dem hat ja niemand den Schädel eingeschlagen, oder?
Die Behauptung, Schwule und Lesben könnten ja in Russland ja nach wie vor ungestraft "ihre Dinge treiben" (Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow), verzerrt das Ausmaß der Diskriminierung. Im Gegenteil, Schwule und Lesben werden ihrerseits als Diskriminierer inszeniert und das Gesetz wird damit gerechtfertigt, dass es nicht in Ordnung sei, wenn sie Kindern aggressiv ihre fremden Werte aufzwängten.
Definiert sich also Freiheit nach dem, was einem in den eigenen vier Wänden erlaubt ist, worüber man im privaten Kreis sprechen darf? Nein, ausschlaggebend ist, was an die Öffentlichkeit dringt, denn das bestimmt, wie präsent, wie gesehen und wie akzeptiert man ist. Menschen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, war schon immer ein probates Mittel, sie gesellschaftlich irrelevant zu machen. Eine öffentliche Stimme zu besitzen, bedeutet auch, Macht zu besitzen.
Eine Frau, die zu hause eingesperrt wird und nur unter Begleitung und/oder von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Tür gehen darf, hat definitiv nicht die gleichen Rechte wie ein Mann, der darin alle Freiheiten genießt. Selbst dann nicht, wenn es ihr freisteht, hinter der geschlossenen Tür Schleier abzulegen und leicht bekleidet herumzulaufen. Den Juden wurden in Nazi-Deutschland zunächst schleichend die "kleinen" Rechte beschnitten - die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, das Sitzen auf der nicht-jüdischen Allgemeinheit vorbehaltenen Parkbänken. Aber wie nett, dass sie sich doch in ihren eigenen vier Wänden hinsetzen durften, wo sie wollten, oder? Dem Ausschluss folgten Stigmatisierung, Diskriminierung, Vertreibung, Ermordung. Wer den Vergleich für weit hergeholt hält, sollte sich in Erinnerung rufen, dass es einer Umfrage zufolge immerhin 5% der russischen Bevölkerung für angebracht hielte, Homosexuelle zu "liquidieren". Als nächstes dann die "rosa Liste"? Damit man die armen Fehlgeleiteten zumindest einer angemessenen Heilbehandlung zuführen kann?
Der Schoß ist warm noch, aus dem das kroch. Und was da kroch und wieder kriecht, hat mit Werten nichts zu tun. Im Gegenteil, es ist die bewusste Unterminierung von Solidarität, Brüder- und Schwesterlichkeit, Verbundenheit, Freiheit. Sie geschieht zugunsten der Kontrolle der Bevölkerung über die Angst. Biete den Menschen eine Strategie zur Kompensation ihrer Unsicherheiten, und Du wirst ihre Sympathie ernten. Alle anderen Probleme werden vergessen, oder sie werden zumindest nicht Dir angelastet. Es gibt ja einen Sündenbock.
Mich packt zum wiederholten Male das blanke Entsetzen. Gerade erst lernt man, mit dem Herzen zu verstehen, dass es ganz gleich ist, wer wen liebt, so lange er liebt. Gerade lernt man, es als Selbstverständlichkeit und nicht als mutigen Ausnahmefall zu begreifen, wenn sich jemand offen zu seinem Mann oder ihrer Frau bekennt, ganz genau wie Heterosexuelle das auch tun. Gerade lernt man, dass an den Pseudoargumenten über die Zerstörung der Familie nichts dran ist als Hysterie, und dass Homosexualität keine neumodische Strömung ist, sondern nichts weiter als eine Lebens-Variante von vielen anderen. Da schmerzt die kranke Borniertheit erst so richtig, egal, ob hier oder anderswo.
Man möchte Stephen Frys Rat folgen und lachen über die jämmerlichen Akteure in diesem Spiel. Aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken, das Spiel ist zu abscheulich.
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