Sturmflut
Misstrauensreflex
Gestern abend klingelte mein Telefon. Im Display eine Nummer, die mir vage bekannt vorkam, die ich aber nicht ohne weiteres zuordnen konnte. Am anderen Ende der Leitung war G., eine Freundin meiner Eltern, die ich selbst auch schon lange kenne und mit der ich mich sehr gut verstehe. Vor längerer Zeit kam sie regelmäßig zu mir, um sich gemeinsam mit meiner Mutter ein wenig Englisch von mir beibringen zu lassen.

Sie fragte mich, ob ich nicht einmal Lust auf ein Treffen hätte, irgendwo Kaffee trinken, ein bisschen quatschen. Ich sagte freudig zu. Sie ist eine fröhliche, offene und lebensbejahende Person, mit der sich sehr angenehm die Zeit verbringen lässt. Wir vereinbarten einen Termin, und ich freue mich auch sehr darauf.

Als ich dann aber aufgelegt hatte, schlichen sich plötzlich Fragen in meinen Kopf. Warum hat sie genau jetzt angerufen, nach so langer Zeit? Könnten meine Eltern sie gebeten haben, sich mit mir zu treffen, um endlich mal wieder Informationen aus erster Hand über mich zu erhalten? Meint sie es wirklich ehrlich mit mir? Wie Gift mischen sich diese Gedanken in meine heitere Erwartung und die Freude darüber, dass sich G. an mich erinnert hat und sich mit mir treffen will. Schwarze Tinte, die sich in einem Glas mit klarem, kühlem Wasser ausbreitet.

Natürlich werde ich sie treffen, und ich möchte das auch genießen. Ich werde mich über diese albernen Verschwörungsgedanken hinwegsetzen und das Beste annehmen. Was mich sehr erschüttert ist, wie tief und nachhaltig mein Misstrauen ist. Die Tatsache, dass ich meinen Eltern nicht so weit traue, wie ich sie werfen kann, färbt auch auf die Menschen in ihrem Umfeld ab. Aber was bedeutet das für mich? Mit welcher Berechtigung habe ich so ein mieses Bild von G.? Schade ich nicht in erster Linie mir selbst, indem ich immer und immer wieder die Motive der Menschen hinterfrage, mit denen ich zusammentreffe? Indem ich nicht mit Solidarität und aufrichtiger Freundlichkeit rechne, sondern mit Fallstricken, Hintertüren und Falschheiten?

Ich möchte gern die Erfahrung machen, dass Menschen anders sind, und ich mache sie auch. Kann es immerhin inzwischen.

G. ist eigentlich kein Mensch, der sich von anderen instrumentalisieren lässt. Vielleicht wird sie mich fragen, wie es mir im Bezug auf meine Eltern geht. Aber ich glaube, ich werde es schon spüren können, ob sie das aus echtem Interesse tut oder weil sie dazu instruiert wurde. Möglich auch, dass ich die Macht meiner Eltern nach wie vor maßlos überschätze und ihre Maßstäbe für allgemeingültiger halte, als sie tatsächlich sind.

Selten war ich versessener darauf, mich von der Wirklichkeit eines Besseren belehren zu lassen.