Sturmflut
Montag, 18. April 2011
Der eigene Blick
Nach meinem samstäglichen Heimwerker-Anfall, den ich beim Schwinden des Tageslichtes garniert mit Schleifstaub und Farbklecksen beendete, war mir abends danach, vor der Dusche und dem Schlafengehen noch ein wenig fernzusehen. Ich geriet planlos und unvermittelt in eine Ausgabe des Magazins "Metropolis" auf Arte und blieb dort hängen.

Der erste Beitrag drehte sich um die Frauen in Italien, die die unerträglichen Faxen ihres Regierungschefs satt hatten und auf die Straße gingen, um gegen das durch die italienischen Medien gezeichnete Frauenbild zu protestieren. Die Bilder der Demonstrationen berührten mich sehr. Sie erinnerten an die Zeit der zweiten Frauenbewegung, und es waren solche Massen auf den Straßen, wie es hierzulande undenkbar ist. Die Gesichter der demonstrierenden Frauen, die der Kameraschwenk erfasste, waren so angenehm anders, so erfrischend menschlich im Vergleich zu den glatten, "perfekten" Figuren, die uns Medien und Werbung auch hier in Deutschland immerzu präsentieren. Auch die im Bericht zu Wort kommenden Frauen hatten allesamt Profil, sie waren interessant, offensichtlich klug und zugleich attraktiv, ohne in Schablonen passen zu müssen.

Eine von ihnen, Lorella Zanardo, hat einen sehenswerten kritischen Kurzfilm über das Bild der Frauen in den italienischen Medien gemacht. Was ihr Zusammenschnitt aus zum Teil öffentlich-rechtlichen TV-Sendungen zeigt, grenzt an Softpornografie, scheint aber in Italien Gang und Gäbe zu sein.

Neben der Absurdität des verzerrten Frauenbildes, die in diesem Kurzfilm deutlich zutage tritt, gibt die Regisseurin auch einige kluge Dinge zu bedenken, von denen mich eines am meisten beschäftigt: Mit wessen Augen sehen wir Frauen uns eigentlich?

Zanardo merkt an, dass sich die Bandbreite der Möglichkeiten, was und wie eine Frau sein kann, aufgrund des propagierten und von vielen Frauen auch fraglos akzeptieren Frauenbildes mehr und mehr einengt. Wenn auch nicht in so krasser Form, so läuft es bei uns doch mehr oder weniger genau so. Die Werbung (wenn wir sie uns denn ansehen, und ich glaube, das tut doch die Mehrheit) sagt: Du musst vor allem schön sein. Schön sein heißt: Habe langes, glänzendes Haar. Habe dichte, lange Wimpern. Habe glatte Haut. Habe lange Beine. Habe ein makelloses, faltenfreies Gesicht. Habe perfekte Proportionen. Habe zarte Hände. Habe eine schlanke Taille. Habe volle Lippen. Habe einen knackigen Po. So schleichen sich Ideale in unsere Köpfe, ohne dass wir es recht merken. Uns wird vorgegeben, wie wir zu sein haben, um "richtige" Frauen zu sein und uns begehrenswert zu machen. Wir machen uns zur Ware, ohne uns dessen bewusst zu sein, wenn wir diesen Idealen folgen.

Die Frage, wessen Blick auf uns es ist, dem wir da eigentlich folgen, ist aber noch ungeklärt. Ich weigere mich zu glauben, dass es generell der Blick der Männer ist und dass es die Männer sind, die uns so haben wollen. Wenn ich den eigenen Herrn Gemahl zum Thema befrage, dann spüre ich bei ihm immer eine ganz intensive Abneigung gegen alles normierte, unnatürliche. Er mag nicht mal Lippenstift (aber ich zum Glück auch nicht) und entgegnet meinen manchmal etwas verzagten Nachfragen, ob ich nicht meine Beine mal wieder rasieren müsste, mit der knappen Antwort: "Meine Güte, Frauen sind nun einmal auch Wesen mit Haaren!" Ich finde das charmant, auch wenn ich meine Beine lieber ohne mag. Männer seiner Art kenne ich noch mehrere, also kann nicht pauschal gelten, dass es ein Männerblick ist, der uns in dieses Korsett zwingt und uns all die Bedürfnisse und Bewertungen aufnötigt, die so offensichtlich nicht unsere eigenen sind.

Ich glaube, die Angelegenheit geht noch eine Stufe tiefer (und auch zu dem Gedanken inspirierte mich Frau Zanardo): Es ist die Negation der Persönlichkeit, die dort stattfindet. Lorella Zanardo bemerkte treffend, aber fast nur am Rande, dem gestrafften, gelifteten, zwanghaft jungen Gesicht fehle vor allem eines, nämlich die Persönlichkeit. Mit all den Jahren, die ein Mensch erlebt, addieren sich zu seinem Aussehen Zeichen seiner Erfahrungen hinzu. Das Erlebte spiegelt sich in Falten, Ecken, Kanten, Narben, fehlenden Haaren. Bei Männern scheint das kaum einen zu stören (auch wenn sich hier und da ein entgegengesetzter Trend einzuschleichen scheint, was schlimm genug ist). Ich liebe an meinem Gatten ganz besonders die so böswillig Krähenfüße genannten Falten um die Augen, die ein Zeichen dafür sind, wie viel er lacht und lebt. In meiner eigenen Stirn zeichnet sich ansatzweise eine steile Längsfalte ab, die wohl von manchem Nachdenken herrührt, aber vielleicht auch von unterschwellig vorhandenem Zorn. Wie ich aussehe ist also ein Teil von mir, macht mich aus und gehört zu mir in meinem So-Sein.

Genau das So-Sein als vollständige, akzeptierte Persönlichkeit scheint aber das zu sein, das wir Frauen möglicherweise nicht ausreichend gelernt und das die Männer in der Vergangenheit vielleicht auch nicht ausreichend akzeptiert haben. Noch nicht allzu lange ist es her, da hatte eine Frau überwiegend bitte den Mund zu halten zu allen brisanten Themen und vor allem adrett auszusehen. Dabei ist aber das, was an Meinung in mir wohnt, ein Bestandteil meiner Person und muss zum Zwecke meiner Vollständigkeit geäußert werden dürfen. In einer freien Welt, die die Menschlichkeit von Mann und Frau zur Basis hat, muss erlaubt sein, Person zu sein. Andernfalls bin ich in der Tat nur Objekt, Dekoration, oder wie Frau Zanardo es treffend beschrieb: Ein Schnörkel in der Welt der Männer. Es mag die Angst vor der Ablehnung sein, die so viele Frauen in die zwanghafte Anpassung an das Ideal treibt. Ich glaube, der Trend hin zum Stereotyp resultiert aus der Unfähigkeit, sich selbst zu betrachten, und zwar mit wirklich keinen anderen als den eigenen Augen. Von Beginn an wird uns das Bild vorgegeben, und zwar nur dieses eine. Etwas anderes wird mangels Bewusstsein kaum in Betracht gezogen, allenfalls kleine Spielarten desselben Themas.

Das Thema heißt: Verleugne Dich selbst. Verleugne die Persönlichkeit und das, was sie mit Dir macht. Verleugne Deine Chance zu innerer Unabhängigkeit und Freiheit zugunsten einer Anpassung bis hin zur Unkenntlichkeit. Verleugne Deine Möglichkeiten zu echter Tiefe. Verleugne, dass Du Du bist.

Mir kam das Phänomen der Konkurrenz in den Kopf und damit schlagartig der Gedanke, wie unterschiedlich sie bei Männern und bei Frauen ist. Zwar mögen Männer bedacht sein auf ihr Image bei Frauen, wenn sie miteinander in Konkurrenz treten. Dennoch ist ihr Blick auf sich selbst ausschlaggebend, wenn sie bewerten sollen, wer von zweien denn nun der bessere ist. Sie messen sich auf eigenem Terrain. Unter Frauen ist es indessen oft so, dass sie miteinander darum konkurrieren, welche von beiden bei dem Angebeteten oder generell bei der männlichen Zielgruppe besser ankommt. Sie konkurrieren nicht auf eigenem Gebiet, sondern in einem fremden Bewertungsschema. Ich sehe das oft im Alltag in meinem Arbeitsleben: Wenn eine Frau neu hinzukommt, hat sie meist noch etwas eigenes. Aber spätestens nach einigen Monaten wandeln sie sich, gleichen sich einander an, werden ähnlich, bis schließlich nichts weiter als ein Abziehbild bleibt. In diesem Falle das Bild einer Frau, von der sie sich vorstellen, dass sie beim Chef gut ankommt. Während ein Mann im Konkurrenzkampf optimalerweise an Profil gewinnt und heraussticht, nivelliert die Frau die Unterschiede, in denen ihre Person vom vermeintlichen Ideal abweicht. Heraus kommt eine Unperson, eine innerlich wie äußerlich Uniformierte.

Wir haben Angst, einfach zu sein. Mein Verdacht ist, dass das geschieht, weil wir der Fehlannahme aufgesessen sind, dass wir als Frauen alles, was wir zum Leben brauchen, erhalten, wenn wir attraktiv gefunden werden. Mit Liebe hat das nichts zu tun, denn wer liebt schon ein Abziehbild? Liebe ist das, was zwischen erwachsenen Personen stattfindet. Wie es aussieht, fürchten wir uns zu sehr, um zu verstehen, dass Liebe wie Selbstliebe Persönlichkeit erfordert.

Es gibt sie tatsächlich, die Frauen, die Persönlichkeiten sind und das auch ausstrahlen. Wann immer ich Berichte über solche Menschen sehe oder ihnen begegne, habe ich eine Gänsehaut und begreife plötzlich, welches Potential in jeder von uns steckt - so auch in mir - weit jenseits der peinlichen, glanzlackierten und glattgezogenen Witzfiguren.

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Sonntag, 3. April 2011
Luxusproblemchen
Frau von der Leyen und Frau Schröder wollen mehr "Frauen in Führungspositionen". Da stehen sie, gemeinsam mit daxnotierten Unternehmern für's Foto posierend, kompetent und kostümiert, strahlend und innovativ. Ich kriege schon beim Anblick dieser beiden Witzfiguren das kalte Kotzen.

"Mehr Frauen in Führungspositionen!" - ehrlich, wenn ich diesen Slogan schon höre! Er ist so abgedroschen, so sehr darauf angelegt, nach außen zu demonstrieren, wie sehr man sich angeblich für die Gleichberechtigung einsetze, er ist so sehr Makulatur. Kein Wunder, dass aus demselben Stall auch schon das Internet-Stoppschild gegen Kinderpornografie kam, mit dem man dann so scheinheilig vorführen konnte, wie sehr man sich um das "Wohl" der Kinder sorgt, ohne wirklich an den Grundlagen rühren zu müssen. Damit dann der Eindruck entsteht, man meine es auch wirklich ernst, droht man der Wirtschaft noch mal schnell mit einer Quote. Die die Wirtschaft selbstredend ablehnen muss.

Aber selbst, wenn sie es wollte, ist immer noch die Frage, ob sich überhaupt genügend Frauen auf Führungspositionen bewerben würden und ob sie in der Lage und willens wären, diese auch auszufüllen. Das Buzzword "Führungsposition" entstammt einer Wirtschafts- und Arbeitskultur, die sich ohne es selbst zu wissen zunehmend überlebt - wenn auch nicht bezifferbar, so doch spürbar. Man wundert sich über den Anstieg von Burn-Out-Fällen, über die vielzitierten abwesenden Väter, man wundert sich über Raffgier und Workaholismus im Management gleichermaßen, und man wundert sich doch tatsächlich hierzulande auch, dass Frauen nicht in höheren Maße "Führungspositionen" einnehmen.

Dabei ist das gar nicht so verwunderlich. Die Frauen haben in diesem konkreten Fall einen entscheidenden Vorteil: Sie sind per Rollendefinition nicht festgelegt darauf, sich in einer solchen Ellenbogenkultur durchsetzen zu müssen. Sie können jederzeit auch normale Jobs ohne Kampf und Krampf annehmen, ohne dafür als Weicheier betrachtet zu werden. Sie haben die Sicherheit im Rücken, die den Männern fehlt. Es kratzt bei weitem nicht so sehr an ihrem Selbstbild, wenn sie mit Mitte 30 noch keinen Managementposten irgendwo errungen haben, und sie werden weniger oft gefragt: "Sag mal, wo willst Du denn eigentlich in zehn Jahren stehen? Wie viele Stellen sollte Dein Jahresgehalt aufweisen? Wieviele Untergebene willst Du haben? Was für einen Posten willst Du bekleiden?"

Es gibt viele gute Gründe, sich diese nervenzerreißende Tretmühle nicht anzutun, und meiner Meinung nach sind die Gründe für Männer wie für Frauen dieselben. Es ist das Treten, Strampeln und Beißen, das man auf dem Weg nach oben zu leisten hat, das abendliche "Schatz, es tut mir sooo Leid, aber ich muss noch mal kurz...", das ständige zur Verfügung stehen, das totale "Engagement". Denn wer nur ein einziges Mal blinzelt und Schwäche erkennen lässt, wer nur ein einziges Mal lieber beim Kind am Krankenbett sitzt oder den Meditationskurs nach Feierabend für wichtiger hält als endloses, männerbündisches Karrieregeschwafel mit dem Chef im Spitzenrestaurant, der ist raus. Der hatte einfach nicht genug Biss, der hatte kein Durchsetzungsvermögen, kein ausreichendes Interesse an Job und Unternehmen, nicht genügend Flexibilität. Wer sich ein einziges Mal berührt und verletzt zeigt vom rüden, konkurrenzgeprägten Unterton der oberen Etagen, wer sich emotional gibt und seine Berührbarkeit nicht aufgeben mag, der scheitert in diesem lebensfeindlichen Umfeld. Eine solche Arbeitsumwelt fordert vom Individuum, vollkommen in diesem System aufzugehen, sie entmenschlicht, überfordert, bedrängt und bedroht mit Selbstverlust.

Möglich, dass die Frauen das instinktiv spüren und sich bei allem Fachinteresse doch lieber aus solchen Maschinerien heraushalten. Möglich auch, dass viele Männer das instinktiv spüren, aber keinen Weg sehen, der totalen Vereinzelung und Verwertung zu entgehen, weil sie per Rollendefinition auf das toughe Alphamännchen-Verhalten festgelegt sind und sich eher bis zur totalen Erschöpfung auspowern, anstatt der Ehefrau zu hause irgendwann mitzuteilen, dass sie zukünftig auf einen Tausender im Monat zu verzichten hat und - was nicht im mindesten geringer zu bewerten ist - auf das Prestige, das damit einhergeht, wenn er einen tollen Posten bekleidet.

"Wenn Ihr nicht werdet wie die Männer...", mit diesem Halbsatz könnte man die unterschwellig drohende Botschaft von von der Leyen und Schröder an die Frauen vielleicht am besten umschreiben. Denn auch alle Quote bringt nichts, wenn es nicht auch Personen gibt, die sie ausfüllen möchten. Ich glaube, das viele der hochqualifizierten jungen Frauen gern bereit wären, ihr Wissen und Können später im Beruf auch einzusetzen, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie wirklich sehr sorgfältig abwägen und sich immer wieder fragen: "Möchte ich das? Nur noch arbeiten, sonst nichts mehr sein, keinen Raum mehr haben für andere wichtige Dinge?" Dazu neigt unsere kapitalistische Gesellschaft: Den Menschen zu reduzieren auf seine Funktion als Produzent und Konsument. Dabei sind Menschen - Männer wie Frauen - so viel mehr. Statt dessen aber sollen nach Vorstellung der zuständigen Politikerinnen mehr Frauen antreten mit schultergepolstertem Kostüm und Aktentasche, arbeitsuniformiert, und sich einreihen in das, was Angehörige anderen Geschlechts schon längst kaputt macht, auch wenn das wohl die wenigsten wirklich freimütig zugeben würden. Ich bin weit davon entfernt, den Frauen pauschal die zarte, sozial kompetente Seite zuzuschreiben, und noch weiter entfernt von der Illusion, Frauen könnten möglicherweise durch ihren Einzug in die besagten "Führungspositionen" die Wirtschaftswelt menschlicher machen. Wenn einer einen Gegenbeweis liefert, so in zehn, zwanzig Jahren vielleicht, dann revidiere ich meine Meinung gern. Ich denke aber, dass flachere Hierarchien, mehr horizontale Kommunikation und "weibliche" Weichheit dem Kapitalismus schlicht nicht entsprechen.

Wir haben doch nun wirklich andere Probleme als die Besetzung der "Führungspositionen" mit Frauen. So lange Frauen in diesem Land ein schlechtes Gewissen gemacht wird, wenn sie ihr Kind in eine Betreuung geben (falls sie denn eine bezahlbare finden), sind wir von Gleichberechtigung weit entfernt. So lange es das schräge Ehegattensplitting gibt, sind wir weit entfernt. So lange es Männern nicht möglich ist, sich um Familie zu kümmern, sind wir weit entfernt. So lange es Frauen nicht möglich ist, sich ohne angefeindet zu werden gegen Familie zu entscheiden, sind wir weit entfernt. So lange es Mädchen gibt, die als vorrangigen Berufswunsch "Luxusluder" oder "It-Girl" angeben, sind wir weit entfernt. So lange Frauen eklatant weniger verdienen als Männer und die auch emotional aufreibenden Jobs machen (z.B. in der Kranken- oder Altenpflege), sind wir weit entfernt. Bleibt mir doch weg mit den blöden "Führungspositionen"...!!

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Montag, 21. März 2011
...lühbisch!
Wenn ich noch mal einen Nachrichtensprecher "Lühbien" sagen höre, kriege ich 'nen Schreikrampf. Isses denn so schwer?

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Sonntag, 20. März 2011
Grenzen
Meine Schwägerin ist ein Goldschatz. Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Ich habe sie sehr gern, ihre fröhliche und offene Art ist ansteckend, sie ist kreativ und wir können gut miteinander reden. Sie strahlt viel Herzenswärme aus. Ich vertraue ihr und sie vertraut mir. Wir haben einen ähnlichen Geschmack und viele gemeinsame Interessen. Im Gegensatz zu vielen anderen Müttern, die ich kenne, ist sie weder trutschig noch langweilig noch dreht sich alles immer nur um ihre Kinder. Wir gehen auch gern mal zusammen auf Konzerte oder Lesungen, wenn es die Zeit zulässt. Es würde mir ein wichtiger Mensch fehlen, wenn es sie nicht gäbe.

Aber es gibt ein Problem. Als wir gestern eingeladen waren, um die Kinder noch nachträglich zum Geburtstag zu beschenken, traf ich ihr Haus in einem erschreckenden Zustand an. Sie war schon immer der eher planlose Typ. Sie vergisst gern Verabredungen und Termine, und dass prinzipiell immer Kindersocken, Spielzeug und angebissene Brote herumliegen, bin ich ja gewöhnt. Irgendwie war das auch noch ansatzweise verständlich, bei drei Sprösslingen im Alter von acht, sechs und zweieinhalb Jahren. Da stolpert man schon mal über was. Klinisch rein finde ich ehrlich gesagt auch fürchterlich. Das ist es bei mir selbst eher selten. Ich gehöre nicht zu den Sagrotanisten, die hinter jeder Ecke Keime lauern sehen und permanent mit Fusselnentfernen und Händewaschen beschäftigt sind. Aber bei ihr wird es immer schlimmer mit der Unordnung und dem Dreck. Ihr riesiger, neurotischer Irish Setter, der hin und wieder aus seinem Zwinger in die Wohnung gelassen wird, tut ein Übriges. Ihrer Planlosigkeit war es wohl auch geschuldet, dass sie gestern, als wir knapp zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit bei ihr eintrafen, noch am Staubsaugen war. Dann flitzte sie hektisch ins Wohnzimmer und breitete eine von den Kindern zertobte Decke über die fleckige Sitzfläche des Sofas. Es dauerte noch eine ganze Zeit, bis sie uns Gesellschaft leistete, während wir versuchten, die Zeit mit dem müde aussehenden Herrn Schwager zu verplaudern. Der saß in seinem (vielleicht schon tagelang getragenen) Mark-Lanegan-Band-Shirt nachmittags um vier mit einer Flasche Bier auf dem Küchenstuhl, und irgendwie kam die Unterhaltung nicht so recht in Gang. Erst, als die Kinder von draußen reinkamen, wurde es lockerer (und auch lauter).

Ich mache mir Gedanken. Über allem scheint bei den beiden ein klebriger Grauschleier zu liegen. Ich mag nichts anfassen und von keinem Teller essen, und ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll. Das Laminat knirschte trotz Staubsaugen vom Sand. Das Bücherregal über dem Esstisch ist seit Monaten abgeräumt, weil sich an der Außenwand hinter den Büchern Schimmel gebildet hatte, der jetzt auf der Wand graue Blüten treibt. Statt der Bücher liegen dort jetzt andere Dinge herum, und die Kisten mit den Büchern stehen in der Diele. Schimmel auch unter den Vorhangstangen an den Fensterstöcken - an den Wänden ist mehr Grau als hellgelb gestrichene Rauhfaser. Die Heizungen haben keine Thermostate, es ist immer zu kalt oder zu heiß. Beim Versuch, mich an der Fensterbank anzulehnen in Ermangelung von Stühlen habe ich mich beinahe in einen vergessenen Teller gesetzt, auf dem noch eine mit Gurke bespießte Gabel lag. Von wann, das weiß ich nicht. Fußleisten fehlen ganz, am Durchgang zur Küche haben die Kinder schon vor einer halben Ewigkeit die Tapete heruntergerissen und an die Wand gemalt.

Manche Dinge sind zweifelsohne ästhetische Probleme, und da legt offenbar meine Schwägerin andere Maßstäbe an als ich. Damit kann ich leben und mich freuen, wenn ich in meinen eigenen vier Wänden bin, in denen wie gesagt auch nicht immer alles gerade steht. Aber ich überlege jetzt, ob ich sie überhaupt noch zuhause besuchen möchte. Ab und an schauten wir auch gemeinsam Filme oder kochten, aber ich mag in diesem Haushalt inzwischen weder die Schuhe ausziehen noch Küchengeräte benutzen. Die Kleidung, die ich gestern trug, ist schon wieder gewaschen, weil ich sie als erstes abgelegt habe, als ich nach hause kam. Meine Schwiegermutter hat, so weit ich das weiß, ihr gelegentliches hilfreiches Putzen im Haushalt ihres jüngeren Sohns auch eingestellt. Naja, und dann ist da noch der kleine, zweieinhalbjährige Neurodermitiker, der gestern ausdauernd über das Laminat auf den Knien unter den Esstisch ins Halbdunkel rutschte, um seinen Spielzeugbus wiederzuholen - der sich schwärzlich von der Wand schälenden Tapete entgegen... Der Herr Schwager scheint indessen regelrecht zu fliehen, mal in Richtung Arbeit, mal in Richtung Whiskey. Es dreht sich mir nicht nur der Magen um, sondern auch das Herz.

Was tun? Ich bin ratlos und weiß nicht, ob ich offen mit ihr über dieses Problem reden kann, ohne sie zu beleidigen oder zu ihrer Überforderung beizutragen. Ich habe das schon einmal erlebt in einer Freundschaft, und nach dem dritten mal gut gemeintem, gummibehandschuhten Aufräumen-Helfen stieß ich damals an meine Grenzen. Auch heute bin ich kurz davor. Ich kann sie doch nicht immer nur zu mir einladen... Vielleicht sollte ich mal mit Schwiegermama reden?

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Samstag, 5. März 2011
Asche zu Asche...
Manchmal ziehen Stunden ins Land, wenn ich vor dem Rechner sitze und bei Wikipedia Link um Link folge... Ich komme sozusagen vom "Höcksken aufs Stöcksken", wie man hierzulande gern sagt. Startpunkt war der Artikel unter dem Stichwort "Wachsleiche", denn ich hatte gestern eine interessante Reportage in 3sat über den mutmaßlichen Leichnam Rosa Luxemburgs gesehen, der sich als ebensolche in der Berliner Rechtsmedizin befand und dort lange als Anschauungsstück hinter Glas lag. Neugierig, wie es zu so einer Verwächserung kommt, schlug ich also nach.

Den Verlinkungen folgend stieß ich auf süddeutsche Friedhofsprobleme und von dort alsbald auf die recht restriktive Friedhofsordnung, die deutschlandweit beispielsweise verbietet, Urnen mit der Asche Verstorbener mit nach hause zu nehmen und dort auf den Kaminsims zu stellen.

Mit dem Herrn Gemahl habe ich schon oft über das eigene Ableben gesprochen und daher kam auch die Rede auf Bestattungswünsche. Es wäre nett, so dachten wir uns beide, wenn man sich in Rauch und Asche auflösen ließe. Noch netter, wenn die hinterher irgendwo verstreut würde, am besten an einem Platz, den wir beide lieben. So kamen wir doch schnell wieder auf die Niederlande. Denn Verstreuen, das ist auch hierzulande ein schwieriges Thema, zumindest außerhalb von Aschewiesen auf Friedhöfen, die auch nur in bestimmten Bundesländern existieren. Als Alternative bliebe für mich noch die Seebestattung. Vom Begräbnis inklusive Bepflanzung mit Primeln und teurem Grabstein hielt ich nie viel.

Die Realisierung solcher "extravaganten" Wünsche sehen aber die Zunft der Bestatter und die Kirchen mehr als kritisch (aus ideologischen ebenso wie monetären Gründen), und so kam es denn im Zuge der Vorbehalte gegenüber solch ungeheurer Freizügigkeit, wie sie unsere nordwestlichen Nachbarn praktizieren, zu einer urbanen Legende, zu einem Gerücht, über dessen Hartnäckigkeit und Verbreitung ich nach ein wenig googlen bas erstaunt war.

Es lautet:
In den Grachten Amsterdams finden sich beim turnusmäßigen Ausbaggern und Reinigen hunderte Urnen mit menschlicher Asche, die dort einfach und billig von Angehörigen entsorgt werden, weil diese damit nichts anzufangen wissen.
Dies sei eine Folge der liberalen Bestattungsregelung, die es erlaube, Urnen zuhause aufzubewahren. Die Urenkel schließlich wüssten bei der Entrümpelung nicht, wohin mit der Asche, und deponierten sie samt Behältnis im Wasser.

Spannend, dass ich keinerlei niederländische Belege für diese Problematik fand. Drehte es sich tatsächlich um hunderte Urnen, so müsste sich doch auf niederländischen Websites etwas darüber finden... Aber da war rein gar nichts. Ein charmanter Bericht über die Baggerei fand sich auf der Seite Jouw Buurt Mijn Buurt, aber dem zufolge wurden neben einer Menge Plastikmüll, vielen Fahrrädern und tatsächlich auch mal der einen oder anderen Leiche keine Urnen gefunden, oder zumindest nicht die "Hunderte", die erwähnenswert gewesen wären. Auch auf der Seite von Waternet und derjenigen der Gemeinde Amsterdam kein Wort über dieses ungeheuerliche Phänomens.

Was mich vollkommen fasziniert ist die lebendige Dynamik eines solchen Gerüchts und die Art, wie es sich fortsetzt. Mal davon abgesehen, dass es in diesem Fall auch einen tatsächlichen Zweck erfüllt, nämlich den, die Liberalität in der Bestattungskultur unserer Nachbarn als ethisch fragwürdig und moralisch abgründig zu brandmarken. Es wundert mich nicht, dass das Gerücht sich nicht nur in Foren, sondern auch auf der Homepage eines CDU-Politikers in NRW wiederfand. Er hoffte wohl, es angesichts einer zur Debatte stehenden Änderung des Bestattungsgesetzes zum Politikum machen zu können.

Fest steht für mich, dass ich auf keinen Fall nach dreißigjähriger "Ruhezeit" in matschigem Erdreich von einem Schaufelbagger wieder ans Tageslicht gebuddelt werden will. Da lass' ich mich doch lieber in den Wind streuen - oder im Zweifel auch in die Gracht.

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Dienstag, 1. März 2011
Wartezimmer
Ich hatte mir so fest vorgenommen, nicht über Herrn Guttenberg zu bloggen - irgendwie tun das eh schon alle, und es wurde auch schon alles gesagt.

Mein mit zu großem Schwung in Kontakt mit einer zerbrochenen Glasvase gebrachter Zeigefinger zwang mich denn aber heute in die Praxis meiner Hausärztin zwecks Begutachtung und Verbandswechsel. Im Wartezimmer wurde ich Zeugin einer amüsanten Begebenheit.

Ich hatte mich, mangels Interesse an "Gala", "Bunte" und "Wartezimmer TV", schweigend auf meine Füße starrend zurückgelehnt, als ein sympathisches älteres Ehepaar den Raum betrat. Voran schritt er, schon in den ersten Sekunden ganz der Herr im Haus, graumeliertes Haar, geputzte Schuhe, nach Feedback für sein Auftauchen um sich schauend. Dann folgte sie, adrett gekleidet mit aufgestelltem Hemdblusenkragen unter der farblich passenden Weste.

"Daisnochnplatzfrei!" grummelte der Herr und zeigte mit dem Finger auf den einzigen verbleibenden freien Stuhl im Zimmer - nachdem er sich hingesetzt hatte. Und sie, unverhüllt schnippisch, antwortete: "Ach, wie überaus großzügig von Dir, mein Junge!" Blieb indes aber doch stehen und starrte erst einmal aus dem Fenster, bis sie die große Thermoskanne entdeckte und eilfertig zuerst dem Herrn Gemahl und dann sich selbst einen Kaffee kredenzte (- er quittierte das dann mit einem "Manndasisheiß!"). Gewollt oder ungewollt - sämtliche anderen Anwesenden erhielten innerhalb dieser nur wenige Minuten dauernden Sequenz einen kleinen Einblick in den Charakter der Eheleute.

Dann herrschte kurzes Schweigen, ehe der Herr, den "Spiegel" zurück auf das Tischchen legend, konstatierte: "Na, der zu Guttenberg is' ja jetzt auch zurückgetreten. Schade!" Die beiden älteren Damen im Raum bestätigten das Bedauern mit heftigem Kopfnicken.

"Und das wegen so ein paar Mogeleien!" meinte der Herr. "Ehrlich, ich kenn' auch 'ne Juristin, die hab' ich erst neulich getroffen, die meint, 90% der Doktorarbeiten wären gemogelt oder abgeschrieben. Und überhaupt, in der Juristerei, da gibt es gar nicht mehr so viel zu forschen, die können gar nix Neues mehr schreiben da. Und wegen sowas wird der dann abgestraft! Da steckt bestimmt die Opposition dahinter!"

"Dabei war das so'n Guter!" meint eine der älteren Damen. "Fürde Soldaten war der gut!"

Ja, nicken alle Anwesenden, fürde Soldaten war der gut. Der Herr blickt mich von schräg rechts an, als wolle er wissen, ob ich denn gar nichts dazu zu sagen hätte, aber ich schweige, während ich mir Mühe gebe, nicht fürchterlich breit zu grinsen.

"Ja, dabei ist der so unermesslich reich," fährt der Experte fort, "der hätte es überhaupt gar nicht nötig, zu arbeiten. Und trotzdem hat der sich das angetan mit dem Verteidigungsministerium. Und so wird's ihm dann gedankt!"

Wieder ein Blick, und ich beiße mir auf die Lippen und versuche, gelangweilt auszusehen. Die beiden Damen haben dazu ebenfalls nichts weiter mehr zu sagen und schweigen deshalb. Ein paar Minuten Stille gehen ins Land.

"Willst Du noch Kaffee?" fragt die beflissene Gattin ihren Politik-Experten und macht sich dann mit der dünnen Plastiktasse um meine Beine herum erneut auf zur Thermoskanne. "Stopp, stopp. Wenig. Reicht!" bremst der Herr den Kaffeefluss, nimmt die Tasse entgegen und grantelt dann: "Das' aber 'n bisschen wenig wenig." "Hast Du doch so gewollt!" retourniert die Gemahlin.

Nach längerem Schweigen stellt der freundliche Herr fest, dass das Thema Guttenberg sich wohl in diesem Wartezimmer erschöpft hat.

"Naja," meint er, "über Politik soll man ja eigentlich auch nicht reden!"

Nee, denk ich mir, besser ist das!

Angesichts solcher Erlebnisse wird mir wieder mal klar, dass dieses Land die Leute verdient, von denen es regiert wird.

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Sonntag, 30. Januar 2011
...und alle so: "Schwanz ab!"
Und wieder mal der Volkszorn...

Nachdem das Verschwinden des kleinen Mirco aus Grefrath jetzt aufgeklärt ist, trifft mich wieder einmal mit voller Wucht die Keule der tobenden Masse, obwohl ich doch eigentlich schon längst wissen müsste, dass das in solchen Fällen geschieht.

Ich bin einfach immer wieder erschüttert darüber, wie erbsenhirnig die Stimmen sind, die laut werden, wenn wieder mal ein Kind sein Leben lassen musste. Auf der News-Artikelseite eines Mailproviders fanden sich inzwischen 109 Seiten Kommentare zu dem Vorkommnis, und ich kam über zwölf nicht hinaus - mir wurde schlecht beim Lesen. An tumber Polemik sind die Beiträge (bis auf ganz wenige Ausnahmen) nicht zu überbieten, und ich habe einfach den Verdacht, dass differenziertes Denken bei den meisten Menschen nicht drin ist.

Kleine Auswahl:

"Für solch kranke Kreaturen sollte man wirklich über die Todesstrafe nachdenken."

"Schickt den täter nach China die wissen wie man mit solchen verbrechern umgeht."

"der gehört nicht hinter Gittern sondern auf den elektrischen Stuhl"

"Derjeniger der Leben nimmt hat kein Recht mehr auf Leben !!!!!!!!!!"

"Vorsicht- der nette Nachbar- kann ich nur sagen."

"Den sollte man am Schwanz aufhängen, bis der von alleine abfällt. Kein Mitleid mit diesem Verbrecher. Mein Mitgefühl gilt den Eltern und auch den Kindern dieses D.....acks !"

"Kinderschänder und Mörder haben hier Narrenfreiheit. Es wir Zeit das sich was ändert. "Tot den Kinderschändern" sie haben kein leben verdient!!!"

"Ein Aspekt bleibt bei allem wieder außen vor, nämlich, dass es sich wiederum um eine homosexuell motivierte Straftat handelt. Das war ja schon bei der Masse der im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Mißbrauchsfälle der Fall."

Das geht seitenweise so weiter.

Ehrlich, mir macht das Angst. Seiten um Seiten dieses stumpfen, zornigen Geschwafels... In der schützenden Anonymität dieser Forenkommentare erlauben sich natürlich manche erst Recht die ganz große Klappe, aber trotzdem möchte ich solchen Menschen nicht auf der Straße begegnen. Ein wütender Mob mit intellektueller Begabung auf Boulevard-Zeitungs-Niveau - das ist, was sich in der großen Zahl dieser Kommentare niederschlägt.

Natürlich besteht Anlass zu Trauer und Wut angesichts der Tatsache, dass ein Zehnjähriger entführt, missbraucht und ermordet wird. Das ist schrecklich, es bleibt schrecklich, von welcher Seite man es auch beleuchtet.

Aber mich regt die Fehlannahme auf, unser Rechtssystem sei zu lasch. Man kann über Verhältnismäßigkeiten diskutieren und sollte es auch - z.B. im Vergleich zu materiellen Delikten. Aber es wird anscheinend grundsätzlich angenommen, die sogenannten Kinderschänder würden "übermorgen" wieder "laufengelassen".

Das leitet der besagte wütende Mob offenbar aus dem Umstand ab, dass solche Verbrechen wie das an Mirco immer wieder geschehen. Das kann für den einen dann nur an der zu laschen Justiz liegen, für den anderen liegt es an homosexuellen Neigungen.

Dass es an uns allen liegen könnte, an der Art, wie wir mit Sexualität, mit Macht, mit Erziehung umgehen und welchen Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich haben, das interessiert nur diejenigen, die sich mit einfachen Erklärungen ohnehin nicht zufriedengeben.

Wie kann man glauben, so etwas könne "bei uns" nicht geschehen, wenn man zugleich selbst Sex zur Machtausübung und Erniedrigung benutzt?

Wie kann man glauben, eine solche Tat sei nur in Randgruppen möglich, wenn viele zugleich ohne mit der Wimper zu zucken täglich die eigenen Kinder physisch und psychisch schädigen?

Wie kann man meinen, in einer Gesellschaft, die noch immer die althergebrachte Machthierarchie "Männer - Frauen - Kinder" kennt, würde so etwas nicht passieren?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen, insbesondere aber Männer, die unter Stress stehen, immer noch als Weicheier gelten, wenn sie ihre Probleme offen zugeben oder sogar über sie sprechen wollen. Es werden Erniedrigungen eher heruntergeschluckt, als dass man zugibt, verletzt zu sein.

Wenn dann jemand sich an einem Kind vergeht, ist das im Grunde nur die logische Konsequenz aus dem Zusammenspiel dieser Umstände. Und bevor jemand meint, ich wolle den Täter damit entschuldigen - das will ich ganz sicher nicht. Die letzte Entscheidung über unsere Handlungen treffen wir selbst, wir sind dafür verantwortlich.

Aber wir müssen uns nicht wundern, dass der "liebe Nachbar" sich "plötzlich" zu einem "Monster" entwickelt. Es geschieht weder plötzlich, noch ist das angebliche Monster etwas, das so weit von uns selbst entfernt ist.

In einzelnen Menschen kristallisiert sich nur die vollständige Lebensfeindlichkeit unserer Gesellschaft. Zwischenmenschliche Grausamkeiten werden so lange kleingeredet und ignoriert, bis sich die Auswirkungen Bahn brechen, psychische Wunden kompensiert werden, das absolute Machtvakuum mit Gewalt gegen andere ausgeglichen wird...

Dann aber ist das Geschrei groß. Dann fordern viele mit großem Geheul Todesstrafe, Kastration, lebenslange Haft, weil die einzige adäquate Antwort auf Gewalt für sie Gegengewalt lautet.

Eigentlich aber auch nur konsequent.

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Dienstag, 18. Januar 2011
Verächtlicher Jargon
Neulich habe ich ein neues Wort gelernt:

"Integrationsresistenter Kunde"

Ich musste zuerst überlegen... Bis ich begriff, dass die sogenannten Arbeitsagenturen ihre "Fälle" heute als Kunden bezeichnen. Eine einzigartige Konstruktion, diese Zusammenstellung, wirklich. Integration (das Buzzword des Jahres 2010) gilt gemeinhin als etwas Gutes. In Sachen Resistenz kommt es schon drauf an: Eine regenresistente Jacke ist was Feines, ein (gegen welche Bearbeitung auch immer) resistenter Mensch eher nicht. Der Knüller im Gesamtkunstwerk ist aber das Wort "Kunde". Da denke ich in erster Linie an sinnentleerte (und inzwischen breitgetretene) Marketing-Sätze wie "Bei uns ist der Kunde König!"

Wenn sich einer also nicht integrieren lässt, in diesem Fall in den Arbeitsmarkt, dann ist er resistent. So weit, so wenig gut schon an diesem Punkt. Dazu später. Der Knoten in meinem Kopf rührte zuerst einmal aus folgender Unvereinbarkeit: Der arbeitssuchende Mensch ist auf dem Arbeitsmarkt eine Ware, genaugenommen, seine Arbeitskraft ist es. Also ist die Arbeitsagentur als vermittelnde Stelle ein Arbeitskraft-Händler. Manche Ware ist auf dem Arbeitsmarkt allerdings etwas schwer loszuwerden, was frustrierend für den Händler ist. Also redet er sich ein, der Arbeitssuchende sei eigentlich ein Kunde, der etwas von ihm will, und die Arbeit, die es zu tun gibt, eine begehrenswerte Ware. Dabei mangelt es nicht an Arbeit. Und der sogenannte Kunde bezahlt auch nicht für die Arbeit, die er bekommt. Kann er gar nicht.

So hübsch es sich also erst mal anhört, so hofiert und königlich - der "Kunde" ist kein solcher. Er ist ein Arbeitsloser, ein Bittsteller - punktum. Einen Kunden würde man auch nie als integrationsresistent bezeichnen. Jemand, der sich nicht einfügen will oder kann, es aber eigentlich nach Ansicht mancher Leute tun müsste, ist meilenweit davon entfernt, Mitglied einer umschwärmten Zielgruppe zu sein. Selten war innerhalb eines einzelnen Begriffs der Widerspruch größer.

"Integrationsresistenter Kunde" oder kurz "IR-Kunde" ist wieder mal ein Beispiel für wortgewordene Verächtlichkeit. Mit schöner Regelmäßigkeit werden neue Worthülsen kreiert, um Ausdrücke zu vermeiden, die im Verlauf der Zeit negativ besetzt worden sind. "Behinderte" ist so ein Wort, heute heißt es politisch korrekt "Menschen mit besonderen Bedürfnissen". Aus den "Geistesgestörten" sind "Psychisch Kranke" geworden (wobei das Wort schon wieder auf der Kippe steht), bei Koriander fand ich einen thematisch entsprechenden Artikel über die Verwendung des Begriffes "Nigger" in den Werken Mark Twains... Ginge mit dem Begriffswandel auch eine Änderung der inneren Einstellung einher, dann wäre das alles ja schön und gut. Aber letztlich versuchen wir nur, nette Begriffe zu finden für Gruppen von Menschen, die wir eigentlich verachten und zu denen wir den Kontakt möglichst vermeiden wollen.

Auf diese Weise mutieren auch die - vielleicht in bester Absicht - neu gewählten Begrifflichkeiten schnell zu Schimpfwörtern. Wenn meine Schwester beispielsweise das Wort "Migrationshintergrund" benutzt, dann ist die Gehässigkeit deutlich spürbar. Es wäre nicht einen Deut verletzender, wenn sie "Ausländer" oder "Fremde" sagte.

Der Ausdruck "integrationsresistenter Kunde" fällt in genau dieselbe Sparte. Ähnlich wie medizinische Fachbegriffe Ärzten die Möglichkeit bieten, sich über einen Sachverhalt (wahrscheinlich auch oft wertend) zu äußern, ohne dass der anwesende Patient etwas davon versteht, hat der Begriff "IR-Kunde" für den Fallmanager den Vorteil, dass möglicherweise zumindest ein Teil seiner Klientel nicht weiß, wer oder was gemeint ist. Darüber hinaus ist aber die Abwertung bei aller Schönfärberei doch so auffällig, dass sich mir die Nackenhaare sträuben.

Die Wirtschafts-, Wohlstands- und Fortschrittsgläubigkeit in diesem Land geht so weit, dass sie das Prinzip "Jeder ist seines Glückes Schmied" auf die Spitze treibt und dem Langzeit-Arbeitslosen pauschal Widersetzlichkeit und Unverbesserlichkeit bescheinigt. Wenn es jemand beim besten Willen nicht packt, dann ist das einzig denkbare Fazit, dass er einfach nicht will. In diesem Kontext gebraucht sich das Wort "integrationsresistent" synonym für "stinkfaul". Damit fällt es in dieselbe Schublade wie der fröhlich-unbekümmert überstrapazierte "Sozialschmarotzer". Arbeit zu haben und Geld zu verdienen ist das höchste Ziel von allen, und wer das nicht lebt (egal, ob er nicht kann oder nicht will), wird schneller zur Randfigur erklärt, als er "Hartz IV" sagen kann.

Das Wort "integrationsresistenter Kunde" kann nur einer Denke entspringen, die die Struktur als solche unangetastet lässt und sich die Welt des Kapitalismus auf Teufel komm raus schönredet. Der nicht vermittelbare Mensch wird selbst als einzig mögliche Quelle seines eigenen Elends wahrgenommen. Dass auch das System unwürdig und erniedrigend sein könnte, darauf kommt man nicht. Ich persönlich würde lieber in einer Welt leben, in der ich die Arbeit erfolgreich in mein Leben integrieren kann, als dass ich mich und meine Arbeitskraft als Ware in ein Verwertungssystem integrieren lassen muss. Dass das naiv ist, ist mir bewusst, aber ich halte es für wichtig, andere Zustände als die aktuellen zumindest zu denken. Das Leben anders zu denken ist wenigstens die Grundlage für eine gesunde "Integrations-Resistenz", die sagt: "Stopp!! Lass Dich nicht schlucken, lass Dich nicht verbiegen und entwürdigen!"

Ich glaube, der Mensch hat eigentlich einen natürlichen Hang dazu, zu arbeiten, zu denken, sich zu engagieren. Wenn jemand nicht "funktioniert", dann muss der Fehler nicht zwangsläufig bei ihm liegen. Vielleicht spürt er, unbewusst und nur ganz subtil und ohne es benennen zu können, dass eine Verwertung des eigenen Ich in der Maschinerie der Gewinnmaximierung den Menschen in ihm unberücksichtigt und ungesehen lässt. Und stemmt alle Viere in den Türrahmen, um nicht in diese Tretmühle gestoßen zu werden. Da ist "Integrations-Resistenz" schon beinahe eine Auszeichnung für die menschliche Seele, die sich auch mit den schönsten Wohlstandsversprechen nicht verarschen lässt.

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Mittwoch, 5. Januar 2011
Bis zur Unkenntlichkeit - und noch viel weiter!!
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten erfolgreich und freiwillig auf den Konsum von Privatfernsehen verzichtet. Ich musste mir das nicht abringen, es war pures Desinteresse. Dann - ist schon ein bisschen her - zappte ich während des abendlichen Weihnachtspostkartenbastelns doch ins Private. Landete bei RTL2, wo ich besser nicht geblieben wäre. Es lief die Doku-Soap "Extrem schön!" (plus irgendein alberner Untertitel, in dem die Worte "neues Leben" vorkommen).

Das Konzept ist schnell erklärt: Eine Person (in der Hauptsache sind es - oh Wunder - Frauen) fühlt sich zu hässlich für diese Welt und wird daraufhin innerhalb von 8 bis 12 Wochen von RTL2 grundrenoviert. Eine Vorher-Nachher-Schau für Hartgesottene, in der fröhlich Skalpell und Brecheisen geschwungen werden.

Angeblich steht hinter dieser Sendung ein großes Team von Schönheitschirurgen, Zahn- und anderen Ärzten (was ich durchaus glaube) und einem Psychologen (an dessen menschlich-ethische Qualifikation ich nicht glaube). Die Kameras begleiten die Tränensack-Fettschürzen-Faulzahn-Gebeutelten durch die verschiedenen Stadien ihrer OPs, Korrekturen und Stylings. Am Schluss fährt sie eine Limousine in ein idyllisches Schlösschen, in dem Familie und Freunde die in Polyester-Abendkleidchen und Pumps gesteckte "Verschönerte" bei weichgezeichnetem Kerzenschein erwarten.

Zwischenzeitlich sieht man vom Objekt der Prozedur vorwiegend bandagierte Nasen, Brüste, Bäuche oder ersatzweise die meist unangetasteten Füße, denn die große, tolle Verwandlung soll ja auch den Zuschauer begeistern und überraschen.

Es war die Voyeurin in mir, die lange genug auf dem Kanal blieb, um all das mitzubekommen. Aber schieres Entsetzen ließ mich schließlich wieder wegschalten.

Und es war kein Entsetzen über das Vorher-Aussehen der Kandidatinnen. Klar gibt es Menschen, die - rein optisch gesehen - vom Schicksal benachteiligt sind. Hier mal eine Hakennase, da mal ein fliehendes Kinn, sowas kommt vor. Fettschürze und Hängebusen nach Abnehmen oder Schwangerschaft auch. Was die Damen der Schöpfung aber eigentlich so verhärmt aussehen ließ, war wohl in den meisten Fällen eher die pure (und vom Sender wohl auch bewusst ausgesuchte) Ungepflegtheit: Struppige, schlecht geschnittene, fettige Haare, sackartige, schlampige Kleidung und vor allem anderen ungeputzte, faulige bis teilweise nicht mehr vorhandene Zähne. Um daran etwas zu ändern, braucht es aber eigentlich kein Privatfernsehen.

Nein, Entsetzen erzeugte in mir der Gesamtcharakter der Sendung. Eigentlich bin ich ja realistisch genug, um über die meisten medial-gesellschaftlichen Auswüchse nicht mehr entsetzt zu sein. Die meisten gängigen Formate, die schonungslos auf die Lust des Zuschauers am Elend des anderen setzen, berühren mich nicht mehr, und ich tue das als Zeiterscheinung mit einem Schulterzucken ab. Aber bei "Extrem schön!" wurde mir klar, auf welch massive Art und Weise dort in das Leben von realen Menschen eingegriffen wird (während bei manchem Reality-Format die Realität doch dahingestellt sei, was sich am fragwürdigen schauspielerischen Talent der herangezogenen realen Personen zeigt).

Mich erschreckte das absolut hemmungslose Zerschnitzeln und Neu-Zusammenbasteln der Kandidatinnen. Maßstäbe von "hässlich" oder "schön" werden schablonenartig angelegt, und das festgetackerte Jackettkronenlächeln mit aufgerissenen Augen, bemalt mit Rouge und Lipgloss, ist jedesmal fast austauschbar das gleiche. Vom Charakter der jeweiligen Person ist nichts mehr zu erkennen.

Dass die Betreffenden wissen, worauf sie sich einlassen, wage ich zu bezweifeln. Zwar ist vor dem Umbau aus dem Off der Kommentar zu hören: "Die Ärzte und Psychologen haben ihr O.K. gegeben!". Das sagt aber wenig über die tatsächliche Kompetenz der Kandidaten aus, mit solch tiefgreifenden Veränderungen umzugehen. Es ist doch klar, dass die zu Verschönernden vorher freudestrahlend verkünden, dass sie sich natüüürlich über alles Risiko klar sind. Und sollte das alles mal nicht ausfallen wie vom Sender gewünscht, wartet in der einen Schlange die nächste Kandidatin oder halt in der anderen der nächste Psychologe, der sich gut für eine entsprechende "Beratung" bezahlen lässt.

In den Gesichtern der Familienmitglieder beim pompös-grotesken "Finale" lässt sich am deutlichsten ablesen, was wohl wahrscheinlich vor sich gehen wird, wenn die Kameras verschwunden sind und die Sendung ausgestrahlt ist. Hier spiegeln sich relativ ungefiltert Zweifel und Unbehagen, die den Betroffenen selbst wegen Vertragsklauseln und/oder mangelnder Mimik nicht anzusehen sind.

"Boah," ist das erste, das Angetraute, Geschwister oder andere nahe Verwandte und Bekannte herausbringen, "Wahnsinn!" Aber schon die Mienen der Erwachsenen lassen die Frage erahnen, die sich ihnen insgeheim stellt: "Ist das noch die Person, von der ich mich verabschiedet habe?"

Schließlich ist es aber sozusagen Kindermund, der am klarsten die Wahrheit kundtut. Lässt sich das vor der Aufhübschungs-Maßnahme noch werbewirksam verwursten, weil das Kind sagt: "Die Mama wird mir ganz doll fehlen!", ist der skeptische, befremdete, bisweilen sogar angstvolle Blick der Kinder nachher kaum noch positiv zu interpretieren. Die Kleinen, am ehrlichsten und direktesten in ihrem Ausdruck, weichen vor der fremden, überstylten, zurechtgebogenen Person zurück, die ihnen da plötzlich als Mutter vorgeführt wird. In den zwei Fällen, die die Sendung zeigte, rannte keines der Kinder spontan auf die wochenlang vermisste Mutter zu.

Damit bringen die Kinder auch auf den Punkt, was wesentlich ist: Die in einer Beziehung empfundene Authentizität, Wärme und Präsenz. Später, als Erwachsener, mag man geprägt sein von gängigen Schönheitsidealen, aber Kinder haben ihre eigene Definition von "schön" und "hässlich".

Wie die Kinder lernen, mit der zurechtgeschnippelten Variante von Mama klarzukommen, darüber berichtet "Extrem schön!" nicht. Auch nicht darüber, wie die derart Beglückten mit der gefühlsmäßigen und optischen Diskrepanz zwischen ihren alternden und nicht alternden Körperteilen klarkommen oder damit, dass sie nicht mehr dieselbe Person sehen, wenn sie in den Spiegel schauen. Keine Rede ist von Narkoserisiken, von Narbenbildung und Narbenschmerzen, keine Rede von den psychischen Folgen der Veränderung (um die sich der eigens für die Sendung rekrutierte Psychologe wohl kaum kümmern wird), keine Rede von eventuellen Problemen, die bei aller "Schönheit" auch ein Partner mit der Fremdheit der neugestalteten Frau an seiner Seite haben könnte.

Die dem Veränderungswunsch zugrundeliegenden seelischen Probleme sind schon von vornherein kein Thema - das wäre ja auch kaum medienwirksam. Und da liegt vielleicht auch der Hase im Pfeffer. Denn wie man sich einem mangelnden Selbst- und Selbstwertgefühl nähert und so damit umgehen lernt, dass man dabei vor allem seelisch gewinnt, bringt einfach keine Quote. Zu schwer verdaulich sind solche Prozesse.

Lieber verkauft man den mit vermeintlicher Hässlichkeit Geschlagenen die einfache Lösung - denen vor dem Bildschirm und den Kandidaten gleichermaßen. Es ist ja auch so verlockend. Auf diese Weise braucht sich die Person mit dem Hässlichkeitsproblem nicht den tatsächlichen Hintergründen zu widmen (vom großen Reibach der beteiligten Ärzte und des Senders mal ganz abgesehen). "Wenn ich nur erst besser aussehe, wird alles leichter, schöner, bunter, besser...!"

Das ist, als würde man über einen offenen Beinbruch schnell eine Hose ziehen, um die hässlich abstehenden Knochensplitter und das Blut nicht sehen zu müssen. Ist ja auch schöner so - aber laufen kann man mit sowas garantiert nicht, und weh tut es außerdem. Aber was, wenn es beginnt, stärker zu bluten, sich zu entzünden, noch mehr zu schmerzen?

Für Andersartigkeit ist in unseren Köpfen kein Platz mehr. Ständig müssen wir bewerten, was gut und was schlecht, was nett und was blöd, was dumm und was klug ist. Und was schön und was hässlich ist. Vor allem an uns selbst, aber auch an anderen.

Das Wörtchen "zu" findet inflationären Gebrauch:
"Meine Nase ist zu groß!"
"Mein Bauch ist zu schlaff!"
"Mein Haar ist zu stumpf!"
"Meine Brüste sind zu klein!"

Zu klein, groß, rund, eckig verglichen mit wem? Mit was? Wo die Ecken und Kanten abgeschliffen werden, um einem Ideal zu entsprechen (das sich in der nächsten Minute auch wieder ändern kann), dort fehlt jegliche Eigenart, jedes Profil, das Charakteristische des Ich.

Eigentlich paradox in einer Gesellschaft, die die Individualität des Menschen so sehr betont. Trotzdem scheint der Wunsch vieler Menschen ungebrochen groß zu sein, sich anzupassen. Auch um den Preis der Entfremdung von sich selbst und den engsten Vertrauten. Dafür wird der Körper beschnitten und verletzt, und mit ihm die Seele, denn beide sind untrennbar. Die Furcht, hervor zu stechen, ist genau so präsent wie die, übersehen zu werden. Sind wir so wenig bereit, Andersartigkeit zu akzeptieren, dass die Gleichmacherei sich mit dem Skalpell bis in die Haut fressen muss?

Ich fürchte, das Problem ist in erster Linie ein seelisch-gesellschaftliches (weil meiner Meinung nach auch das nicht zu trennen ist). Das Feedback, nicht in Ordnung zu sein, so wie man ist, setzt sich auf allen Ebenen in der Seele fest, und wer anfällig dafür ist, gibt sich schließlich der Illusion hin, alles würde besser, wäre man erst ein anderer. Die Veränderung beschränkt sich aber dann nur auf das Äußere und bleibt damit unvollkommen. Die äußerlichen Änderungen wirken sich wohl auch auf das Innere aus. So lange diese Änderungen aber nur äußeren Idealen folgen, muss sich hinterher niemand über ein Gefühl von Leere und Verlorenheit und Falsch-Sein wundern.

"Ihr neues Erscheinungsbild, ergänzt durch verschiedene Unterspritzungen, motiviert Kathrin, wieder eine feste Bindung einzugehen." - so kommentiert die RTL2-eigene Bilderseite die Veränderung einer Kandidatin. Wenn zu dieser Motivation Botox, Bügeleisen und Brustattrappe nötig waren, hängt definitiv irgendwas im Argen.

Das breiteste, glänzenste Zahnpasta-Lächeln nützt nichts, wenn im Inneren die Seele weint. Und Leute, die bei sich sind und mit sich eins, die sehen auch nach einer durchzechten, durchheulten, durchtanzten oder durchdachten Nacht irgendwie immer noch gut aus - auf die ihnen eigene Weise.

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Dienstag, 28. Dezember 2010
Glücksdruck und "negative" Gefühle
Ich schrieb schon mal über das Glück. Und irgendwie geht es mir auf den Keks, das Glück. Es scheint eine Art Diktat des Glücklichseins zu geben in der Gesellschaft. Jeder will glücklich sein, sofort und für immer. Dabei ist gar nicht mal sicher, was Glück und Glücklichsein eigentlich ist. Wir wünschen es ständig, uns und anderen. Ich habe versucht, zu definieren, in welchen Momenten ich mich glücklich fühle, und zum Teil ist mir das auch gelungen, aber andauernd diesen Zustand anzustreben wäre doch kontraproduktiv. Man zerstört sich die Möglichkeit schon in dem Moment, in dem man künstlich versucht, sie umzusetzen.

Ich finde es grässlich, dass dieses Glücksdiktat überall so spürbar ist. Wenn man es sich denn antun will, findet man dieses Bild zum Beispiel im Fernsehen. In der Werbung sind die Leute natürlich immer "glücklich". Strahlende Muttis füttern ihre Nachkommenschaft mit glücklichmachenden, familienzusammenhaltfördernden Pralinen, Eintöpfen und Kinderjoghurts ab. Fröhliche Freunde rufen ihre fröhlichen Freunde zum Happy-Wochenende-Tarif an und bringen ihnen zur hippen Wohnungs-Einweihungsparty Wertschätzungs-Süßigkeiten vorbei. Aufziehende Wölkchen, die den Happiness-Himmel trüben könnten, werden mit Wohlfühl-Raumspray weggesprüht. Die miserablen, peinlich offensichtlich auf Glücks-Urinstinkte abzielenden Soaps sind bloß eine Verlängerung des Glücksdrucks. Darin stehen miese Machenschaften und intelligent inszenierte Intrigen nur dem endgültigen Glück der Protagonisten entgegen, aber das Glück als grundsätzlich anzustrebender Zustand wird stillschweigend vorausgesetzt. In dem wenig tiefgründigen Hollywood-Film "The Pursuit of Happyness" (deutsch: "Das Streben nach Glück") aus dem Jahr 2006 spielt zwar vordergründig persönliches Elend eine Rolle, aber schließlich wird das, was die Hauptfigur und die Gesellschaft, in der sie lebt, als Glück definieren, doch erreicht: Eine Anstellung als Investment-Banker.

In einem Artikel der "Psychologie heute", die ich aus der Bibliothek lieh, fand sich etwas differenzierter ein ähnliches Bild. Es ging unter anderem darum, welche aus der Religion entlehnten Konzepte den Menschen zu mehr Wohlbefinden verhelfen könnten. Es ging um Verhaltensregeln, Verzeihen und die Korrektur unerwünschter Gefühle. Also auch hier: Glück um jeden Preis, Psychotherapeut und Pastor als Glückshelferlein. Auch das Unglück der Kinder scheint ein Affront für die Eltern zu sein. Unglücklich zu sein ist nicht in Ordnung, und wenn das Kind unglücklich ist, ist es zugleich auch noch für das Unglück der Eltern verantwortlich, das daraus erwächst.

Mir fällt auf, dass dieser Glücksdruck mit der Realität kollidiert. Ich wage die These, dass genau dieser Umstand den Menschen unglücklicher macht, als er eigentlich zu sein bräuchte, und dass die Bemühungen, dieses "Unglück" abzustellen, wiederum den Glücksdruck noch erhöhen. Man fängt sich in einem Kreislauf des Glücklich-Sein-Müssens, in dem man permanent den Mangel an Glück spürt und darüber unglücklich ist.

Das prägt unseren Umgang mit Gefühlen, die wir als dem Glück abträglich bewerten. Angst und Traurigkeit, Hass, Wut, Neid, Eifersucht, Gier, Scham - all diese Aspekte wollen wir ganz verzweifelt ausblenden, weil wir gelernt haben, dass man, wenn man solche Gefühle hat, nicht glücklich sein kann. Sie werden uns als "Todsünden" untersagt, die es zu bekämpfen gilt. Wir wollen sie uns nicht eingestehen, weil sie nicht akzeptabel sind. Erfolgreich, euphorisch, fröhlich, originell, beliebt, kontaktfreudig wollen wir sein. Nicht die Versager, die heulen, kämpfen, wettern und wüten. Kein Wunder, dass sowohl die mediale als auch die reale Welt immer seichter und oberflächlicher werden. Wir wollen nur noch die charmanten Freunde, nicht die komplizierten. Wir wollen nur noch das nette Geplauder, keine stundenlangen Diskussionen, von denen wir nicht wissen, ob sie uns "etwas bringen". Wir wollen nur noch die aufregenden Sonnenschein-Lebens-Abschnitts-Gefährten, nicht die Menschen mit Macken. Wir blenden an uns und allen anderen aus, was uns am eigenen Glück hinderlich scheint.

Und trotzdem hat diese Gefühle irgendwie jeder Mensch. Das ist das Verrückte daran. Nur weil wir sie nicht sehen wollen, heißt das nicht, dass sie nicht da sind. Im Gegenteil, je weniger wir sie annehmen, um so mehr verselbständigen sie sich. Jedes Gefühl will gesehen und gelebt werden. Verbotene Trauer ist fast noch schlimmer als verbotene Fröhlichkeit. Verbotene Wut richtet sich nach innen, verbotene Gier frisst die Substanz.

Pito kommentierte in meinem damaligen Eintrag treffend: "Selbst die weniger schönen Dinge, die nunmal zum Leben gehören, fügen sich ein und haben ihren Platz. Dieses "Glück" heißt also nicht, dass man sich in jedem einzelnen Augenblick glücklich fühlt, es schließt vielmehr die ganze Gefühlspalette ein. Es ergibt sich aus dem Ganzen, wenn alles "richtig" ist."

Für sich selbst ganz persönlich "richtig" zu sein setzt voraus, dass man sich kennt und akzeptieren kann, was man fühlt. Wie schwierig das eigentlich ist, erlebe ich tagtäglich. Es ist ein automatisierter Mechanismus, mit dem ich aufsteigende Gefühle von Traurigkeit und Wut von mir weise, sie negiere und in den Keller sperre. Immerhin ertappe ich diesen Mechanismus inzwischen dabei, wie er sich einschaltet, und habe (manchmal) den Mut, mir das Gefühl, das ich da unterdrücke, genauer anzuschauen. Wie viele Menschen versinken bewusstlos im Nicht-Fühlen und wundern sich über die Leere in ihrem Inneren? Auch diese Leere kollidiert mit unserem Bild von Glück. Wir wollen uns doch erfüllt und happy fühlen, oder nicht? Wieso nur sind wir dann so unglücklich?

Ich will nicht dauernd glücklich sein, ich will einfach nur sein. Sie hängt mir zum Hals raus, diese Glücks-Mentalität. Glücklichsein ist was für Anfänger, macht ein Achtzigstel meiner Gefühlsmöglichkeiten aus. Ich will mich nicht beschränken aufs Glücklichsein. Es ist nicht so, dass ich lieber permanent traurig wäre, aber wer sagt mir denn, welche meiner Gefühle falsch und welche richtig sind? Es sind doch nur diese Bewertungen, die uns Kopf- und Herzzerbrechen bereiten, nicht die Gefühle an sich.

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