Sturmflut
Dienstag, 13. Mai 2014
Weil das raus muss!
Ich brauche ein Ventil für meine Gefühle. Wieder mal merke ich, wie stark ich filtere. Die Selektion ist gnadenlos. Optimismus, Tatendrang, Stärke sind meinem inneren Bewertungssystem nach gefragt. Was nicht gefragt ist und auch keinen Ausdruck finden darf, sind meine maßlose Wut und Hilflosigkeit. Die werden, sobald sie sich einen Weg an die Oberfläche bahnen, sofort auf ihre Legitimität geprüft. Der strenge Kontrolleur in meinem Kopf spricht ihnen die Notwendigkeit oder Berechtigung sofort ab, sobald sie auftauchen.

Zur Zeit wache ich beinahe jeden Morgen mit einer immensen Wut auf meine Ex-Chefin auf. Der Gatte sagt mir immer wieder mit großer und liebevoller Beharrlichkeit, dass die Umstände nicht meine Schuld sind. Aber ich bin unfähig, mir wirklich selbst glaubwürdig zu versichern, dass das so ist. Sobald diese Wut aufkeimt und ich ausdrücken möchte, wie unfair und selbstgefällig ich das Verhalten der Ex-Chefin finde, schaltet sich mein innerer Zensor ein. Aber sie ist doch krank!, Aber vielleicht hast du dich nicht genug angestrengt!, Sie hat sich das sicher auch alles anders vorgestellt!

Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, da ich eine Lanze für mich selbst brechen möchte. Ich möchte anerkennen, dass mir übel mitgespielt wurde. Ich möchte anerkennen, dass das einfach riesengroße Scheiße war, dass man so mit einer anvertrauten Auszubildenden nicht umgeht, selbst dann nicht, wenn sie längst erwachsen ist. Ich habe ein Recht auf diese Wut, auch wenn das Stimmchen in mir bereits jetzt wieder beginnt, herumzumeckern, ich sei selbstmitleidig und würde nur jammern, anstatt selbstkritisch zu sein.

Selbstkritisch war ich zu lange. Es schadet mir, nach den Ursachen für die Misere immer nur bei mir selbst zu suchen. Dann ist es nämlich kein Wunder, dass ich irgendwann mich selbst nicht mehr aushalte - wer so viele Fehler hat, dass er selbstverschuldet in eine solche Lage gerät, dem kann man nichts zugute halten und den kann man auch nicht mögen. All die kanalisierte Selbstkritik, der Selbsthass, kumulierte gestern abend mal wieder, und irgendwann saß ich auf dem Teppichboden meines Arbeitszimmers und schlug mir selbst ins Gesicht, weil ich keinen anderen Ausweg mehr wusste.

Dieses Kranken an mir selbst entsteht aber eben auch deshalb, weil ich unfähig bin, andere von ganzem Herzen und aufrichtig zu kritisieren und die Verantwortung für schwierige Situationen immer bei mir selbst suche. Es gibt aber Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe.

Es ist Zeit, ungeschönt zu sagen: Die Ex-Chefin hat sich verhalten wie ein Arschloch. Ich laste es ihr an, dass sie sich den leichtesten Weg gesucht hat, dass sie auf meine Kosten herumexperimentiert hat, dass sie auf meinem Rücken Lasten abgeladen hat, die sie selbst hätte tragen müssen und für die sie mir nicht einmal Anerkennung hat zukommen lassen. Ich laste es ihr an, dass sie ihre Versprechen nicht gehalten hat und dass ihre schönen Worte nur hohle Phrasen waren. Und ja, deswegen bin ich stinkwütend. Ich konnte nichts für ihre Krankheit, für ihren offensichtlichen Mangel an Menschenkenntnis und Urteilsvermögen und für ihre Launenhaftigkeit.

Das ist alles zum Kotzen. Ihretwegen stehe ich jetzt wieder ohne Job da, muss mir wieder Existenzsorgen machen und weiß nicht, wie es morgen weitergehen soll. Blöde Kuh, verdammt noch mal! Ich habe ihr geglaubt, ich habe meine Hoffnungen in diese Ausbildung gesetzt und für bare Münze genommen, was sie mir sagte. Sie hat mich enttäuscht.

Und wegen all dem soll ich nicht wütend sein dürfen? Mich nicht hilflos fühlen dürfen? Mich zusammenreißen müssen? Das will ich jetzt nicht. Ich habe es einfach satt, immer die einzige Person zu sein, mit der ich ins Gericht gehe. Das habe ich mein Leben lang so gemacht, das hat man mir gründlich beigebracht. Wenn es gut läuft, hattest du Glück. Wenn nicht, hast du dich nicht genügend angestrengt. Ich habe es so satt.

Ich suche nach einer Strategie, mich mehr wertzuschätzen und mir solche Gefühle zuzugestehen. Ich will solche Momente wie gestern abend nicht mehr erleben. Lieber würde ich Pflastersteine in Fensterscheiben werfen und mich sozial total unverträglich verhalten. Anderen weh tun statt mir selbst. Und bereits jetzt, da ich das aufgeschrieben habe, meldet sich die hochmoralische Stimme in mir und sagt: "Das darfst du nicht! Das darfst du nicht einmal schreiben!"

Ich drücke jetzt nicht die Backspace-Taste.

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