Sturmflut
Das Männlein
In der Nähe meines Arbeitsplatzes gibt es eine kleine Bäckerei, ein schmaler Laden, beinahe nur so breit wie die Eingangstür. Der leistet mir, was öfters mal vorkommt, bei knurrendem Magen oder Heißhunger auf Süßes, Abhilfe. Ich stehe also morgens irgendwann von meinem Platz auf mit den Worten "Jemand was vom Bäcker?", und wenn dann die Auftragslage klar ist, verschwinde ich mal kurz die paar hundert Meter die Straße runter, um mir pappige Weißmehlbrötchen oder Donauwellen vom Vortag verpassen zu lassen.

Oft wartet dann auf dem Bürgersteig schon das Männlein. So nenne ich insgeheim den alten Herrn in grauem, knielangen Kittel mit Schiebermütze, der fast täglich dafür sorgt, dass Geh- und Radweg vor seinem Haus pikobello sind.

"Naaa, junge Frau? Habense Kuchen mitgebracht?" fragt er immer mal wieder. Und dann bleibe ich stehen, mit dem Portemonnaie und Brötchentüten in der Hand und er stützt sich auf seinen Besen und wir plaudern ein paar Minuten. Über dies und das. Er ist neugierig und verschmitzt, manchmal glaube ich sogar, er flirtet ein bisschen.

Er erzählt, dass er in dem Gebäude zur Schule gegangen ist, in dem heute der Hauptsitz der Firma ist, bei der ich arbeite. "Ich bin gern zur Schule gegangen!" sagt er, ""Du musst besser aufpassen!" hat der Lehrer gesagt, aber wir sind nie geschlagen worden. Das war eine schöne Zeit." Er fragt mich, ob ich Kinder habe. Ich verneine. "Nööö," meint er, "das muss ja auch nicht sein. Lassen Sie mal, so haben Sie viel mehr Freiheit!" Endlich mal einer, der einen nicht dafür verurteilt. Von dem alten Herrn hätte ich das zugegebenermaßen am wenigsten erwartet.

Gestern erzählt er von seiner Frau, die plötzlich vor einem Jahr morgens tot neben ihm im Bett gelegen habe. Die alten Augen werden feucht, und wir sind uns einig, dass das Leben beileibe nicht immer schön ist. Er vermisse sie, sechzig Jahre seien sie verheiratet gewesen. Seitdem müsse er alles allein machen - spülen, fegen, aufräumen. Aber immerhin, ab und an komme ihn der Sohn besuchen - der eine, denn der andere sei auch schon tot.

Im nächsten Moment fängt er sich wieder, schaut mich mit glitzernden Augen an und dann auf die Bäckerei-Tüte, und er fragt: "Habense denn auch 'nen Kaffee dazu? Prima! Na denn mal guten Appetit..."

Später, als ich mich nach Feierabend mit la bicicletta auf den Heimweg mache, steht er wieder auf dem Gehweg und schaut den Angestellten der Stadt beim Bäumesägen zu. Und nimmt die Mütze vom Kopf und winkt mir damit.

Seine leise, weise Art bedarf keiner Analyse. Ich mag das Männlein.