Sturmflut
Mittwoch, 15. Januar 2014
Unworte
Ich hatte mich schon in einem ellenlangen Artikel darüber auslassen wollen, dass der Ausdruck "Sozialtourismus" das Zeug zum Unwort des Jahres 2013 hat, als ich gestern las, dass es tatsächlich dazu gewählt worden war. Die Begründung für die Wahl dieses Begriffes war auch genau die, die mir durch den Kopf spukte. Der Ausdruck ist ein polemisches Unding. Eben ein Unwort. Allein die Verbindung dieser beiden Worte impliziert: "Die kommen alle zu uns, weil sie es sich hier auf unsere Kosten mal so richtig gut gehen lassen wollen!"

Was auch sonst tut ein Tourist, als faul zu sein und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen? Schweinerei, überhaupt! Die bösen Rumänen und Bulgaren, diese dreckigen, faulen Säcke. Sowas würde sich ein strammer Deutscher natürlich nicht erlauben. Der steht noch aufrecht, mit der Schaufel in der Hand, wenn ihn Ströme von Einwanderern überrennen. Ja, ja.





Ich weiß, ich soll keine Kommentarspalten lesen. Nicht bei Freenet, und auch nicht anderswo. Denn da treiben immer wieder solche Halbleichen an die Oberfläche und tun ihre Ansichten kund über die Welt, wie sie wirklich ist. Ungut, aber kundtun darf jeder.

Es gibt offenbar viele Menschen in diesem Land, die meinen, es gebe tatsächlich so etwas wie "Sozialtouristen". Vor allem meinen das die ewig Zukurzgekommenen. (Dass es hier Rentner zu sein scheinen, nehme ich mal als Randerscheinung von zweitrangigem Interesse hin - das könnte man noch mal separat diskutieren.)

Sozial möchte man nicht mehr sein. Man möchte nicht mehr teilen, schon gar nicht mit denen, die nicht nützlich sind und sich nicht anpassen. Man vergleicht sich permanent, und man selbst schneidet dabei grundsätzlich immer besser ab. Alles, was unter den Begriff "sozial" fällt, betrachtet der Deutsche neidisch als das, was anderen zugute kommt. Gleich hinterher mutmaßt er außerdem, dass die anderen das überhaupt nicht verdient haben, im Gegensatz zu ihm selbst. Er hat schließlich hart gearbeitet für sein Feierabendbier. Man mag das alles als Marotte einiger Stammtischsitzer abtun, aber ich habe den Verdacht, da ist noch mehr.

Wer sich nicht in die Tretmühle des Kapitalismus einfügen will oder kann, der zählt nicht mehr, weil er nicht verwertbar ist. Der Mensch wird nach seiner Nützlichkeit beurteilt. Eine solche Rechnung ist eiskalt. Dass ausgerechnet hier in Deutschland ein Begriff entsteht wie "Sozialtourismus", ist symptomatisch. Wir wollten schon immer unseren Platz an der Sonne und haben giftig geguckt, wenn wir fürchteten, dass andere ihn uns streitig machen. Die Furcht allein reicht auch schon aus, um Tatsachen geht es gar nicht. Denn was wissen wir eigentlich von der Not derjenigen, die wir so leichtfertig als Sozialtouristen, Sozialschmarotzer oder Sozialbetrüger bezeichnen? Wie kann es sein, dass sich die Leute aus ihrem Fernsehsessel heraus ein Urteil über diejenigen erlauben, die sie noch niemals persönlich getroffen und gesprochen haben und desgleichen vermutlich auch niemals tun würden?

Es ist nicht allein der Hass auf das Fremde, der eine Rolle spielt, auch wenn ich glaube, dass er nicht zu vernachlässigen ist. Es ist auch die Angst vor den Schwächeren. Die will man in unserer Verwertungsgesellschaft nicht sehen, weil sie so drastisch verkörpern, dass man tatsächlich scheitern kann. Sogar ohne eigenes Zutun. Also muss man ihnen die Schuld für ihre soziale Bedürftigkeit selbst in die Schuhe schieben, weil das die eigene Seele schützt.

Der "Penner" auf der Straße ist an seinem Unglück selbst schuld, er braucht sich doch nur zusammenreißen, sich einen Job suchen, sich um Himmels willen mal zu rasieren und mit dem Saufen aufzuhören, und dann wird das schon was. Die arbeitslosen Jugendlichen, die auf der Straße herumhängen, müssten nur einmal wieder lernen, wie man sich ordentlich ausdrückt, höflich und pünktlich ist und fleißig lernt, dann wird das schon. Und die Rumänen und die Bulgaren, die sollen doch bitte in ihrem eigenen Land bleiben und dort fleißig sein, anstatt sich hier einen lauen Lenz zu machen. Dann wird das schon.

Platz für Solidarität ist da nicht. Sozial zu sein und sich verbunden zu fühlen geht nur, wenn sich eben nicht alles an der Nützlichkeit des Menschen ausrichtet. Aber an der Nützlichkeit muss sich alles ausrichten, weil es der Wahnsinnskapitalismus, in dem wir uns befinden, so verlangt. Der Mensch zählt nur noch als ökonomischer Faktor, nach seinem in Ziffern ausdrückbaren Nutzen. In unserem kapitalistischen System müssen sich auch Krankenhäuser und Altenheime rechnen, werden Unglücke und Naturkatastrophen an ihrem volkswirtschaftlichen Schaden in Euro gemessen, lässt sich den Menschen mit der Drohung des Verlustes von Arbeitsplätzen beinahe jeder Kompromiss abringen. Und die soziale Rolle des Staates wird zum notwendigen Übel degradiert, was auch die Menschen, die auf soziale Zuwendungen angewiesen sind, zu reinen Übeln, zu Soll-Posten auf der Rechnung macht.

Und als ob sich das deutsche Sozialsystem so leicht betrügen ließe. Ich habe schon nicht geglaubt, dass das einfach ist, bevor ich gemeinsam mit dem Gatten begann, sicherheitshalber die Anträge auf Hartz IV auszufüllen. Jetzt, hinterher glaube ich es schon gar nicht mehr. Man muss wirklich alles offenlegen und hat bei Nichterfüllung bestimmter Erwartungen mit harten Sanktionen zu rechnen. Ich würde keine Lanze brechen wollen für das deutsche Sozialsystem. Trotzdem bin ich gerade froh, dass wir uns noch nicht wie Amerika im Endstadium des Kapitalismus befinden. Das dicke Ende kommt erst noch. Man wundert sich in Deutschland allenthalben darüber, dass bei guter Konjunktur trotzdem die Sozialausgaben nicht sinken. Wie sollten sie, wenn all die fleißigen Minijobber und Zeitarbeiter und Niedriglöhner von dem, was sie erhalten, nicht leben können?

Sie widern mich an, diese boulevardbetäubten Sesselfurzer, die wie kleine Kinder herumnörgeln: "Und wer kümmert sich um uns?" Ihre kurzsichtigen Gefühle im Bezug darauf, wer sie sind (deutsche Bürger), was sie geleistet haben (harte Arbeit), was sie erleben (echte Not) und was ihnen zusteht (mehr), machen sie zum Maßstab dafür, was für Bedürfnisse und Rechte andere haben sollen (möglichst keine). Sie geben sich gar nicht die Mühe, sich mit den realen Problemen auseinanderzusetzen, die bei all dem eine Rolle spielen. Sie weigern sich zu begreifen, dass die Zeit der Nationalstaaten vorbei ist und es blauäugig ist, sich einmauern zu wollen. Vermutlich ist es ihnen auch egal, vielleicht sogar ganz recht, dass Flüchtlinge massenweise im Mittelmeer ersaufen. Wechselt man halt den Fernsehsender.

Aber die Sesselfurzer sind meines Erachtens einer geschickten Wortschöpfung auf den Leim gegangen, die von vornherein dazu konstruiert war, ihr Gefühl von Ungerechtigkeit zu befördern und die Angst vor Zuwanderern zu schüren. Das lenkt dann so wunderbar davon ab, dass das massenhafte Angewiesensein auf Sozialleistungen, ganz gleich aus wessen Hand, lediglich die Kehrseite der Medaille ist, auf deren Vorderseite in fester Überzeugung tief eingraviert die Worte "Ewiger Wohlstand, ewiges Wachstum" stehen. So spaltet man elegant die Menschen in zwei Lager. Man möchte nur die Reichen, die Produktiven, die Selbständigen und ignoriert dabei, dass die Ursachen für die Armut der anderen im System liegen, nicht im Selbstverschulden.

An die Stelle der polemischen Aussage, Ausländer nähmen uns die Arbeitsplätze weg, ist jetzt die noch polemischere Aussage getreten, sie "plünderten" unsere Sozialkassen. Da eröffnet sich noch einmal eine neue Dimension. Jetzt spürt der brave Bürger, es geht ans Minimum, an die letzte Reserve, und er fürchtet die Migranten wie eine Horde von Heuschrecken.

Die Heuschrecken aber sind in Wahrheit andere.

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Klappe, Texter!
Im literarischen Belangen bin ich nicht sonderlich bewandert. In der Rückschau kommt es mir oft so vor, als hätte ausgerechnet der Deutsch-Leistungskurs meines Jahrgangs alles an literarischen Klassikern ausgespart, was andere behandelt haben. Ich habe eklatante Lücken, aber komischerweise auch nicht das Bedürfnis, sie durch nachholende Lektüre zu füllen. Irgendwie gehen mir die Pflichtlektüren von damals (trotz gelegentlicher Anfälle von Bedauern) am Allerwertesten vorbei. Natürlich gibt es Menschen, die mit Klassikern etwas anfangen können. Freundin I., natürlich als beinahe-gewordene Deutschlehrerin durchaus bewandert in diesen Dingen, kann mehr Interesse dafür aufbringen als ich und ist eine große Freundin von Günter Grass, der mich absolut kalt lässt.

Jetzt bin ich allerdings auch keine Trivialliteratur-Leserin. Wobei mich die Klassifizierung der Literatur in trivial und anspruchsvoll schon immer genervt hat - sie ist snobistisch und eitel. Ob U oder E ist mir relativ egal, wobei ich eben einen Anspruch an Bücher hege, was Tiefgang und Qualität der Sprache betrifft. Als mir im Wohnzimmer meiner Schwester "50 Shades of Grey" in die Hände fiel und ich es mal aufschlug, biss mir das sprachliche Missmanagement fies in die Nasenspitze, und ich klappte das Machwerk wieder zu. Es gibt Dinge, die ganz ungeachtet vom Inhalt (der mich auch nicht interessierte) einfach nicht auszuhalten sind. Ich bin also immer auf der Suche nach guter Lektüre, und Freundin I. ist mir in dieser Hinsicht eine gute Quelle für Rat und Tipps. Sie lieh mir bereits auszugsweise den Inhalt ihres Bücherregals, und wir starteten mit Stewart O'Nan. Seine Romane zu lesen bereitete mir ein ausgesprochenes Vergnügen, und gerade liegt auf dem Bücherstapel neben meinem Bett Emily, allein, einer der wenigen, die ich noch nicht gelesen habe. Im Bücherflohmarkt der Bibliothek war außerdem für einen Euro Das Glück der anderen abzugreifen - es verlieh sich wohl nicht oft genug.

Mit Freundin I. habe ich also jemanden für gute Lektüre-Hinweise, und bislang hat sie noch nicht daneben gelegen. Aber was macht man noch, wenn man gute Lektüre sucht? Weil Bücher wie Persönlichkeiten sind, die sich mit dem eigenen Charakter nicht immer vertragen, ist es schon gut, sich auf jemanden verlassen zu können, der einen selbst gut genug kennt, um raten zu können. Deshalb verzichte ich grundsätzlich darauf, mir Rezensionen bei Amazon durchzulesen. Schon allein, dass die Rezension so überdurchschnittlich häufig zur Rezession mutiert, klappt mir die Zehennägel hoch. Da wird der Inhalt nacherzählt wie in Schulaufsätzen, sich darüber beklagt, dass in manchen Büchern "gar nichts passiert", es werden Wendungen verraten und manchmal geht auch schon ein schlichtes "Ich fand das Buch nicht gut!" als Rezension durch. Mich gruselt es. Also lasse ich es lieber.

Es gibt beinahe nichts Schöneres für mich, als mit richtig viel Zeit in die städtische Bücherei zu gehen. Ich muss mir keine Gedanken machen, ob ich mir ein Buch leisten kann, ich kann es gleich mitnehmen, wenn es mich interessiert. Bücherei ist ein Bonbon, und es fällt mir häufig schwer, mich selbst zu beschränken angesichts der guten Auswahl, die die Bibliothek meiner Stadt bereithält. Aber nach welchen Kriterien wähle ich aus? Bei Sachbüchern ist das simpel, da gehe ich nach Interessenlage.

Bei Romanen fesselt mich manchmal ganz einfach der Titel. So geschehen bei Ian McEwans Der Zementgarten, das ich neulich entlieh, ohne mir den Klappentext zuende durchgelesen zu haben und das innerhalb von drei Abenden verschlungen war. Ein Wahnsinnsding, dicht und düster und trotzdem irgendwie lebendig. Der Verzicht auf den Klappentext hat sich allerdings als essentiell herausgestellt. Denn der war erstens grottenschlecht flapsig geschrieben, zweitens verriet er einen Großteil des Inhalts, ohne ihn jedoch drittens korrekt wiederzugeben.

Lesen Klappentexte-Texter eigentlich, was sie in Klappentexten treffend beschreiben sollen? Manchmal scheint es mir, das ist nicht der Fall. Ich bin mit der Materie nicht vertraut, aber vielleicht gibt es ja in Verlagen auch Leute, die für Klappentexte-Texter Zusammenfassungen erstellen, anhand derer die Klappentexte-Texter dann ihre Klappentexte texten. Das ist dann wie Stille Post - die Hälfte der Information geht unterwegs verloren. Die Atmosphäre eines literarischen Werks ohnehin.

Wenn ich mal wieder auf der Suche nach wirklich guten Büchern durch die Regale der Bibliothek wandere und mal das eine, mal das andere zur Hand nehme, sind es die Klappentexte, die mich oft abschrecken und dafür sorgen, dass die das jeweilige Werk stehen lasse. Das mag auch daran liegen, dass ich mich nicht für die ungewöhnlichen, abgehobenen Geschichten interessiere, sondern für die, die Menschen passieren, die so real wie Du und ich sein könnten. Stewart O'Nan ist ein Meister im Erzählen solcher Geschichten. Aber ich kann nicht mein Leben lang nur O'Nan lesen, denn so schnell kann der arme Mann gar nicht schreiben, wie ich ihn lesen möchte. Außerdem isst man nicht jeden Tag Sachertorte.

Als Online-Rezensionsverweigerin bin ich also bei dieser saloppen Suche vorm Regal eben angewiesen auf gut verfasste Klappentexte, die mich auf den Haken zu nehmen verstehen und mich dann auch vor der Enttäuschung bewahren, dass der gelesene Roman schließlich - wie im Fall des Zementgartens - nur wenig mit der Beschreibung auf seiner Rückseite zu tun hatte. Komplett überflüssig erscheinen mir desbezüglich auch Zitate aus den Medien ("Ein Meisterwerk!", "Das ist ganz große Literatur!"), die zur Bewerbung des jeweiligen Buches den Klappentext teilweise oder ganz ersetzen. Das ist riesengroßer Käse. Nur, weil der Feuilletonist irgendeiner namhaften Wochenzeitung etwas für ein Meisterwerk hält, sagt das noch nichts über Qualität aus und schon gar nichts über den Gegenstand einer Erzählung. Allerhöchstens etwas über den Klappentexter, nämlich, dass er faul war.

Ich frage mich insgeheim, wie viele wirklich gute Bücher ich bereits in der Bibliothek habe stehen lassen, weil mich der Klappentext so sehr abschreckte. Zum Teil wirken Klappentexte wie die Alltagserzählungen von Zweitklässlern. Und dann..., und dann..., und dann... Ich muss in einem Klappentext auch nicht die gesamte Handlung präsentiert bekommen. Wenn ich hinterher bei der Lektüre nach einem Drittel des Gesamtumfangs plötzlich feststelle, dass - aha - da jetzt die auf dem Umschlag angekündigte dramatische Wendung kommt, dann hat das einen schalen Beigeschmack. Am schlimmsten finde ich aber die hanebüchene Stereotypisierung der Charaktere, die im Werk selbst viel breiter und wesentlich weniger vorhersagbar angelegt sind. Seichte Protagonisten stoßen mich ab. Ich mache wahrscheinlich bei all dem den Fehler, tatsächlich zu glauben, die Protagonisten seien so seicht, wie es der Klappentext schildert. Aber ich kann das Buch ja nicht schon in der Bücherei zu lesen beginnen, sonst schließen die mich abends ein, ohne es zu merken. (Ich kann mir allerdings schlimmeres vorstellen, als in einer Bibliothek eingeschlossen zu sein.)

Was nun? An Klappentexter appellieren, vorher zu lesen, worüber sie schreiben? Sich mehr Mühe zu geben? An ihren eigenen sprachlichen Qualitäten zu feilen und diese auch einzusetzen? Würde vermutlich wenig helfen. Vielleicht wäre es besser, vom Klappentext gleich auf die erste Seite zu springen und selbst zu sehen, ob die Sprache des Autors und seine Idee mich zu fesseln vermögen. Oder doch noch eine gute Quelle für fundierte, sorgfältige Rezensionen aufzutun, die nicht spoilern. Oder weiterhin Freundin I.s reichlich gefülltes Bücherregal in Anspruch zu nehmen. Mit Algorithmen wie "Kunden, die xxx gekauft haben, bestellten auch yyy" kann ich rein gar nichts anfangen, das erwies sich schon in Sachen Musik. Und was soll auch eine Aussage wie "Schreibt so ähnlich wie..." schon bedeuten? Entweder, jemand schreibt so, wie er schreibt, oder er lässt es besser bleiben.

Mal sehen, ob mir in nächster Zukunft ein Buch unterkommt, nach dessen Lektüre ich über den Klappentext sagen kann: "Ja, genau!" Der unbesungene Held, der gute Klappentexter, hätte sich dann einen Preis verdient. Entscheidet doch, was er schreibt, zwischen "Oh, wie interessant, nehme ich mit!" und "Och nö, langweilig, lass mal lieber...", und damit über die Erschließung neuer Universen oder verschwendete Zeit.

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