Sturmflut
Unworte
Ich hatte mich schon in einem ellenlangen Artikel darüber auslassen wollen, dass der Ausdruck "Sozialtourismus" das Zeug zum Unwort des Jahres 2013 hat, als ich gestern las, dass es tatsächlich dazu gewählt worden war. Die Begründung für die Wahl dieses Begriffes war auch genau die, die mir durch den Kopf spukte. Der Ausdruck ist ein polemisches Unding. Eben ein Unwort. Allein die Verbindung dieser beiden Worte impliziert: "Die kommen alle zu uns, weil sie es sich hier auf unsere Kosten mal so richtig gut gehen lassen wollen!"

Was auch sonst tut ein Tourist, als faul zu sein und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen? Schweinerei, überhaupt! Die bösen Rumänen und Bulgaren, diese dreckigen, faulen Säcke. Sowas würde sich ein strammer Deutscher natürlich nicht erlauben. Der steht noch aufrecht, mit der Schaufel in der Hand, wenn ihn Ströme von Einwanderern überrennen. Ja, ja.





Ich weiß, ich soll keine Kommentarspalten lesen. Nicht bei Freenet, und auch nicht anderswo. Denn da treiben immer wieder solche Halbleichen an die Oberfläche und tun ihre Ansichten kund über die Welt, wie sie wirklich ist. Ungut, aber kundtun darf jeder.

Es gibt offenbar viele Menschen in diesem Land, die meinen, es gebe tatsächlich so etwas wie "Sozialtouristen". Vor allem meinen das die ewig Zukurzgekommenen. (Dass es hier Rentner zu sein scheinen, nehme ich mal als Randerscheinung von zweitrangigem Interesse hin - das könnte man noch mal separat diskutieren.)

Sozial möchte man nicht mehr sein. Man möchte nicht mehr teilen, schon gar nicht mit denen, die nicht nützlich sind und sich nicht anpassen. Man vergleicht sich permanent, und man selbst schneidet dabei grundsätzlich immer besser ab. Alles, was unter den Begriff "sozial" fällt, betrachtet der Deutsche neidisch als das, was anderen zugute kommt. Gleich hinterher mutmaßt er außerdem, dass die anderen das überhaupt nicht verdient haben, im Gegensatz zu ihm selbst. Er hat schließlich hart gearbeitet für sein Feierabendbier. Man mag das alles als Marotte einiger Stammtischsitzer abtun, aber ich habe den Verdacht, da ist noch mehr.

Wer sich nicht in die Tretmühle des Kapitalismus einfügen will oder kann, der zählt nicht mehr, weil er nicht verwertbar ist. Der Mensch wird nach seiner Nützlichkeit beurteilt. Eine solche Rechnung ist eiskalt. Dass ausgerechnet hier in Deutschland ein Begriff entsteht wie "Sozialtourismus", ist symptomatisch. Wir wollten schon immer unseren Platz an der Sonne und haben giftig geguckt, wenn wir fürchteten, dass andere ihn uns streitig machen. Die Furcht allein reicht auch schon aus, um Tatsachen geht es gar nicht. Denn was wissen wir eigentlich von der Not derjenigen, die wir so leichtfertig als Sozialtouristen, Sozialschmarotzer oder Sozialbetrüger bezeichnen? Wie kann es sein, dass sich die Leute aus ihrem Fernsehsessel heraus ein Urteil über diejenigen erlauben, die sie noch niemals persönlich getroffen und gesprochen haben und desgleichen vermutlich auch niemals tun würden?

Es ist nicht allein der Hass auf das Fremde, der eine Rolle spielt, auch wenn ich glaube, dass er nicht zu vernachlässigen ist. Es ist auch die Angst vor den Schwächeren. Die will man in unserer Verwertungsgesellschaft nicht sehen, weil sie so drastisch verkörpern, dass man tatsächlich scheitern kann. Sogar ohne eigenes Zutun. Also muss man ihnen die Schuld für ihre soziale Bedürftigkeit selbst in die Schuhe schieben, weil das die eigene Seele schützt.

Der "Penner" auf der Straße ist an seinem Unglück selbst schuld, er braucht sich doch nur zusammenreißen, sich einen Job suchen, sich um Himmels willen mal zu rasieren und mit dem Saufen aufzuhören, und dann wird das schon was. Die arbeitslosen Jugendlichen, die auf der Straße herumhängen, müssten nur einmal wieder lernen, wie man sich ordentlich ausdrückt, höflich und pünktlich ist und fleißig lernt, dann wird das schon. Und die Rumänen und die Bulgaren, die sollen doch bitte in ihrem eigenen Land bleiben und dort fleißig sein, anstatt sich hier einen lauen Lenz zu machen. Dann wird das schon.

Platz für Solidarität ist da nicht. Sozial zu sein und sich verbunden zu fühlen geht nur, wenn sich eben nicht alles an der Nützlichkeit des Menschen ausrichtet. Aber an der Nützlichkeit muss sich alles ausrichten, weil es der Wahnsinnskapitalismus, in dem wir uns befinden, so verlangt. Der Mensch zählt nur noch als ökonomischer Faktor, nach seinem in Ziffern ausdrückbaren Nutzen. In unserem kapitalistischen System müssen sich auch Krankenhäuser und Altenheime rechnen, werden Unglücke und Naturkatastrophen an ihrem volkswirtschaftlichen Schaden in Euro gemessen, lässt sich den Menschen mit der Drohung des Verlustes von Arbeitsplätzen beinahe jeder Kompromiss abringen. Und die soziale Rolle des Staates wird zum notwendigen Übel degradiert, was auch die Menschen, die auf soziale Zuwendungen angewiesen sind, zu reinen Übeln, zu Soll-Posten auf der Rechnung macht.

Und als ob sich das deutsche Sozialsystem so leicht betrügen ließe. Ich habe schon nicht geglaubt, dass das einfach ist, bevor ich gemeinsam mit dem Gatten begann, sicherheitshalber die Anträge auf Hartz IV auszufüllen. Jetzt, hinterher glaube ich es schon gar nicht mehr. Man muss wirklich alles offenlegen und hat bei Nichterfüllung bestimmter Erwartungen mit harten Sanktionen zu rechnen. Ich würde keine Lanze brechen wollen für das deutsche Sozialsystem. Trotzdem bin ich gerade froh, dass wir uns noch nicht wie Amerika im Endstadium des Kapitalismus befinden. Das dicke Ende kommt erst noch. Man wundert sich in Deutschland allenthalben darüber, dass bei guter Konjunktur trotzdem die Sozialausgaben nicht sinken. Wie sollten sie, wenn all die fleißigen Minijobber und Zeitarbeiter und Niedriglöhner von dem, was sie erhalten, nicht leben können?

Sie widern mich an, diese boulevardbetäubten Sesselfurzer, die wie kleine Kinder herumnörgeln: "Und wer kümmert sich um uns?" Ihre kurzsichtigen Gefühle im Bezug darauf, wer sie sind (deutsche Bürger), was sie geleistet haben (harte Arbeit), was sie erleben (echte Not) und was ihnen zusteht (mehr), machen sie zum Maßstab dafür, was für Bedürfnisse und Rechte andere haben sollen (möglichst keine). Sie geben sich gar nicht die Mühe, sich mit den realen Problemen auseinanderzusetzen, die bei all dem eine Rolle spielen. Sie weigern sich zu begreifen, dass die Zeit der Nationalstaaten vorbei ist und es blauäugig ist, sich einmauern zu wollen. Vermutlich ist es ihnen auch egal, vielleicht sogar ganz recht, dass Flüchtlinge massenweise im Mittelmeer ersaufen. Wechselt man halt den Fernsehsender.

Aber die Sesselfurzer sind meines Erachtens einer geschickten Wortschöpfung auf den Leim gegangen, die von vornherein dazu konstruiert war, ihr Gefühl von Ungerechtigkeit zu befördern und die Angst vor Zuwanderern zu schüren. Das lenkt dann so wunderbar davon ab, dass das massenhafte Angewiesensein auf Sozialleistungen, ganz gleich aus wessen Hand, lediglich die Kehrseite der Medaille ist, auf deren Vorderseite in fester Überzeugung tief eingraviert die Worte "Ewiger Wohlstand, ewiges Wachstum" stehen. So spaltet man elegant die Menschen in zwei Lager. Man möchte nur die Reichen, die Produktiven, die Selbständigen und ignoriert dabei, dass die Ursachen für die Armut der anderen im System liegen, nicht im Selbstverschulden.

An die Stelle der polemischen Aussage, Ausländer nähmen uns die Arbeitsplätze weg, ist jetzt die noch polemischere Aussage getreten, sie "plünderten" unsere Sozialkassen. Da eröffnet sich noch einmal eine neue Dimension. Jetzt spürt der brave Bürger, es geht ans Minimum, an die letzte Reserve, und er fürchtet die Migranten wie eine Horde von Heuschrecken.

Die Heuschrecken aber sind in Wahrheit andere.