Sturmflut
Mittwoch, 5. August 2015
Woher kommt das nur? Ein Versuch.
Vor kurzer Zeit habe ich mich bei Twitter angemeldet. Ich, als chronische Social-Media-Verweigerin! Das muss man sich mal vorstellen. Die Neugier war schließlich stärker. Da traf ich in den letzten Tagen auf alte Bekannte aus Klein-Bloggersdorf: Herrn Giardino und Frau Novemberregen. Und es entspann sich eine kleine Diskussion über die Ursachen von Rassismus.

Ist Rassismus und Fremdenhass ein gesellschaftliches, ein persönliches Problem, oder ist es eher ein soziales? Ich gehe mit Herrn Giardino konform, dass man die Problematik nicht nur auf die soziale Ebene herunterbrechen kann. Es sind nicht allein die sogenannten bildungsfernen Schichten, aus denen zur Zeit die Ressentiments gegen alles Fremde, Andere hochquillen wie Abwasser aus einem Gullideckel. Denn, wie Herr Giardino treffend sarkastisch bemerkte: "In Villenvierteln würde man Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen!"

Mich erinnerte das an ein Interview, das ich vor einer Weile mal gesehen hatte. Ich weiß nicht mehr, um welche Stadt es ging - ich glaube, es war Hamburg. Dort sollten in einem leerstehenden Bau nahe eines gutsituierten Wohnviertels Asylsuchende untergebracht werden, und plötzlich war es nicht mehr so weit her mit dem Wohlwollen der Anwohner.

Mich kotzen diese Ressentiments an, und vor allem das Mäntelchen der Wohlanständigkeit, unter dem sie versteckt werden. Die braune Soße, die hierzulande neuerdings hochkocht, hat nichts mit den Äußerungen besorgter Bürger zu tun. Allenthalben wird die Sorge um deutsche Kinder, deutsche Rentner, deutsche Steuerzahler und deutsche Arbeitsplätze vorgeschoben, um ein halbwegs anständig wirkendes Etikett zu haben für den Ekel und den Hass, den man gegen all die Menschen hegt, die einem selbst nicht ähnlich sind.

Dass man in den Medien extra noch sagen muss, dass "Parteien" wie "Der Dritte Weg" nicht sind, was sie zu sein scheinen... Ja, was scheinen sie denn zu sein? Ich finde, die braune Schmiere ist deutlich erkennbar für jeden fühlenden, denkenden Menschen.

Frau Novemberregen schrieb, wir sollten unsere Haltungen eben reflektieren, und ich stimme ihr zu. Aber das Reflektieren wird zunehmend schwierig. Ich bin der Ansicht, dass wieder hochkommt, was in diesem Land nie wirklich ganz weg war, und dass wir darüber hinaus das Gehorchen gewohnt sind (um mich da ein bisschen bei Hannah Ahrendt anzulehnen).

Zur Zeit wird uns vorgebetet, wir sollten gefälligst Angst haben, und wir gehorchen brav. Wer einen Horst Seehofer hat, braucht keine eigenen Brandstifter. Das Wort von der "Asylantenflut" ist nur die logische Konsequenz seines Bangemachens vor dem einfach mal fraglos in die Welt geworfenen "Asylmissbrauch". Den Beweis, dass es den tatsächlich gibt und wenn, in welchem Umfang, den ist der werte Herr bislang noch schuldig geblieben. Was er das betreibt, ist purer Populismus.

Ich glaube auch nicht nur eine Minute lang daran, dass die Politik die Seiteneffekte ihres Sprechens und Handelns nicht mit einkalkuliert. Pegida und Konsorten hat man keinesfalls nur hingenommen. Man ist sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass das Pöbelvolk aus der Mitte der Gesellschaft ausgezeichnet zum Stimmvieh taugt, wenn jemand auftaucht, der noch radikaler ist. Und dass das passiert, darauf kann man den Allerwertesten verwetten. Gewissermaßen hat Herr Seehofer das ja auch zugegeben, als er sagte: "Rechte Volksverführer verhindern sie nicht, indem sie ein Thema totschweigen oder indem sie die Sorgen und Ängste der Bevölkerung nicht aufnehmen." In Wahrheit lassen sich Leute mit Sorgen und Ängsten prima gebrauchen. Zum Beispiel dazu, die eigene Macht zu zementieren.

Mein Verdacht ist, dass die Menschen es mehrheitlich gern hätten, wie es in der guten alten Zeit war. In der guten alten Zeit war es so: Da war immer jemand, der einem sagte, was man tun sollte. Das war praktisch, denn es befreite vom Selberdenken, von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und von Unbequemlichkeiten. In der guten alten Zeit war es auch so, dass man keine offenen Fragen über Gut und Böse hatte. Die Rollen waren klar verteilt, böse waren immer die anderen. In der guten alten Zeit war es auch so, dass Frauen und Männer noch wussten, was ihre ureigensten Aufgaben waren. Die waren festgeschrieben. Wie viel anstrengender ist jetzt dieses neue Ausloten, das Probieren und Scheitern. Nein, dann lieber die gute alte Zeit. In der guten alten Zeit lohnte sich die eigene Leistung noch. Das hätte man auch gern wieder, weil einem gegen den totalen Kahlfraß des Kapitalismus nichts besseres einfällt, als sich ein Wirtschaftswunder-Idyll zurückzuwünschen, mit deutscher Wertarbeit. In der guten alten Zeit konnte auch nicht jeder einfach so seine Meinung in die Welt hinausblasen. Da musste man schon jemanden kennen, der jemanden kennt.

Wir gehorchen. Problematisch daran ist, dass die Befehle, denen wir gehorchen, inzwischen nicht mehr gebrüllt, sondern geflüstert werden. Die Frage ist vielleicht nicht, ob der aufwallende Fremdenhass in sozialen, psychischen oder gesellschaftlichen Gründen wurzelt. Vielleicht ist es alles zusammen.

Wir sind mit dem Minderwertigkeitskomplex des stets zu kurz Gekommenen behaftet, fürchten um unseren relativen Wohlstand und um das, was uns unserer Meinung nach mehr zusteht als anderen. Mehr als anderen! Womit meinen wir Deutsche eigentlich mehr Menschenwürde verdient zu haben als alle anderen Menschen? Mehr Hilfe? Mehr Dach über dem Kopf? Mehr Essen im Bauch? Mehr Vergnügen, mehr sozialen Status?

Wir meinen, es uns verdient zu haben! Als Steuerzahler, als brave Bürger, als ehrlich Schuftende. Wir als Inbegriff des gehorsamen Arbeitstieres erwarten, irgendwann von einer höheren Macht dafür belohnt zu werden. Wir können es nicht ertragen, dass andere Menschen, die unserer Meinung nach nichts geleistet haben, in diesen Genuss scheinbar ganz von selber kommen. Ohne dass wir es wirklich gemerkt haben, hat uns der Kapitalismus mit Haut und Haaren gefressen.

Das Mitgefühl bleibt auf der Strecke. Der Mensch in dieser Mühle kommt gar nicht mehr auf die Idee, dass freimütig gegebene Hilfe und aufrichtiger Respekt für andere das Leben tatsächlich besser machen. Er ist in einer narzisstischen Kränkung gefangen, die den Blick auf andere verstellt. Er ist kurz vorm Verhungern, obwohl vor ihm ein gefüllter Teller steht und er eigentlich nicht einmal ahnt, was wirklicher Hunger ist.

Die aktuelle Politik führt die Bürger, vor allem die besorgten, da gewaltig aufs Glatteis. Sie greift diese Angst vorm Verhungern elegant auf, indem sie verspricht: "Wir werden dafür sorgen, dass Dir keiner was vom Teller nimmt!" Sie sagt nicht: "Schau, Du bist in Wahrheit schon satt! Dein Hungergefühl kommt von woanders."

Die aktuelle Politik und mit ihr die Vertreter beinahe aller Parteien schreien. "Terrorismus!" "Wirtschaftlicher Abschwung!" Schreien von Sozialschmarotzern, Asylbetrügern und von Pleitegriechen und sie bringen damit eine Saite zum Klingen. Die Medien schreien fleißig mit. Wer an das Märchen der Machbarkeit, des ewigen Wachstums und der totalen Sicherheit glaubt, muss sich an der Realität wundscheuern.

Das falsche Trostpflaster sagt, schuld seien die Anderen. Der Feind wird außen gesucht. So hat es sich bewährt. Das können wir so gut, Schuldige suchen. Man hat es uns nicht gründlich genug ausgetrieben, wir haben es nicht gründlich genug verlernt. Hatte nicht Opa auch immer gesagt, damals hätte es keine Arbeitslosen gegeben? Damals in der guten alten Zeit, als wir noch nicht selbst denken mussten. Nur zur rechten Zeit den rechten Arm hochreißen. Lagerfeuer gab's dazu und das Gefühl, dazuzugehören. Zu den Starken, die alles erreichen.

Dass die besorgten Bürger letztendlich nicht mehr sind als auf dem Teppich sitzende, trotzig heulende Babys, ändert nichts an ihrem Hass und ihrer Angst. Mit dieser Energie kann man was anfangen. Häuser anzünden. Leuten mit den falschen Gesichtern aufs Maul geben. Nachtreten, Nagelbomben bauen, es den eigenen Kindern ins Ohr flüstern.

Zu glauben, das Problem sei eines mangelnder Bildung und materieller Sicherheit, greift sicher zu kurz. Ähnlich, wie diejenigen Menschen Fremde am meisten zu hassen und zu fürchten scheinen, die am wenigsten Kontakt zu ihnen haben, fürchten wohl auch diejenigen den Verlust ihrer Güter und Privilegien am meisten, die das meiste besitzen. Oft, aber nicht immer habe ich die Beobachtung gemacht, dass gerade diejenigen am freimütigsten teilen, die selber wenig haben.

Reflektieren sollten wir, ja. Und diskutieren, auf keinen Fall damit aufhören. Wir können noch so gebildet sein, das schützt uns nicht vor der alten, festsitzenden Angst, ungerecht behandelt zu werden. Wir sollten unsere Augen und unser Herz benutzen. Wer sich fürchtet, kann nicht denken, und wer sich fürchtet, kann nicht mit anderen fühlen.

Zur weiteren Lektüre kann ich Arno Gruen empfehlen. Der befasst sich äußerst plausibel und aufschlussreich mit der psychischen Seite dieser Dinge.

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Friesland: Gesehenes


Nicht ohne Grund hatte ich mir für meine kleine Wanderreise Friesland ausgesucht. Einerseits, weil das Ziel erreichbar war, ohne dafür ein halbes Vermögen ausgeben zu müssen (zumal die niederländische Bahn um einiges günstiger ist als die deutsche - davon kann sich die DB mal eine Scheibe abschneiden). Andererseits wegen des Wunsches, am Wasser zu sein. Hinzugehen, wo ich vorher noch nie war. Und weil mich die Orte dort irgendwie anrühren.



Nun hat mir der Regen gewissermaßen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das macht das Gesehene aber nicht weniger schön und intensiv.



Die endlosen, gleichförmigen Wiesen mit Kühen und Schafen muss man schon mögen. Aber es gab auch die kleinen Dörfer, das Meer und den Deich, Häuser mit Giebeln und Häfen mit Booten.





Das rote Fischgrätpflaster erinnerte mich an West-Terschelling (was immer ein guter Anfang ist), aber doch hatten die Dörfer aller friesischen Gemeinsamkeit zum Trotz einen ganz eigenen Charakter.



In Workum hatte ich reichlich Gelegenheit, ohne das Gewicht des Rucksacks auf den Schultern durch die Straßen zu schlendern und Eindrücke aufzusaugen. Ich mag dieses Langsamgehen, weil man Dinge und Blickwinkel entdeckt, die man sonst nicht sieht.



Und tatsächlich kam dann an meinem Abreisetag auch noch die Sonne heraus und ich musste meine Jacke ausziehen. Das entschädigte etwas für die Sturzbäche der vorangegangenen Tage.



Etwas Besonderes ist an diesen Orten, das sich nur schwer beschreiben lässt. Die Zeit hat zum Beispiel ein anderes Gewicht. An Plätzen, an denen Brücken für vorbeikommende Boote und Schiffe hochgezogen werden und wo alle anderen dann warten müssen, tickt sie anders.



In der Hochsaison natürlich besonders. Ich erinnere mich an die deutsche Touristenfamilie, die in Harlingen an einer solchen Brücke hinter der Schranke stand und irgendwann ungeduldig wurde. "Komm, Helga, wir gucken mal, ob man da drüben schneller weiterkommt!"



Wenn man aber wartet und zu gegebener Zeit seinen Weg wieder aufnimmt, kann es sein, dass man sich das freundliche Nicken eines Brückenwärters einfängt oder von einem Schiff aus ein Winken geschenkt bekommt.



Was mir von der Landschaft, den kleinen Dörfchen und von Workum außer dem Regen noch im Gedächtnis bleiben wird: Kirchtürme, die sich trotzig in den Wind stellen. Bunt geflieste Hauseingänge. Große Fensterläden.



Flatternde Flaggen an Häusern und auf Schiffen. Das Geräusch von Autoreifen auf gepflasterten Straßen. Wind, der das Wasser kräuselt und durch das Schilf an den Gräben rauscht.



Neugierige Blicke von Schafen und Kühen. Blaue Keramikfliesen auf den Straßen. Katzen hinter Fensterscheiben.



Seniorengruppen auf E-Fahrrädern. An Kleiderbügeln trocknende Neopren-Anzüge. Schafsköttel auf dem Deich. Der Duft von frittiertem Fisch.



Leinen, die klingend gegen metallene Masten schlagen. Spatzen, die mit schiefgelegtem Kopf auf Stuhllehnen sitzend auf Croissantkrümel lauern.



Das Gemisch an Eindrücken, das eine Reise in einem erzeugt, lässt sich nur schwer in Worten wiedergeben. Nicht nur was man sieht ist prägend, es kommt der Geruch der Luft hinzu, die Farbe des Lichts, das Gefühl, das Orte auf der Haut hinterlassen.



Wenn ich ein andermal wiederkomme, wird es anders sein. Und trotzdem...

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