Sturmflut
Zu viele Menschen
Ein verschneiter Januartag in Hamburg: Ich bewege mich auf versalzenem, nassen Asphalt im Hauptbahnhof durch mir entgegenströmende Menschenmengen und merke, das bin ich nicht mehr gewohnt. Meine Augen sind überfordert mit den vielen Gesichtern, mein Körper mit den Ausweichbewegungen, mein Geist mit der Suche nach dem richtigen Weg.

Dabei war das Stadtleben mal kein Problem. Ich nutzte die Nacht für ausgedehnte Stadtspaziergänge. Die Punks kriegten ihren Euro und Leute, die mir komisch kamen, eine gelassene Antwort. Ich mochte nächtliche Fahrten mit der Straßenbahn und die Art, wie Lichter an mir vorbeizogen. Keine Furcht.

Jetzt ist es anders. Meine irritierten Blicke sprechen eine deutliche Sprache. Es ist mir anzusehen, dass ich mich fühle wie einem Museum für Spielarten menschlichen Verhaltens - wie ein Zuschauer, ein Besucher, definitiv nicht Teil des Geschehens, sondern in der Distanz. Es ist keine reine Abscheu, mit der ich auf das großstädtische Geschehen reagiere, eher eine Art tiefe Erschütterung.

Es gibt nur weniges, das ich mir gern am Stadtleben einverleiben würde. Die Möglichkeit, zu fast jeder Tageszeit ein Café aufzusuchen vielleicht. Oder die Vielfalt an kulturellen Möglichkeiten, gegen die sich das kleinstädtische Angebot hier ausnimmt wie eine Schulaufführung.

Größer ist der Teil der Eindrücke, gegen die ich mich wehren möchte, die ich aber vielleicht auch nur wahrnehme, eben weil ich sie nicht gewohnt bin. Ich bin nicht naiv. Aber meine Hornhaut scheint nicht dick genug zu sein, um mich abzugrenzen gegen das Bild des Punk-Mädchens, das mit in den Ärmeln versteckten Händen, rotgeschwollenen Augen, verschlossenem Gesicht und meilenfernen Blick die ganze Nacht U-Bahn fährt, weil das wärmer ist als der Schneefall draußen. Ich bin nicht stumpf genug, um die Kontraste zu ignorieren zwischen dem Menschen, der auf der Reeperbahn im Schneematsch sitzt, vor sich einen Pappbecher, den Blick zum Boden gerichtet, kaum wahrgenommen als Person, und der mit glänzenden Lacktüten bepackten, blondierten Pelzträgerin, die den Jungfernstieg herunterstöckelt.

Mich überschwemmen diese Eindrücke, und mit ihnen kaum erträgliche Verzweiflung und Ekel. Vor allem Ekel über das Lebewesen, das sich so gern als die Krone der Schöpfung bezeichnet und dessen Existenz auf dieser Welt Blüten treibt, deren Absurdität besonders in Ballungsgebieten deutlich sichtbar wird. Wenn man stark oder auch schwach genug ist, hinzusehen. Ich gebe zu, in dieser Hinsicht bin ich ein wenig misanthropisch.

Zugleich konfrontiert mich die Stadt mit großen, unüberschaubaren Menschenmengen, und ein Schatten von Erkenntnis schleicht sich in mein Bewusstsein. Es ist die Erkenntnis darüber, dass sich hinter all diesen Gesichtern, unter all den Mänteln, in all den Schuhen individuelle Existenzen verbergen, mit eigenem Himmel und eigener Hölle. Sie alle zu erfassen ist unmöglich, sie alle zu bewerten arrogant. Begegnung ist immer nur vereinzelnd möglich, andere Vorstellungen als diese überfordern mich angesichts der schieren Masse. Trotzdem ist ein streiflichtartiger Blick darauf verführerisch, weil er mir eine Ahnung gibt von der eigenen Bedeutungslosigkeit und zeitgleich der eigenen Bedeutsamkeit. Es ist ein Gedanke zum Schwindeligwerden.

Dieses Schwindelgefühl ist allerdings auf Dauer für mich unerträglich, ebenso wie das der Verzweiflung. Es bleiben die Möglichkeiten der Flucht davor - ins Innere oder in die Ferne. Die Flucht ins Innere würde bedeuten, ich ließe mir besagte Hornhaut wachsen, lernte jeden Tag mehr, nicht mehr hinzuschauen und nicht mehr hineinzusehen, legte mir Scheuklappen zu. Eine völlig legitime Strategie. Die Flucht in den räumlichen Abstand bedeutet, ich entziehe mich der täglichen Konfrontation mit diesen vielen anderen Menschen und wähle eine Umgebung, die meinem Auffassungsverhalten mehr entspricht - in diesem Fall dünner besiedeltes, weniger frequentiertes Terrain. Das erspart es mir, in ständiger Anpassung und Reaktion leben zu müssen, bewahrt mir aber zeitgleich die Möglichkeit, doch hinzuschauen, wenn ich mir dieser Form menschlichen Erlebens wieder bewusst werden will.

Manchmal liebe ich es, weit und breit keine Menschenseele sehen zu müssen. Mein Schritt muss sich keiner fremden Richtung, keiner Mauer, keinem Tempo anpassen. Auch das kann Freiheit bedeuten.