Sturmflut
Montag, 26. September 2011
Ja und Amen? Nein danke!
Das Tamtam, das um den Besuch des Papstes in Deutschland gemacht wurde, ist eines säkularen Staates unwürdig. Ich kann aus all dem nur folgern, dass Deutschland kein solcher ist. Die Mumie aus Rom tauchte auf, wurde hofiert ohne Ende (Bundespräsident Wulff: "Willkommen zu Hause, Heiliger Vater"), durfte im Parlament sprechen und meinte schließlich wie gehabt, Empfehlungen und Ratschläge aussprechen zu müssen. Das wird erwartet. Wer nicht selbst denken will, ist halt auf die Ratschläge alter Männer angewiesen. Übrigens macht die plakativ nach außen demonstrierte Nähe der C-Partei zum Papst das C in ihrem Namen auch nicht wahrer. Zumindest dann nicht, wenn man "christlich" wie üblich stark verkürzt als irgendwie nett, nächstenliebend und gutmenschlich interpretiert.

"Die Rede hatte höheres Niveau als normalerweise im Bundestag geboten. Deutlichst." schrieb Cassandra. Klar, wenn vorgetragen wird anstatt debattiert, und wenn kein Konsens gefunden werden muss, sondern ein autoritärer Kirchenvater der Welt verkündet, was die Wahrheit ist und was nicht, dann ist das so. Da geht es ja auch nicht um Vertreten von Interessen, sondern um das Dozieren von Dogmen. Davon kann man begeistert sein. Wer drauf steht.

Toll, wie Joseph Ratzinger versuchte, den Zustand der Welt auf ein Scheitern des Rechtspositivismus zurückzuführen. Die Frage, worauf wir unsere Regeln des Zusammenlebens gründen müssten, um der menschlichen Natur in ihrer Tiefe und Weite wieder gerecht werden zu können, beantwortete er mit einem Verständnis von Naturrecht, hinter dem ein Schöpfergott steht. Wie auch immer es kommt und welche Umwege man auch immer nimmt, letztlich ist und bleibt so Gott der Maßstab für alles moralische Handeln. Vom Papst nicht anders zu erwarten - dennoch hochgradig überflüssig und unlogisch.

Ratzinger zitiert Kelsen. "Der große Theoretiker des Rechtspositivismus, Kelsen, hat im Alter von 84 Jahren – 1965 – den Dualismus von Sein und Sollen aufgegeben. Er hatte gesagt, daß Normen nur aus dem Willen kommen können."

Das ist soweit noch nachvollziehbar. Aber warum sich einen Gott konstruieren, der diesen Willen vorgibt? Es ist zutiefst logisch und sinnvoll, in moralisch-ethischen Belangen eine gangbare Übereinstimmung mit den Mitmenschen erreichen zu wollen. Es sichert unser soziales Miteinander, es sichert die ungestörte Entwicklung und Entfaltung unserer Psyche, es sichert das Überleben und stiftet Zusammengehörigkeit. Alles Dinge, die man wollen kann. Dazu braucht es keinen Gott, sondern lediglich die Erkenntnis, dass wir nicht allein sind und ausreichend Mitgefühl mit unseren Mitmenschen, um zu verstehen, dass Regeln für alle gelten sollten. Dieses Mitgefühl fällt aber nicht vom Himmel, es wird einem nicht von einer höheren Macht geschenkt, sondern es entsteht nur in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leiden und der eigenen Menschlichkeit. Hinzu kommt das Erkennen der Abhängigkeit und Verbundenheit im Bezug auf alles, was uns umgibt.

Das steht in direktem Gegensatz zur Herrenmentalität, die sich schon in der Bibel ausdrückt in den Worten: "Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen." Wir sind keine Herren. Wir sind nicht mehr und nicht weniger als gleichwertige Glieder in einer Verkettung alles Lebenden. Damit können wir nicht umgehen. Daher müssen wir behaupten, es gebe einen Gott, der uns nach seinem Bilde schuf. Wie vermessen.

Nichts, was Herr Ratzinger zu sagen hatte, hat mehr Wahrheitsgehalt als jede beliebige andere Werbebotschaft. Er reiht sich nur ein in all die Prediger, die uns mit ihren Botschaften vom Leben (mit allen seinen Haken und Ösen) abhalten. Eine Mischung aus Heilsversprechen und Drohungen hält die Menschen bei der Stange, zudem Bequemlichkeit und der Hang zur Unmündigkeit, die Ablehnung der eigenen Fehlerhaftigkeit und die Hoffnung, dass es einem dereinst besser gehen möge als zur Stunde.

Ratzinger merkte an, Freiheit brauche die Rückbindung an eine höhere Instanz. Wozu? Freiheit braucht allenfalls die Rückbindung an gemeinsame moralische Werte. Ich bin es so Leid, dass Nicht-Christen oder Gottlosen generell ein Mangel an Werten unterstellt wird. Noch dazu kommt das Gejammer über den Werteverfall von einer Institution, die es selbst schon lange verlernt hat, das Wohl der Menschen in den Blick zu nehmen. Die strengen moralischen Maßstäbe, deren Verlust die Kirche beklagt, erfüllt sie selbst nicht. Im Gegenteil, im Namen der Religion werden allerhand Schandtaten verübt - sowohl auf psychischer als auch physischer Ebene - die mit hohen ethischen Werten nicht im geringsten vereinbar sind.

Das wäre alles schon schlimm genug, handelte es sich um einen Club, der seine obskuren Ideen von Gott und dem ganzen Rest privat auslebt. Aber der Clubvorstand erhält in unserem Land (und überall auf der Welt) ein Podium, und es wird ihm von Staatsangestellten applaudiert. Das allein ist schon ein Schlag ins Gesicht der Minderheit, die diese Pappnasen nicht gewählt hat (wie das in einer Demokratie nun mal so ist). Es beweist, dass die Regierungsbeteiligten in diesem Land mit der Verantwortung nicht umgehen können, die sie auch für die Belange der Anderswähler innehaben. Die Prioritäten lagen wohl anders - was eine Menge über die Christdemokraten aussagt. Mehr, als Worte es vermögen.

Mag sein, dass das "christliche Abendland" seine Wurzeln in diesem Glauben hat. Das ist aber keine besonders gute Begründung dafür, sein Leben lang in Windeln herumzulaufen. "Die Kirche darf sich nicht der Gegenwart anpassen" - damit bringt's der Pontifex auf den Punkt. Der Laden samt seiner Vertreter ist etwas für Ewiggestrige, die sich hartnäckig weigern, erwachsen zu werden und die Sorge für sich und die Mitmenschen lieber einem Phantom übertragen, statt sie selbst in die Hand zu nehmen. Wer kein Schaf ist, braucht auch keinen Hirten.

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Donnerstag, 22. September 2011
Georgia, Georgia...
Es war reichlich naiv, zu hoffen, dass irgend etwas noch die Wende hätte bringen können für Troy Davis. Trotzdem hofften wir. Dass es vergeblich war, überraschte mich nicht. Es schmerzt trotzdem, und es macht wütend.

Ich mache mir wenig Illusionen über Amerika. Trotzdem sollte man doch meinen, dass bei einer Umkehr der Beweislast vor Gericht (ein eklatanter, grundsätzlicher und willkürlicher juristischer Mangel!) und einem Mord, verübt von staatlicher Seite, mehr Menschen aufschreien würden. Vielleicht mache ich mir auch Illusionen über Menschen. Denn schließlich hat das Publikum gejubelt, als der widerliche Rick Perry verlauten ließ, er sei bereit in Kauf zu nehmen, dass auch mal ein Unschuldiger die Giftspritze erhalte, und wer nach Texas komme und einen Bürger des Staates umbringe, müsse mit der Todesstrafe rechnen.

Die perfide Freude in seinen Augen und der Jubel verursachen mir Übelkeit und machen mir Angst. Ebenso wie der Mord an Davis. Es geht um Rache. Es geht immer nur um Rache. Als sich heute nacht die Angehörigen Mark Allen MacPhails die Nasen an der Scheibe plattdrückten, als Troy Davis vor ihren Augen ermordet wurde, ging es um nichts anderes als Rache. Es stößt mir verdammt sauer auf, dass ein Staat, der Lynchjustiz offen praktiziert, es gleichzeitig wagt, sich Freiheit und Demokratie auf die Fahnen zu schreiben. Auch da mache ich mir schon seit Jahren nicht mehr die geringsten Illusionen, aber ich stelle fest, dass ich immer noch berührbar bin. Ich verachte sie zutiefst, diese abartige Kombination von Bigotterie, Menschenverachtung und Weltpolizei-Gehabe. Diese arrogante Anmaßung, über alles und jeden nach eigenem Ermessen richten zu dürfen - in den eigenen, vermuffelten Bundesstaaten, in denen noch Heugabelgesetze zu herrschen scheinen ebenso wie weltweit.

Bei uns kommt es auch noch so weit. Spätestens, wenn wir es nötig haben, aufgrund unserer allgemeinen Haltlosigkeit die Welt wieder rigoros in Gut und Böse, in uns selbst und andere einzuteilen. Spätestens, wenn die üblichen Verführer mit ihrem Geschwafel von mehr Sicherheit (und der Zukunft unserer Kinder) mehr Gehör finden. Spätestens, wenn die politische "Mitte" sabbernd und ohne nachzudenken die Parolen von rechts für sich adaptiert, weil es beim bildlesenden Volk so gut ankommt. Die entsprechende Geisteshaltung dräut schon am Horizont.

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Mittwoch, 14. September 2011
Aphorismen und Soundtracks vom Coach
Manchmal stellt man fest, dass es einem anderen Menschen hervorragend gelungen ist, zu formulieren, was man selbst fühlt, denkt, aber nicht in Worte fassen kann. Dann schwingt irgendwas im Inneren, und man denkt: "Ja, genau, das ist es!" Aphorismen sind nett, wenn sie treffen. Bisweilen taugen sie sogar als aufbauender Wahlspruch und Talisman. Ich habe einige solcher Sätze in dem Kalender, den ich mit mir herumtrage. Sie wirken wie Fixpunkte, wenn der Boden mal wackelig wird.

So weit, so hilfreich. Es gibt allerdings auch Menschen, die wahllos mit Aphorismen oder Sinnsprüchen umgehen, nur weil sie das repräsentieren, was sie für wahr halten. Dabei vergessen sie, dass der Sinngehalt nicht auf jeden zutreffen muss und dass es des genauen Blicks auf die Persönlichkeit des Gegenübers bedarf, um festzustellen, ob ihm das, was ein anderer einmal schrieb, überhaupt etwas bedeuten kann. Ich habe eine Freundin, die immer wieder mal Karten mit Sinnsprüchen schickt, egal, ob sie zutreffen oder nicht. Manchmal ärgert mich das ein wenig, weil es so unpersönlich wirkt. Aber wirklich verübeln kann ich es ihr nicht, weil ich sie kenne und weiß, dass sie es gut meint. Es ist eben ihre Art, das zu zeigen. Zudem freut mich sehr, dass sie an mich denkt, denn sie hat selbst eine Menge um die Ohren. Auch, wenn mich nur wenige dieser Kalendersprüche wirklich berühren, weiß ich ihre nette Geste zu schätzen.

Schwierig wird's, wenn es nicht Beziehungen zwischen Gleichgestellten, Partnern oder Freunden betrifft, sondern wenn ein Machtgefälle besteht. Zwischen Lehrer und Schüler. Eltern und Kind. Therapeut und Patient. Chef und Angestelltem. Oder zwischen Coach und Klient. Denn wenn jemand etwas verkündet, der aufgrund von Machtverhältnissen, Kompetenz oder Wissen höhergestellt ist, dann ist man schlimmstenfalls darauf angewiesen, zu glauben, was er sagt und zu tun, was er empfiehlt. Das ist schön und gut, so lange der Höhergestellte seine Verantwortung gut und gründlich wahrnimmt und sie nicht missbraucht. Dramatisch, bisweilen aber sogar zerstörerisch, kann es werden, wenn es nur darum geht, dieses Machtverhältnis auszuleben. Das muss dem Höhergestellten möglicherweise sogar gar nicht bewusst sein. Machtspiele können sich auch als Wunsch zu helfen maskieren oder als Bestreben, anderen die "Wahrheit" und Wirksamkeit bestimmter Konzepte nahezubringen.

Was das mit Aphorismen zu tun hat? Vordergündig nicht unbedingt viel. Aber es gibt Menschen, die die "tiefsinnigen" Aussagen anderer dazu benutzen, ihre eigene Vorstellung von der Lösung aller Probleme prägnant auf den Punkt zu bringen. Da werden Brecht und Schopenhauer bemüht ebenso wie Henry Ford ("Es gibt mehr Leute, die kapitulieren, als solche, die scheitern."), und im Zweifel ist es ein "chinesisches Sprichwort", das uns die Weisheit vermittelt. Das zieht immer. Insbesondere bei den Vertretern der "Alles ist möglich!"-Philosophie, bei den Positiv-Denkern sind Sprüche beliebt wie dieser: "Hinfallen ist keine Schande. Nur Liegenbleiben ist verachtenswert." Mir fällt auf, dass solche Sprüche insbesondere von denen zitiert werden, die für sämtliche Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, die einfache Lösung präferieren. Neurolinguistische Programmierer, Coaches, Selbstliebe-Trainer. Immer bieten sie Strategien, die sich auf's ganze Leben anwenden lassen. Auf die Arbeit ("Jeder kann Erfolg haben! Liebe Dich selbst, auch wenn Du arbeitslos bist!"), auf Sexualität, auf Lebenskrisen. Man muss nur...

Wenn es so einfach wäre, dann wäre die Welt schon allein deshalb eine bessere. Bräuchte es nur eine "Gebrauchsanleitung für's Gehirn", wie die Anhänger der Neurolinguistischen Programmierung behaupten, dann müsste es ja auch tatsächlich klappen. Der Irrtum der ganzen Angelegenheit liegt in der unzulässigen Verkürzung des menschlichen Miteinanders auf simplifizierte Kommunikations- und Denkregeln. Die menschliche Psyche ist durchaus hochgradig logisch. Aber sie ist nicht beherrschbar, sie lässt sich nicht in Strukturen pressen, die sich vor allem an Erfolg und Schnelligkeit orientieren und auf Output aus sind. Das sind Konzepte, die der menschlichen Seele einfach nicht gerecht werden. Sie ist um so vieles komplexer und verdient so viel mehr Respekt, als dass man auf diese Art an ihr herumdoktern dürfte.

Ein Beispiel:
"Ungewöhnlich tiefe Meditation in Rekordzeit" verspricht eine Website für "Integrale Lebenspraxis". An Meditation ist nichts auszusetzen. Mir hat sie auch schon sehr geholfen. Aber hier wird behauptet: "Wenn es eine zuverlässige Methode gibt, um unser inneres Wachstum zu beschleunigen, dann ist es Meditation." Das ist der reine Blödsinn. Hier soll dem interessierten (bzw. verzweifelten) Leser vermittelt werden, er könne im Handumdrehen den Weg zum "Glück" beschreiten, mal kurz sein Gehirn umstrukturieren und alles sei easy. Hier wird ein "Meditations-Soundtrack" beschrieben, mit dem durch "binaurales Hirnwellentraining" ein Meditationszustand erreicht werden solle. Selbst einem Skeptiker sei es gelungen, "mit dieser Technologie auch seine hartnäckigen Depressionen aufzulösen". Muss man dazu noch mehr sagen?

Ich füge zum Schluss doch die Worte eines anderen an:

"Würden medizinische Institute Ärzte auf dieselbe Art produzieren, wie NLP-Mühlen "Therapeuten" ausspucken, die Menschen würden sterben wie Fliegen.
Rabbi Zvi Kilstein"


Das Problem ist nur, dass die Menschen tatsächlich auch in dieser Angelegenheit sterben wie die Fliegen. Eine kranke Seele lässt sich nicht mit ein bisschen positivem Denken, ausreichendem "Wollen" oder einfachen Modellen, Erfolgskonzepten und Sprüchen heilen. Das Geschwurbel solcher Experten hat etwas Scharlatanisches, und die Verführbarkeit innerlich unsicherer Menschen ist um so größer, weil alles so schön einfach scheint. Wenn man es dann nicht schafft, wenn das "einfache" Konzept an der Komplexität menschlichen Daseins scheitert, dann treibt das manchen nur noch tiefer ins Elend. Mancher "Coach" sollte sich fragen, ob er diese Verantwortung tragen kann, bevor er sein fachesoterisches Halbwissen auf hilfesuchende Menschen loslässt.

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Montag, 12. September 2011
Alles Plastik
Ich würde mich nicht als schuhsüchtig bezeichnen. Ab und an geht mir mal intensiv durch den Kopf, was wozu passen könnte, aber vor allem liebe ich die paar Paare, die ich habe. Dauerverknallt bin ich in meine Stiefel aus naturbraunem Nubukleder, die zum dritten Mal besohlt sind und mir die Treue halten. Sie sind saumäßig bequem. Ich werde sie tragen, bis sie auseinanderfallen.

Allerdings sollte ich von den acht Zentimetern Absatz ab und an heruntersteigen. Deshalb bin ich auf der Suche nach flachen Schnürstiefeln und dieserhalb am Samstag nach meinem Besuch in der Bibliothek noch durch einige örtliche Schuhläden gestreift. Nur, um mal zu gucken. Zu sehen gab es auch einiges. Aber als ich dann das eine oder andere in Frage kommende Modell in die Hand nahm, bestätigte sich, was mir meine Nase schon beim Betreten des Ladens kundgetan hatte: Es ist Polyurethan-Zeit.

Gleich auf dem Rondell vorn im Laden, wo die Trend-Teile stehen, fiel mir ein Stiefelchen ins Auge, das optisch in etwa meinen Vorstellungen entsprach. Daran baumelte ein rot-weißes Schildchen mit dem Schriftzug eines bekannten Modeproduzenten. Das erklärte den Preis, denn die Qualität des Materials und der Verarbeitung taten es nicht. An meinen Fingern blieb ein ölig-spiritusartiger Film zurück, den ich äußerst unangemehm fand. Der Duft, der dem guten Stück entströmte, steigerte mein Unbehagen. Weitere solche Modelle begegneten mir im Regal, mit einem Unterschied: Hier rechtfertigte der niedrige Preis die billige Fertigung aus Lederimitat. Bei dem Markenteil nicht - da ist die Preisgestaltung die reine Unverschämtheit.

Ich weiß, es ist im Bezug auf das gesamt-tierische Befinden nicht politisch korrekt, aber ich mag Echtleder. Ein Vermögen kann ich nicht investieren, also ist auch mal Second Hand drin. Aber manches möchte man schon gern neu kaufen, zumal ich nicht glaube, dass es sich in den (nicht allein sprichwörtlichen) Fußstapfen eines Schuh-Vorbesitzers so furchtbar gut läuft. Und dann steht man im Laden und ist genötigt, erst einmal eine detektivische Suche nach den Materialangaben zu starten. Dieses Plastikzeugs ist fürchterlich, ich will das nicht an meinen Füßen. So lange es noch weich ist, stinkt es, und man schwitzt. Sobald es nicht mehr stinkt, bricht es auseinander oder blättert ab. Das ist nicht, was ich mir unter einem Schuh vorstelle.

Klar, Schuhe aus PVC oder PU sind die logische Konsequenz, wenn es um übersaisonales Dauershopping geht. Ich will aber keine zwölf Paare im Jahr kaufen, sondern möglicherweise nur ein einziges, und das soll bitte halten. Vielleicht habe ich den Tick noch von meiner Oma, die - zweifach weltkriegsgeprägt - alles reparierte und jeden Krümel aufpickte. Ich stehe halt vorm Regal und frage mich, ob ich's wirklich brauche. Manchmal auch mit dem Effekt, dass die Antwort "Nein!" lautet und ich mir nichts gönne. Haltbarkeit ist der Feind jeglichen Konsumrausches.

Ich kriege regelmäßig den Katalog eines schwedischen Modeladens, oder besser: Die Kataloge. Denn statt zweien (Frühjahr/Sommer, Herbst/Winter) oder vielleicht noch vieren kriege ich bestimmt zwölf bis vierzehn Stück im Jahr. Für "Unsere Favoriten". Für "Sale", wie es auf Neudeutsch so schön heißt. Und dann noch mal einen, der dasselbe Angebot leicht umarrangiert präsentiert. Hier und da ein paar Kinkerlitzchen mehr. Das obskure Wort "Pre-Fall" las ich neulich auf dem Titel eines anderen Katalogs. Okay, da kommt die Prä-Herbst-Kollektion ins Haus geflattert... Prä-Was? Die Quintessenz von allem ist: Ich soll kaufen! Nicht nur eine kuschelige Jacke zum Herbst, sondern so viel Zeugs wie möglich. Hier noch ein T-Shirt, da noch ein Leibchen, dort noch ein Blüschen, und noch ein Teil in dieser und jener Farbe. Und dasselbe gilt auch für Schuhe. Deshalb muss man mir möglichst viele bunte, neue Dinge auf's Butterbrot schmieren. Und die sind natürlich aus Polyester, Acryl und Polyurethan, weil man so viele Schafe gar nicht geschoren kriegt und so viele Rinder gar nicht geschlachtet. Zumindest nicht ordentlich.

Ich mag nicht.

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Dienstag, 23. August 2011
Rosa, alles rosa!!
Meine zweitälteste Nichte wurde am Samstag eingeschult. Ein paar Mal nicht hingeschaut, und schon ist auch sie so weit - auch wenn mir das Mädchen viel zu klein für die riesige Schultasche scheint.

Das war Anlass für die beiden Großmütter, die Kleine mit allerhand Geschenken zu überhäufen. Und weil natürlich keine Eifersüchteleien aufkommen sollen, wurden gleich Geschwister und Cousins wie Cousinen ebenfalls beschenkt. "Das ist, als wenn Weihnachten ist!", brachte es das frischgebackene Schulkind trefflich auf den Nenner.

Wann immer ein Kinder-Beschenktag stattfindet, komme ich in den Genuss, mir die neuesten Spielzeugtrends anschauen zu können. Der Kleinste und sein Cousin kamen mit kleinen Baggern und Traktoren gut und vergleichsweise konservativ davon. Die Schulanfängerin wurde mit Ruckack und Gummistiefeln in rosa beglückt, mit einem abschließbaren Tagebuch in rosa und mit der Hello-Kitty-Wundertüte, die reichlich gefüllt war mit rosa Glitzerstickern und anderem Tand. Krönung für die Schwestern waren allerdings die "Filly Unicorns", kleine Einhörner-Figuren aus PVC, natürlich mit Glitzersteinchen-Diadem.

Kannte ich noch nicht. Die Figuren werden beim Hersteller unter der Rubrik "Sammelthemen" geführt, und wenn die Kids sammeln, dann ist natürlich ein gutes Geschäft immer schon einmal gesichert. Keine ungeschickte Strategie. Auch wir haben als Kinder schon gesammelt. Ich wurde neugierig und wollte wissen, was denn die herzigen "Fillies" nun genau sind, und es verschlug mich auf die genannte Website.

Ich bin wirklich keine radikale Verfechterin des Gender-Mainstreamings, aber bei so viel Harmonie im Mädchenspielzeug wurde mir dann doch schlecht. Mal ganz davon abgesehen, dass es wirklich nicht nötig ist, die Kinder bis zum Gehtnichtmehr mit allem möglichen Kram zu beschenken, war das dann doch auch inhaltlich absolut schmerzgrenzwertig. Denn die "Fillies", so lehrte mich mein Ausflug in deren wunderbare Glitzerwelt, leben auf tollen Kristallinseln, die alle ein unterschiedliches Thema haben: Alles dreht sich um Liebe, Romantik, Schönheit, Träume, Partys und Freundschaft.

Eine perfekte Vorbereitung auf das spätere Mädchenleben. Schon hier gibt es eine "Filly"-Beauty-Queen zu erwerben, und einige der Viecher sind allein für die neuesten Trends "zuständig". Hurra! Meine Nichte ist erst sechs. Ich hoffe sehr, dass das Plastiktier möglichst schnell in irgendeiner staubigen Kinderzimmerecke verschwindet.

Es ist zweifelsohne der Initiative des Spielzeugfabrikanten geschuldet, dass alles so zuckrig ausfällt. Klar, Kinder schleppen Trends wie Seuchen aus dem Kindergarten und der Schule nach hause, aber so einen Kappes kann sich kein Kind ausdenken und geschlechtsspezifischerweise wollen. Zum einen ist es die reine Geldschneiderei, die mich an sowas aufregt. Aber Brechreiz erzeugt mir vor allem die Glitzer-Harmonie-Freundschafts-Zucker-Welt, die den kleinen Mädchen da als Rollenmuster angeboten wird.

Es ist mir bewusst, dass ein grottenhässliches Plastiktier aus einem kleinen Mädchen noch keine zukünftig unselbständige, dämliche Tussi macht. Aber in allem enthalten ist die Prämisse "Mädchen sind so!". Sie sind nicht so, genau wie die Jungs keine stacheligen Power-Rangers sind, die sich fortlaufend beweisen und prügeln müssen.

Jungen und Mädchen unterscheiden sich, und das ist auch okay. Ich frage mich nur, wie anders das Bild wohl aussähe, wenn der ganze Klimbim drumherum, den die Spielzeughersteller (und später die Bekleidungs- und Kosmetikkonzerne) so gekonnt in Szene setzen, wegfiele. Inklusive der unbewussten Rollenschemata, die Eltern ihren Kindern vorleben. Sanktioniert wird, was nicht in die eigene Vorstellung passt: Das aggressive Mädchen, der anlehnungsbedürftige Junge. Das aktive, neugierige Mädchen, der passive, stille Junge. Und zwar von Beginn an.

Wie sehr solche Umstände menschengemacht sind, kann man ganz gut erkennen, wenn man Kinderfotos von einst und heute nebeneinanderhält. Vor 30 Jahren, als ich klein war, trugen wir Latzhosen in rot und blau, Pullis in orange und grün, in den kräftigen Farben der Siebziger.



Alles sehr kindlich-lebendig, und man hat mich schon auch mal in khaki Cord gesehen. Heute sind die Mädchen in rosa und rot, die Jungs in blau, braun und schwarz unterwegs. Auf einen Blick kann man erkennen, welche Rucksack-, Brotdosen- oder Trinkflaschengarnitur für Lilly und welche für Leon ist. Die Zeiten, in denen ein Geschwisterpaar unterschiedlichen Geschlechts mit demselben Tornistermodell in die Schule ging, sind definitiv vorbei.

Ich bin gespannt-besorgt, wohin das Rosatum wohl führen wird. Zumal diese Form der Kategorisierung durch konservative bis radikal-rückschrittliche Tendenzen in Erziehung, Familienleben und Rollenverteilung untermauert wird. Wenn's anderweitig eng wird, braucht man halt Schubladen, in denen man sich festkrallen kann. Ich hoffe, dass die Nichten und Neffen dem nicht längerfristig zum Opfer fallen.

Ergänzung:
Ein spannender Überblick über die Geschichte der geschlechtsgebundenen Blau-Rosa-Farbgebung findet sich hier. Ein angenehmer Gegenpol zu den lustigen biologistischen Offenbarungen mancher Forscher, Mädchen liebten Rosa, weil das nun einmal die Farbe der Beeren (die die Steinzeitfrauen sammelten) oder der Haut der Babys (die die Steinzeitfrauen hüteten) sei und Blau eben die Farbe des Himmels (unter dem sich die Steinzeitmänner meistens aufhielten)...

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Samstag, 6. August 2011
„Schwanz ab“ reloaded:
Postdemokratischer Volkszorn
Gerade noch war ich gefesselt und auch ein bisschen fremdstolz angesichts der Art und Weise, wie die norwegische Bevölkerung mit dem Verbrechen, dass Herr Breivik an ihr begangen hat, umging. Keine erhöhte Terrorwarnstufe, Rosen statt Rachegelüste und die sehr schlichte Erkenntnis, dass Taten wie diese der Preis der Demokratie sind. Ich habe das sehr bewundert und tue es noch. Zumal überall in der Welt von freiheitlich-demokratischen Werten gesprochen wird, in den wenigsten Fällen aber hinter all dem (auch missionarischen) Eifer eine entsprechende Haltung steht. Da boten die Reaktionen auf die Attentate in Norwegen eine Ausnahme, die wie Balsam auf die Seele wirkte.

Dann tauchte Herr Gäfgen wieder im öffentlichen Bewusstsein auf. Stimmt, das war der, der den Bankierssohn Jakob von Metzler entführt und umgebracht hat – sein Motiv war Habgier, denn er wollte seinen offenbar recht aufwändigen Lebensstil weiterführen, um nicht vor seinen Studienkollegen dumm dazustehen. Im darauffolgenden Verhör wurde Gäfgen dann durch Polizeibeamte mit Gewalt gedroht, falls er nicht den Mund aufmachen würde, was den Aufenthaltsort Jakobs betraf. Diesen „Verfahrensfehler“, für den die verantwortlichen Beamten auch bestraft wurden, wusste Gäfgen für sich zu nutzen. Er klagte, und heraus kam, was die Bild-Zeitung gestern mit dem Stichwort „Schand-Urteil“ betitelte: Dem Mann wurden 3000 Euro Entschädigung zugesprochen. Die sich dann auch wieder flugs in Luft auflösten, weil er ohnehin noch 71.000 Euro Prozesskosten-Schulden bei der Staatskasse hat. Gäfgen hat von seiner Klage also finanziell nicht wirklich profitiert.

Was mir in dieser Angelegenheit reichlich quer im Hals hängt, ist der Volkszorn, der sich angesichts dieses Urteils nun wieder mal zuverlässig bemerkbar macht. In einer Diskussion neulich sagte mir jemand, er sei davon überzeugt, die Mehrheit der Deutschen sei der Ansicht, Gäfgens Klage sei vollkommen unberechtigt gewesen und er hätte auch diese 3000 Euro nicht zugesprochen bekommen dürfen. Aber ist das tatsächlich so ein Schand-Urteil, wie meine Lieblingszeitung schreibt? Irgendwie scheint ein Teil der Öffentlichkeit (von dem ich – wahrscheinlich vergeblich – hoffe, er ist nicht so groß) davon überzeugt zu sein, dass die Grundrechte des Herrn Gäfgen vor dem Hintergrund seiner Tat nicht mehr viel wert seien. Im Gegenteil, seine Strafe sei auch noch viel zu mild, die Todesstrafe müsse in Deutschland wieder her, und es ginge nicht an, dass man jemanden auch noch dafür bezahle, dass er einen Jungen auf dem Gewissen habe. So gelesen im Internet, dass den Menschen, geschützt durch die Anonymität, zu allerhand stumpfen Aussagen zu animieren scheint, wie auch Frau Behrens neulich sehr treffend beobachtet hat. Von differenziertem Denken weit und breit keine Spur.

Mir stößt extrem sauer die Bigotterie in dieser Art von Äußerungen auf. Plötzlich wird die Welt eingeteilt in Monster, die durch das, was sie sind, jegliche Rechte verlieren sollen und in rechtschaffene, nette kleine Staatsbürger, die immer genau beurteilen können, was richtig und was falsch ist. Die „Rettungsfolter“ wäre im Fall Gäfgens also berechtigt gewesen, weil er ein fieses Monster ist? Und damit wird ihm dann auch gleich das Recht aberkannt, sich gegen Entwürdigung und Drohung zu schützen (die in meinen Augen das sind, was sie sind, egal welcher Mensch davon betroffen ist).

Der Zweck heiligt also in den Augen mancher auf jeden Fall die Mittel, und das bringt mich zum zweiten Aspekt der ganzen Geschichte, der mich über alle Maßen anwidert: In diesem Fall war das Opfer ein kleiner Junge. Unschuldig, sein Leben noch vor sich habend, ahnungslos. Das an sich ist eine sehr, sehr schlimme Sache, und das Leid, das hinter dieser Begebenheit liegt, wird für jeden Außenstehenden schwer zu erfassen sein. Aber ich denke, das Ausmaß des Volkszorns macht sich zu einem erheblichen Teil auch daran fest, was ich insgeheim für mich selbst den „Knut-Effekt“ nenne. Das Opfer entspricht dem Kindchen-Schema und eignet sich daher für die Medien ganz besonders gut dazu, in der Bevölkerung die Tränendrüsen zu aktivieren und ebenso zu Hasstiraden anzustacheln. Das lässt sich immer besonders gut feststellen, wenn irgendwo ein Kind verschwindet (was wirklich schrecklich ist – nicht, dass ich hier missverstanden werde). Wäre das Opfer ein kleinkrimineller Drogendealer gewesen, ein fieser Mafiosi oder ein unsympathischer, versoffener Strolch, dann wäre das Leben, das es da zu retten galt, der breiten Öffentlichkeit vielleicht keine „Rettungsfolter“, keine Gewaltandrohung wert gewesen.

Wenn man also die Rechte des Einzelnen einzuschränken beginnt – im Zweifel auch, um ein Leben zu retten – wer erhält dann die Entscheidungsgewalt darüber, wann das angebracht wäre? Hängt es vom Sympathiegrad des Opfers, von dem des Täters ab? Diejenigen, die so laut schreien, Gäfgen habe seine Grundrechte nicht länger verdient, unterschätzen die Möglichkeiten zur Willkür, die in einem solchen Vorgehen liegen. Was, wenn die oder der Verdächtige dem Polizeibeamten unsympathisch ist? Wenn jemand verdächtigt wird, der jemand anderem politisch nicht in den Kram passt und dann an der entsprechenden Stelle nur Gelder zu fließen brauchen? Was, wenn der verhörende Beamte einfach nur einen schlechten Tag hat oder sich von der Presse unter Druck gesetzt fühlt und diesen Druck am mutmaßlichen Täter auslässt? Die Rechtfertigung, das sei getan worden um ein Leben zu retten, die ist schnell vorgeschoben. So oft sie auch in der Tat gerechtfertigt sein mag, sie braucht es nur ein einziges Mal nicht zu sein, und schon sitzen wir mitten im Polizeistaat. Und deshalb steht auch einem Herrn Gäfgen zu, sich gegen solche Methoden zu Wehr zu setzen.

Volkszorn ist etwas völlig anderes als Mitgefühl für die Opfer. Volkszorn entsteht meiner Meinung nach aus eigenen Ohnmachtsgefühlen, aus dem Gefühl heraus, von etwas Diffusem, Unfassbarem bedroht zu sein. Dass die Boulevardpresse (und leider nicht nur sie) Monster regelrecht erschafft, um die eigene Auflage zu erhöhen, ist ja zumindest auf der Grundlage des Gewinnstrebens noch logisch nachzuvollziehen. Aber wozu braucht der Leser diesen ungehaltenen, beinahe schon schmerzvollen Stellvertreterzorn? Dass der Vater Jakob von Metzlers vor Wut kochen mag, das ist noch nachvollziehbar, aber wieso auch Karl-Heinz von nebenan? Überall auf der Welt sterben tagtäglich Kinder elendig des Hungers. Diese Probleme sind menschengemacht, und doch entzünden sie nicht nur ansatzweise den Hass auf eine Weise, wie es diese vermeintlichen Monster, all die bösen Triebtäter und Kinderschänder vermögen. Der finstere Unmensch, der mitten unter uns lebt und jederzeit zuschlagen kann, der ist es, der den Durchschnittsbürger zum wüten und hassen bringt, und ab und an bekommt er ein Gesicht. In diesem Fall das des Herrn Gäfgen. Aber solche Monster sind Phantasiebilder. Sie sind in meinen Augen die Projektionen der eigenen inneren Boshaftigkeit auf äußere Gestalten, die sich dafür anbieten. In dem Moment, in dem man das absolute Böse im anderen sieht, im Mörder, im Vergewaltiger, da kann man selbst ein Heiliger sein. Da kann man Menschenketten bilden und Lichter anzünden und der bessere Mensch sein, der, dem so etwas nicht im Traum einfallen würde.

Ich bin froh, (noch) in einem Land zu leben, das eine unabhängige Rechtsprechung besitzt. Ich bin froh, dass in diesem Land nicht die Geschädigten, sondern Richter über einen Täter zu Gericht sitzen, dass man befangene Personen nicht an der Urteilsfindung beteiligt und dass man hierzulande glücklicherweise noch Rache von Strafe und Sanktion trennen kann (was manche sogenannte Demokratie bis heute nicht gebacken bekommt). Ich bin froh, dass die Regeln bislang noch gelten, auf die man sich hier mal geeinigt hat.

Was mich wirklich beunruhigt und anwidert ist, dass die Stimmen, die in solchen Fällen nach Todesstrafe und anderen archaischen Methoden schreien, immer lauter werden. Offenbar wird die Unsicherheit der Menschen und das Gefühl von Bedrohung so groß, dass es vermehrt auf diesem Wege kompensiert wird. Mich beängstigt das viel mehr als die wirklich extremen Randpositionen, denn diese Stimmen scheinen aus der Mitte der Bevölkerung zu kommen. Man traut „denen da oben“ nicht mehr zu, angemessen urteilen zu können über Recht und Unrecht. Man sieht sich selbst als „kleiner Bürger“ auf verlorenem Posten und findet sich in einer Welt wieder, in der unfaire Maßstäbe ohne jegliche Grundlage in der Lebenswirklichkeit gelten. Ich finde das gefährlich.

Das ist genau der Punkt, an dem eine Bevölkerung verführbar wird durch große, starke und charismatische Führertypen, die ihr vermeintlich simple Lösungen für diese Probleme versprechen. Unsere Gesellschaft tendiert immer mehr dazu, das Versprechen von Sicherheit der Freiheit vorzuziehen. Überwachung, Kontrolle, Strafverschärfung – als hätten wir noch nicht genug davon! So gesehen befinden wir uns tatsächlich in einer Post-Demokratie, denn die von der Bevölkerung gewählten Volksvertreter sind offenkundig nicht mehr in der Lage, den aktuellen Gegebenheiten in einer angemessenen Form Rechnung zu tragen. Regiert werden wir längst nicht mehr nur von den Regierenden, uns regieren vor allem die Umstände. Die Unsicherheit des Einzelnen entsteht aus seinem Verlorensein in einer globalisierten Welt, seinem eigenen Gefühl von Wertlosigkeit in einem Umfeld, in dem alles mit Geld bemessen wird, in seiner Machtlosigkeit gegenüber den Einflüssen und Strömungen, die er nicht mehr durchschaut. Wir glauben nicht mehr daran, unser Umfeld und unseren Umgang miteinander selbst gestalten zu können. „Die da oben machen ja doch, was sie wollen!“

Wir fragen nicht mehr, in was für einer Gesellschaft, in was für einer Welt wir leben wollen, weil wir uns gelebt, gesteuert, bedrängt fühlen. Bedrängt von den bösen Moslems. Bedrängt von den Triebtätern, die unseren unschuldigen Kindern hinter jeder Ecke auflauern. Bedrängt von den Jugendlichen, die einfach keine Manieren mehr haben. Bedrängt von Rechten und Linken, von unserem Nachbarn, der auch irgendwie komisch ist... Wer mit Abwehr beschäftigt ist, ist wenig kreativ-konstruktiv.

Na also schön, führen wir doch die Lynchjustiz wieder ein, lassen wir jedem die Freiheit, Menschen, die ihm nicht in den Kram passen, in Ku-Klux-Klan-Manier mit der Mistgabel durch die Nacht zu jagen. Führen wir doch die Todesstrafe wieder ein – wenn dabei der eine oder andere unschuldig um die Ecke gebracht wird, ist das halt der Preis, den man für die Sicherheit zu zahlen hat. Überwachen wir uns gegenseitig, dann braucht's der Staat nicht zu tun. Drohen wir Leuten Gewalt an, wann es uns angemessen erscheint – nur so ist gewährleistet, dass unsere Kinder noch ein goldiges Leben vor sich haben. Stellen wir diejenigen mit der Macht doch über das Gesetz, dann werden wenigstens mal schnelle und effiziente Entscheidungen getroffen! Bringen wir den anderen um, damit er uns nicht umbringt. Werfen wir den ersten Stein, damit es niemand anders tut - sicher ist sicher.

Willkommen zurück in der Steinzeit.

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Dienstag, 26. Juli 2011
Falsche Schlüsse
Während die Osloer Polizei verlauten ließ, Taten wie die des Herrn Breivik seien der Preis der Demokratie, traten die Erzkonservativen hierzulande schon wieder mit der Idee von mehr Kontrolle auf den Plan - reflexartig, ohne nachzudenken. Bald haben wir keine Demokratie mehr, die es sich zu bewahren lohnte...

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Mittwoch, 1. Juni 2011
Employability und Bildungsbulimie
Über diese zwei Begriffe stolperte ich heute in einer Diskussion im ZDF-Blickpunkt. Diskutiert wurde, was in Deutschland geschehen müsse, damit der Bildungsstandard besser würde und sich das Land von der Bildungswüste zur blühenden Landschaft entwickele.

Man nahm Belgien als Musterbeispiel, wo die Chancen offensichtlich auch für finanziell und sozial Benachteiligte besser stehen, gleichzeitig aber auch die Anforderungen höher sind. Schon als ich den Beitrag darüber sah, dachte ich mir: Tja, da wäre ich wohl auch unten herausgefallen - keine Zeit, kein Platz für persönliche Probleme im Uni-System. Wer den Anforderungen nicht genügt, fliegt.

Der Gesprächspartner im Studio, an dessen Namen ich mich leider nicht erinnere, äußerte sich sehr kritisch gegenüber Bachelor, Punktekampf und Modul-Gemurkse. Er sprach mir aus der Seele, als er von "Bildungsbulimie" redete - schnell viel herunterschlingen und es hinterher wieder auskotzen, Nährwert gleich null. In diese Richtung hat sich auch "mein" Studiengang verändert auf dem Weg vom Magister hin zum Bachelor/Master. Die Uni als Fachidioten-Zuchtanstalt.

Noch mehr beeindruckt hat mich allerdings der Ausdruck "Employability". In Deutschland wird gerade gejammert über Fachkräftemangel. Darauf scheinen dann auch die Bildungsbestrebungen allgemein hinauszulaufen: Auf die Fachkräfteproduktion für den Arbeitsmarkt. Der Mensch ist nicht mehr dazu in der Welt, sein Leben zu leben und herauszufinden, wer er ist, was er machen, was er bewirken kann, wie er sich ausdrücken kann, was sich denken lässt, was ihn interessiert.

Er ist nur noch zu zweierlei Zwecken da: Arbeiten und Kaufen.

Das degradiert Schulen, Universitäten und leider, leider auch schon Kindergärten mit ihren Frühüberforderungsprogrammen zu Produktionsstätten für humanoide Puzzleteile, die sich möglichst reibungslos in die Mechanismen eines globalisierten Kapitalismus einfügen sollen. Das ist ein echtes Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Dummhirnig wird immer noch der Annahme hinterhergerannt, dass sich schon alles regeln wird, wenn man den "Markt" (wer ist denn das eigentlich?) mal machen lässt. Ich befürchte, dass wir zu einer selbstauslöschenden Spezies werden, denn wenn man jungen Menschen vom Kleinkind bis zum Studenten das eigenständige Denken, die Freiheit des Seins und die Neugier auf noch Unentdecktes so gründlich abgewöhnt, wird schließlich auch das Wissen darüber abhanden kommen, dass das alles einmal anders war.

Einen Hauch von Gänsehaut und Hoffnung verspürte ich dennoch: Ich sah (ja, ab und an bildet Fernsehen auch...) auch einen Beitrag über einen Tänzer, der an einer bayrischen Hauptschule einen Tanzkurs für Jugendliche gab. Dieser Mensch hatte eine regelrecht magische Ausstrahlung. Auch die borstigsten, coolsten, überlegensten Jungs und Mädchen hingen ihm nach kürzester Zeit an den Lippen, weil er so unglaublich authentisch wirkte und ihnen vermitteln konnte, dass sie - jeder einzelne auf seine Art - absolut in Ordnung waren. Er blamierte sich ganz ungeniert vor den Kids, indem er lächerliche Bewegungen machte und sie ebenfalls dazu animierte. Er ermunterte sie, ihr eigenes Solo zu entwerfen und den Bewegungen zu folgen, die ihnen ihr eigener Ausdruckswille vorgab. Heraus kam eine kraftvolle, emotionale Performance voller Stolz und Persönlichkeit. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich das sah.

Zu was aber ist der Tanz, der Ausdruck dieser als "dämlich", bildungsfern und sozial schwach stigmatisierten Hauptschüler in unserem alles verwertenden marktwirtschaftlichen System nütze? Individualität, Authentizität, Stolz, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl sind nicht mehr gefragt. Im Gegenteil, sie sind Hindernisse auf dem Weg in die reibungslose Verarbeitung unserer Arbeitskraft. Wer selber macht, hat weniger das Bedürfnis, Leere durch Konsum zu füllen. Wer sich selbst achtet, lässt sich nicht für jeden beliebig niedrigen Hungerlohn demütigen.

Ich hoffe, dass noch viele Menschen es wagen zu tanzen, anstatt sich auf dem Weg zu mehr "Employability" zum gefühl- und profillosen Idioten optimieren zu lassen.

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Sonntag, 8. Mai 2011
Tragisch: Googeln in Erziehungsdingen
Die meisten "search requests", die hierher finden, landen bei "Darf man Kinder schlagen", und gesucht wurde unter anderem schon nach...

"Kinder mit dem Stock schlagen"

"Ab wann darf man Kinder schlagen"

"Darf man Kinder schlagen"

"Wie reagieren kinder bei klaps auf den po"

"mutter schlägt kind wegen schlechter schulnote"

"ein Kind darf noch nicht einmal einen Klaps bekommen?"

"darf man seine kinder schlagen"

"darf ich meine kinder schlagen?"

"warum darf man keine kinder schlagen?warum?"

Neuester "Knüller" (24.10.2011):
"bis wieviel darf man kinder schlagen"

...und direkt noch einer (1.11.2011):
darf man babys leicht schlagen - wie krank ist das denn wohl??

Oder sind es zum Teil auch die Kinder, die nach Antworten suchen? Umso tragischer wär's.

Anmerkung:
Die Liste wird ständig erweitert...

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Dienstag, 3. Mai 2011
Also, das geht jetzt aber zu weit...
"Kampusch rechnet mit Eltern ab!" lautete die Schlagzeile, die mir heute von der "Nachrichten"-Seite eines Mailproviders entgegensprang. Da konnte ich natürlich nicht widerstehen und klickte auf "mehr...", während ich den Hintern von "Prinzessin" Kates Schwester Philippa ruhigen Gewissens links liegen ließ.

Der Artikel ereiferte sich über Aussagen, die Natascha Kampusch gegenüber einer italienischen Zeitung gemacht hat. Zum Einstieg hieß es:

"Viele Menschen hatten Mitleid mit der heute 23-jährigen Frau. Doch was sie nun über ihre Eltern auspackt, dürfte ihr wenige Freunde machen."

Halten wir also mal nach der ersten Zeile fest: Entführtwerden ist grausam, berechtigt aber nicht zur freien Meinungsäußerung über die eigenen Eltern. Da hört das öffentliche Mitgefühl dann auf.

Und weiter:

"Ihre Eltern seien nicht bereit gewesen, Verantwortung für sie zu übernehmen, sagte Kampusch der italienischen Zeitung "Corriere della Sera". Nicht die Eltern hätten für sie gesorgt, sondern sie habe vielmehr den Eindruck gehabt, sie müsse Verantwortung für ihren Vater und ihre Mutter übernehmen. Doch schlimmer noch: An ihrem Vater lässt sie kein gutes Haar. "Mein Vater ist so unreif. Er ist in einem Entwicklungsstadium steckengeblieben, das nicht meinem entspricht", soll sie der Zeitung gesagt haben.

Ich habe Frau Kampusch ehrlich gesagt immer bewundert, weil sie der Öffentlichkeit deutlich gemacht hat, was sie zu verarbeiten hat und dass das nicht immer auf eine der breiten Mehrheit genehme Art und Weise geschehen muss. Ihre Mutter beispielsweise echauffierte sich in einem Fernsehinterview, das ich kürzlich sah, darüber, dass Natascha von ihrem Entführer Priklopil Abschied genommen habe. Warum auch nicht? Es nützt ja der jungen Frau überhaupt nichts, wenn sie leugnet, dass dieser Mensch eine Bedeutung für ihr Leben hatte. Aber hier schon klingt ein moralischer Maßstab durch: Das macht man nicht! Böse ist böse und gut ist gut, und so hat es gefälligst auch zu bleiben.

Das aber nur so nebenbei. Ich weiß nicht, wie sinnvoll oder nicht sinnvoll es ist, sich in der Öffentlichkeit über die eigenen Eltern zu äußern, aber für Frau Kampusch scheint es eine Möglichkeit zu sein, mit den Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend umzugehen. Im Grunde mache ich hier das Gleiche, auch wenn mein Blog keine Tageszeitung ist. Und der Punkt ist: Was hat sie denn Schlimmes gesagt? Vielleicht bin ich ja voreingenommen und nehme sie nur deshalb in Schutz, weil meine Erfahrungen ähnlich waren. Aber es ist lediglich eine Schilderung ihrer persönlichen Empfindungen. Die Umkehrung der Eltern-Kind-Rollen ist in vielen Familien Realität und beruht nun gerade auf der Unreife der Erwachsenen, die eigentlich die Verantwortung hätten, sich (in dieser Hinsicht hauptsächlich emotional) ums Kind zu kümmern. Und sie sagt, diese Unreife entspricht ihr einfach nicht. Das finde ich voll und ganz nachvollziehbar.

Der Artikel ist für mich eigentlich nur ein Gedankenanstoß. Vor ein paar Tagen stolperte ich über die Thematik "Verlassene Eltern". Dabei geht es grob gesagt um Eltern, deren Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben. Und auch da finde ich mich natürlich wieder. Ich googelte und stieß auf die Seite einer Selbsthilfegruppe für "verlassene und verstoßene Eltern". Das Lesen bestärkte mir, was ich aus meiner eigenen Erfahrung kenne:

Man darf Eltern nicht kritisieren. Das ist ein absolutes, unumstößliches Tabu.

Die Betreiber der "Verlassene Eltern"-Seite forderten auch die Kinder ausdrücklich auf, sich im Gästebuch zu ihren Motiven für die Kontaktsperre zu äußern. Denn so sei es den Eltern eventuell besser möglich, die eigenen Kinder zu verstehen und das Leiden in Grenzen zu halten. Interessante Aufforderung, und so offen... Aber im Gästebuch tobte dann doch ein ausgiebiger Krieg zwischen den alteingesessenen Eltern und den wenigen Kindern, die es wagten, sich zu äußern. Auf geradezu kindlich-narzisstische Art und Weise jammern die Eltern seitenweise über Nicht-Einladungen zu Hochzeiten, über abgewiesene Telefonate, zurückgeschickte Briefe und unbekannten Verzug oder über die Erlaubnisverweigerung, die Enkelkinder zu sehen. Und das alles geschah nach Ansicht der Eltern selbstverständlich vollkommen ohne nachvollziehbaren Grund. Da wurde den Kindern unterstellt, sich mit ihrer Nichtkommunikation aufs hohe Ross zu setzen und für das Leiden und die immer neuen Verletzungen die ganze Verantwortung zu tragen. Angesichts solch ausgeprägter Larmoyanz hege ich doch erhebliche Zweifel an der Kritikfähigkeit dieser Menschen, die sich zunächst so tapfer auf die Fahne schreiben, die Geschichten der Kinder hören zu wollen.

In dieselbe Kerbe geht auch, was mein Mailportal über Frau Kampusch schrieb:

"Dass sie nach ihrem dramatischen Leben ihre Eltern erst neu kennenlernen musste, leuchtet ein. Dennoch überraschen Sätze wie dieser: "Heute muss ich aber an mich denken. Deshalb versuche ich jetzt, eine Grenze zu anderen Menschen zu ziehen." Dass sie damit gerade den Personen einen Schlag ins Gesicht verpasst, die sie wohl am meisten lieben, scheint Kampusch nicht klar zu sein."

Ist es das, was Eltern nicht ertragen? Denn genau das erlebte ich auch: Abgrenzung ist unerwünscht. Zu schwer wiegt der Gedanke, dass man selbst als Mutter oder Vater tatsächlich Fehler gemacht, tatsächlich wichtige Beziehungen versaut haben könnte. Den Kern der narzisstischen Kränkung, keine gloriose Mutter- oder Vatergestalt zu sein, gibt die Gründerin einer Selbsthilfegruppe für "verlassene Eltern" in einem Internet-Interview perfekt zu Protokoll:

"Ich fühlte mich als Rabenmutter, als hätte ich völlig versagt. Aus Scham darüber habe ich anfangs so getan, als wäre alles in Ordnung, wenn sich jemand nach meinem Kind erkundigte."

Es ist das eigene Versagen, die eigene Fehlerhaftigkeit, die niemals in den Fokus rücken darf. So ist eine konstruktive Auseinandersetzung nicht möglich, und das spüren die Kinder. Deshalb wird die Kommunikation aufgegeben, denn die Versuche führen ohnehin zu nichts. Ich bin davon überzeugt, dass viele Kinder zumindest ansatzweise Kontakt halten würden, wenn von den Eltern Signale des Mitfühlens und des Verstehens kämen. Statt dessen aber reagieren viele Eltern reflexartig auf die vermeintliche Nestbeschmutzung. In meinem eigenen Fall habe ich das als Bagatellisierung erlebt. Meine Mutter sagte: "Aber das war doch alles nicht so schlimm!" Warum soll man dann noch reden?

Deshalb finde ich Kampuschs Aussage vollkommen legitim, und sie ist in meinen Augen mitnichten ein "Schlag ins Gesicht". An sich selbst zu denken und Grenzen zu ziehen ist allerdings in der Beziehung zu Eltern ganz besonders unerwünscht. Wenn einen das eigene Kind nicht mehr vorbehaltlos liebt, ja wo kommen wir denn da hin? Wären es nicht die Eltern, gegen die sich das Kind abgrenzt, sondern ginge es um Beziehungspartner, Freunde oder Kollegen, so hätte jeder Verständnis. Aber Eltern sind die heiligen Kühe, deren Handeln auf gar keinen Fall hinterfragt, in Zweifel gezogen oder kritisiert werden darf. Die Tatsache, dass man sich als Kind vor den Eltern schützen muss, ist nach wie vor undenkbar. Häufig habe ich dann gelesen, dass die Eltern annehmen, ihr Kind wurde beeinflusst. Von einer Sekte. Vom Psychotherapeuten. Von der ungeliebten Schwiegertochter. Eher ziehen sie sämtliche noch so unwahrscheinlichen schädlichen Einflüsse des Umfelds in Betracht, als dass sie sich überlegen, was denn wohl tatsächlich schief gelaufen ist. Und dass aus dieser Erkenntnis und Anerkenntnis etwas Neues wachsen könnte, würde man es nur zulassen.

Mit allen Mitteln wird das Verhalten der Eltern gerechtfertigt, ihre Position in Schutz genommen. Argumente sind mangelnde Bewusstheit über die eigenen Fehler (was aber am Schaden nichts ändert!), das Gutgemeinte, das Gebot der Ehre, die man den Eltern zu erweisen hätte, die Verpflichtung zur Dankbarkeit (wofür?). In den Köpfen vieler scheint noch die Meinung vorzuherrschen, aus der Elternschaft allein leite sich so etwas wie ein Recht auf emotionale Versorgung durch das Kind und auf eine bestimmende Rolle in seinem Leben ab. Ich frage mich an der Stelle dann immer, was Eltern wohl meinen davon zu haben, wenn sich ihr Kind ihnen zuwendet aus Pflichtgefühl oder "Dankbarkeit". Wenn der Punkt ohnehin schon gekommen ist, an dem Eltern sagen: "...und das nach allem, was wir für Dich getan haben!", dann ist es zu spät. Dann wurde die Möglichkeit zu wirklichem Kontakt verspielt.

"Ich will doch nur, dass Du glücklich bist!", das hörte ich so oft von meiner Mutter. Was geschähe, wenn ich unglücklich wäre? Dann wäre ich ein sichtbares Zeichen für ihre eigene Unfähigkeit. Das kann nicht zugelassen werden. Anstatt Trost über das völlig natürliche und legitime Unglück wird einem das Gefühl zuteil, nur in glücklichem Zustand akzeptabel zu sein und geliebt zu werden. Dieses Gefühl reiht sich ein in all die anderen unausgesprochenen Verletzungen, die Eltern nicht als Problem erkennen und anerkennen. "Aber ich habe doch nie etwas Böses gesagt!" ist auch eine Reaktion, die ich kennenlernen durfte. Das, was zwischen den Zeilen transportiert wird, verletzt aber nicht minder. Und ewig wundern sich die Eltern, als seien sie selbst niemals Kind gewesen. Besonders, wenn sich die eigenen Kinder trauen, was zuvor noch ein vollkommenes Tabu war: Die Allmacht, Allwissenheit und Perfektion der Eltern anzuzweifeln.

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