Sturmflut
Sonntag, 23. August 2015
Gehört halt dazu, oder?
Als hinter unserem Grundstück ein neues Wohnbaugebiet erschlossen wurde, waren wir wenig begeistert. Bis dahin hatten wir das Privileg eines freien Blicks über die Felder genossen. Aber natürlich kann man anderen kaum das Recht absprechen, dasselbe zu wollen wie man selbst - nämlich ruhiges Wohnen mit viel Grün drumherum. Wir erhielten Einblick in die Baupläne. Entstehen sollte hier ein klassisches Wohngebiet mit Wendeplatz, freistehenden Einfamilienhäusern, Gärten drumherum, Verkehrsberuhigung. Little suburbia.

Tja, in den sauren Apfel mussten wir beißen, und immerhin sind es ja auch nur ein paar Häuser, von denen wir von hier sowieso kaum etwas sehen. Der Platz direkt an unserer Grundstücksgrenze unter den hohen Eichen wurde nicht bebaut. Schön einerseits, andererseits entstand dort ein Spielplatz.

Als wir das in den Plänen gesehen hatten, kam uns Unbehagen auf. Mir glaube ich noch mehr als dem Gatten. Denn Kindergeschrei geht mir bisweilen gewaltig auf die Nerven. Per Gesetz ist Kinderlärm hinzunehmen und kein Anlass zur Klage (weder gerichtlich noch anderweitig). Aber ehrlich, mir kocht manches mal gewaltig das Blut, wenn es mal wieder so weit ist.

Es ist kaum möglich, das zu sagen, ohne als Kinderhasser dazustehen. Schnell wird sich auf den Umstand berufen, dass Kinderlachen, Geschrei und Toben natürliche Äußerungen von Kindern seien. Kritik daran gilt als kinderfeindlich, engstirnig, bieder und unlebendig.

Ich sehe es in der Tat so: Lachen, Toben, Schreien sind Lebensäußerungen von Kindern, die zum Leben dazugehören. Wir hatten definitiv viel zu lange ein Erziehungsumfeld, in dem von Kindern erwartet wurde, brav und angepasst zu sein, nicht aufzufallen, keine Mühe zu verursachen und auch sonst nicht spürbar zu sein. Das ist generell keine gute Idee, weder für kleine Menschen noch für erwachsene.

Dennoch wirkt es auf mich (auch wenn ich mich natürlich in meinem subjektiven Empfinden durchaus täuschen kann), als sei die inzwischen offiziell bundesweit gültige Feststellung, Kinderlärm sei zu tolerieren, für viele Eltern ein Freifahrtschein, gar nicht mehr einzugreifen, wenn ihre Kinder über die Stränge schlagen. "Sind ja Kinder, lass sie doch!" Manchmal kommt der Hinweis dazu, man sei ja auch mal klein gewesen, und überhaupt seien diese Kinder ja diejenigen, die die bereits jetzt so verbitterten Kritiker schließlich im Alter versorgen würden.

Aber nein! Ich hätte keine Lust, mich im Alter versorgen zu lassen von Menschen, die sich bereits im Grundschulalter grenzenlos egoistisch verhalten, weil ihnen niemand Einhalt gebietet (und bezweifle auch, dass auf diese Weise aufgewachsene Menschen sich später freiwillig in sozialen Berufen engagieren). Mir fällt es enorm schwer zu unterscheiden, ob das Geschrei, das in der "verrückten halben Stunde" (die in Wahrheit meistens erheblich länger dauert) die komplette Nachbarschaft beschallt, eventuell Not signalisiert, sich ein Kind wehgetan hat, ob sich gestritten wird oder alles nur einem Aufschaukeln geschuldet ist. Vielleicht braucht man ein Mutter-Gen, um das zu erkennen.

Ich finde es nicht witzig, um fünf Uhr nach hause zu kommen und bei 30 Grad Außentemperatur meine Fenster schließen zu müssen, weil ich mich drinnen auf dem Sofa für eine halbe Stunde ausruhen will, das aber bei dem hochfrequenten Dauergeschrei unmöglich ist.

Ich rede gar nicht von Kinderlachen. Kaum jemand kann etwas gegen Lachen als Lebensäußerung haben, und das zu unterstellen ist boshaft. Ich rede nicht davon, wenn sich die Kids im Spiel gegenseitig zurufen. Ich rede nicht von Geschrei, wenn sich mal jemand ein Knie aufschlägt. Ich rede nicht einmal von ausdauernden Streitereien. Ich rede nicht vom Weinen der Säuglinge und Kleinkinder. Das gehört in der Tat zum Leben dazu.

Mir scheint, es kommt nur kaum noch jemand auf die Idee, Kinder zu begrenzen in ihren Äußerungen. Und so kommen die Kinder nicht auf die Idee, dass es außer ihnen auch noch andere Menschen auf der Welt gibt. Dass Ruhe für andere auch wichtig sein kann. Es gibt hier in der Nachbarschaft beispielsweise Kinder, die ausgesprochen ausdauernd nach Mama, Papa, Oma, Opa oder wem auch immer rufen mit einer äußerst penetranten Wiederholfrequenz, die sofort startet, sobald nicht innerhalb von dreißig Sekunden jemand antwortet. Oder die Fußballkids, die sich gegenseitig äußerst kräftig in Rage brüllen (ganz, wie sie es von Bierflaschen-Spielfeldrand-Papa gelernt haben). Es gibt Kinder, die über lange Zeiträume unglaublich laut zu mehreren schreien (schreien, nicht rufen oder lachen), und alles, was die Eltern dazu von sich geben ist ein gekünsteltes Lachen. "Haha, ist sie nicht wieder witzig, die kleine Annemarie?" Oder sie fallen gleich selbst mit ein, das hatten wir auch schon.

Es gibt Grenzen. Manchmal geht mir das alles ziemlich am Arsch vorbei, das sind die einigermaßen guten Tage. Oft gibt es aber auch Tage, an denen es unerträglich ist. Am unerträglichsten ist mir aber die ignorante Annahme der Eltern, niemand sonst außer ihren Kindern samt ihrer "natürlichen Lebensäußerungen" sei von Belang. Es stimmt einfach nicht, dass Elternschaft Menschen per se zu sozialeren Wesen macht, im Gegenteil. Ich habe es manches Mal schon lebendig und in Farbe erlebt, dass sie den Blick für alles und alle anderen um sich herum verloren haben. Das ist ein echtes Ärgernis.

Paradoxerweise beobachte ich bei Eltern häufig eine zweigeteilte Haltung. Auf der einen Seite möchten sie gern, dass die Gesellschaft Anteil an der Erziehung nimmt. Sich verantwortlich fühlt, sich zuvorkommend, tolerant und "kinderfreundlich" verhält und damit eben das Gebaren ihrer Kinder ein Stück weit aushält, weil es ja schließlich auch um das "Wohl aller" geht. Ich denke da gern an diese mahnenden Aufkleber an den Pfeilern von Fußgängerampeln, auf denen darum gebeten wird, nicht bei Rot über die Straße zu gehen, da anwesende Kinder ja eventuell durch Beobachtung und Nachahmung lernen könnten.

Auf der anderen Seite verbitten sich Eltern aber häufig jegliche Einmischung in ihre Erziehung, vor allem, wenn es um Kritik geht. Ich hätte einiges dazu zu sagen, dass meine Nachbarin für ihre kleine Tochter kaum ein liebevolles Wort übrig hat und sie permanent herunterputzt, aber ich bin mir darüber bewusst, dass das nicht meine Sache ist. Andererseits hätten gerade solche Kinder es nötig, dass man wirklich für sie eintritt. Aber wehe, man wagt es. Kritik an Kinderverhalten ist immer Kritik an elterlicher Erziehung, und da ist kein Spielraum mehr.

Kein Wunder also, dass man als Kinderfeindin gilt, wenn man es wagt, Kinderlärm nervig, anstrengend und lästig zu finden. Aber das hat nichts mit Kinderfeindlichkeit zu tun. Es geht nur darum, dass man der Auffassung ist, Eltern hätten auf das Lärmverhalten ihrer Kinder Einfluss und sollten ihn auch geltend machen. Längst nicht alles ist hier "natürlich" und normal. Aber es kommt einem großen Affront gleich, von Eltern Rücksichtnahme zu verlangen.

Dabei ist gegenseitige Rücksichtnahme durchaus auch bei Eltern gefragt. Man kann sich wünschen, nicht unbedingt unter der Woche mit basslastiger Musik dauerbeschallt zu werden. Schön wäre auch, wenn Motorradfahrer darauf verzichten könnten, ihre Gashähne im Vorbeifahren aggressiv aufzureißen. Und Hundehalter darauf, ihre Fiffis zum Kacken in den Sandkasten zu schicken. Zur Rücksichtnahme gehört, dass ich nicht morgens unter dem Schlafzimmerfenster meiner Nachbarin herumlärme.

Ausgerechnet penetrantes Kindergeschrei soll unabänderlich und natürlich sein und ohne jegliche Möglichkeit der Einflussnahme? Ich glaube kaum. Mir kommt es eher so vor, als sei es eben unbeliebt, gegen Eltern und ihre Erziehungsmethoden überhaupt noch etwas zu sagen. Schließlich stehen wir alle unter dem medial propagierten Eindruck des drohenden demografischen Wandels und haben gefälligst dankbar zu sein, dass die Kinderkrieger überhaupt noch Kinder kriegen. Was aus den Kindern für Menschen werden, ist da wohl eher zweitrangig.

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