Sturmflut
Donnerstag, 26. Januar 2012
Umkehr der Beweislast
Ich lege mich nicht gern mit Dogmatikern an. Während meines Studiums habe ich erleben dürfen, was es bedeutet, wirklich fruchtbare Gespräche zu führen, bei denen man über allerhand philosophische, gesellschaftliche und politische Fragen die Zeit vergaß, das Ende des Seminars, über die man den Mensaschluss vergaß und die man bei einem Bier in der Kneipe fortsetzte. Wir redeten uns die Köpfe heiß, wogen Argumente gegeneinander ab, erzählten Persönliches, vertraten Standpunkte. Eines war allen Menschen, mit denen ich damals zusammentraf, gemein: Sie beharrten niemals auf der absoluten Wahrheit ihrer Ideen, auf deren Unverrückbarkeit und Anwendbarkeit auf alle. Es war eine sehr wohltuende Zeit persönlichen Wachstums. Ich habe eine Allergie gegen starre Denkstrukturen. Jedes Mal, wenn mir jemand als Begründung für irgendwas sagt: "Ist so!", sträuben sich mir die Nackenhaare. Und zugegebenermaßen amüsiert es mich auch, wenn sich jemand in Zirkelschlüssen verheddert.

Dass ich mit der Religion auf Kriegsfuß stehe, ist kein Geheimnis. In diesem Zusammenhang habe ich natürlich besondere Probleme mit Dogmatikern. Dabei würde ich mich selbst durchaus als spirituell bezeichnen. Ich glaube aber nicht an Gott, und ich habe noch niemals versucht, jemanden dazu zu bewegen, sich meinem Atheismus anzuschließen. Ich bin inzwischen sehr beherrscht und stürze mich nicht mehr in ellenlange Debatten. Darüber, ob es Gott gibt oder nicht, oder ob es irgendeinen Gott gibt. Oder darüber, was das für ein Gott sein könnte. Oder ob es das Göttliche gibt. Oder ob wir alle göttlich sind. Ob sich in der Natur Gottes Wille widerspiegelt. Oder ob es das gerade nicht tut. Aber ich gebe zu, die Versuchung ist groß. Denn das Gebaren mancher Gläubiger ärgert mich sehr. Sie sind auf manchem Ohr extrem empfindlich für Kritik. Ganz besonders dann, wenn es darum geht, wer denn nun wohl in grundlegenden Fragen, die uns Menschen beschäftigen, Recht hat: Die Wissenschaft oder die Religion.

Ich bin der Auffassung, Glaube hat Privatsache zu sein. Folgerichtig bin ich auch der Ansicht, dass Religionsunterricht - gleich welcher Couleur und Glaubensrichtung - an (zumindest staatlichen) Schulen nichts zu suchen hat. Die Kirchen bieten ihrerseits eine ausreichend breite Palette an Unterweisungsmöglichkeiten in Belangen des Glaubens an. Das fängt beim Kindergottesdienst an, geht über Firmung, Kommunion, Konfirmation und die dazugehörigen Unterrichtsstunden und setzt sich auch in Bibelstunden und christlichen Krabbelgruppen fort. Reichlich Möglichkeiten also für interessierte Eltern, ihre Kinder mit dem vertraut zu machen, was sie ganz persönlich glauben. Das allein kann man schon kritisch sehen, da ein Kind sich nicht selbst dafür entscheiden kann, was es glaubt, und leider sind längst nicht alle Eltern so liberal eingestellt, dass sie ihre Kinder auf ergebnisoffene Art und Weise mit dem Thema Religion konfrontieren. Aber wie gesagt - Privatsache. Schön und gut.

Religionsunterricht halte ich allerdings (zumal, wenn er schwerpunktmäßig oder ausschließlich christlich gegeben wird) für inakzeptabel. Das einzige vernünftige Konzept, das der christlichen Religionslehre an Schulen entgegenzustellen wäre, wäre ein Unterricht, der sich mit religiösen und weltanschaulichen Strömungen weltweit und vor allem kritisch auseinandersetzte. Dabei ergäbe sich auch Raum, sich mit unterschiedlichen Konzepten und Auffassungen über das Leben, das Sein, Sterben und Tod auseinanderzusetzen, und im Grunde ist auch die Philosophie ein weites und fruchtbares Feld, das mit einfließen könnte. Anstatt dass aber der christlichen Glaubenslehre an öffentlichen Schulen vernünftige Grenzen gesetzt werden, streckt diese inzwischen auch ihre Finger in andere Bereiche aus, ebenso, wie es der Islam tut. In Biologie soll, geht es nach den Wünschen mancher Moslems, nun kein Sexualkundeunterricht mehr erteilt werden (zumindest nicht an die eigenen Töchter, die man dann aus dem Unterricht abzieht), und einige Christen tun sich sehr schwer mit der Evolutionstheorie. Meiner Ansicht nach haben aber religiöse Interessen in diesem Fach ebenso wenig zu suchen wie in der Chemie, Physik, im Sport oder der Geographie (und letzteres Beispiel ist mitnichten an den Haaren herbeigezogen, zieht man bloß mal den Geozentrismus in Betracht, der dem Weltbild der Kirche und der Gläubigen über Jahrhunderte hinweg einfach am besten in den Kram gepasst hat).

Es gibt natürlich Menschen, die dann argumentieren, die Evolutionstheorie, wie sie an Schulen gelehrt werde, sei schlicht nur eine Theorie und müsse derjenigen von einem Schöpfergott im Unterricht gleichrangig gegenüberstehen. Man kennt solche Ideen aus dem angloamerikanischen Raum. Eine wissenschaftliche Theorie hat aber nicht den Charakter einer These oder Behauptung. Sie liefert einen Erklärungsansatz, der durch schlüssige und beobachtbare Erkenntnisse gestützt wird und in der jeweiligen Fachrichtung auf breiten Konsens trifft - bis sich etwas Besseres findet. Theorien haben dabei aber auch nicht den Charakter einer unumstößlichen Wahrheit. Sie schildern lediglich, was wir bislang wissen und welche Schlüsse wir aus diesem Wissen ziehen. Die Idee von einem Schöpfergott, der als Ursache hinter allem Leben steht, ist indes nur eine Behauptung. Bestimmte Gläubige sind schnell damit bei der Hand, zu schreien: "Beweist doch die Evolutionstheorie. Beweist doch Makroevolution!", im Grunde wohl wissend, dass beides nicht bewiesen werden kann. Träte man aber nun auf einen solchen hartnäckig den Schöpfungsmythos vertretenden Gläubigen zu und forderte: "Beweise doch, dass es einen Gott gibt und dass dieser das Universum geschaffen hat!", dann kommt oft reflexartig die Gegenforderung: "Ach, beweist doch erst einmal, dass es Gott nicht gibt und dass er nicht das Universum geschaffen hat!"

Ich bin der Ansicht, dass wer sich auf einem bestimmten Feld messen will, alle Argumente auch mit gleichem Maß beurteilen muss. Während also die Evolutionstheorie sich zumindest erhebliche Mühe damit gibt, Indizien, Hinweise oder gar Beweise für ihre Annahmen zu finden und sie auch zu belegen (oder eben zu widerlegen!), tut sich die Religion schwer damit, ihre Behauptungen auch zu untermauern. Aus dieser Position heraus kann man sich aber nicht auf eine Stufe mit dem Gegner stellen. Natürlich ist es arrogant und vermessen von Vertretern naturwissenschaftlicher Ressorts, sich auf das Feld der Religion zu begeben und zu behaupten, dass ihre Erkenntnisse Relevanz hätten für das spirtuelle oder religiöse Erleben der Menschen. In der Tat hat auch noch niemand mit naturwissenschaftlich fundierten Methoden nachgewiesen, dass es Gott, das Göttliche oder Götter nicht gibt. Religion ist eine subjektive und persönliche Erfahrung und lässt sich daher nicht messen. Gerade deshalb, weil Glauben aber Glauben ist und nicht Wissen, haben religiös gefärbte Behauptungen und Weltvorstellungen eben auch nichts in den Naturwissenschaften zu suchen. Es geht letztlich nicht darum, wer die besseren Argumente für seine Weltsicht hat, weil das hieße, man vergliche Äpfel mit Birnen.

Warum muss sich die Religion eigentlich so angegriffen fühlen durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien? Es bleibt im Endeffekt ja jedem selbst überlassen, sich hinter dem Drang des Lebens nach sich selbst (wie er sich in den aktuellen Erkenntnissen spiegelt) den Willen eines höheren Schöpfers vorzustellen - seine Existenz leitet sich aber aus den Erkenntnissen, die wir bislang haben, eben nicht zwingend ab. Ich glaube, mit diesem "nicht zwingend" haben viele religiöse Menschen ein Problem. Der Beweis für einen (Schöpfer-)Gott ist eben bislang nicht erbracht (und wird es meinem bescheidenen Hosenbodengefühl nach auch nicht werden). Mancher muss sich aber ganz fürchterlich dringend an dieser Vorstellung festhalten, um die eigene seelische Befindlichkeit angesichts des Daseins, des zu suchenden Sinns und des Todes zu stabilisieren. Den wirft die augenfällige Tatsache, dass auch mit sich entwickelnden, sich verfeinernden wissenschaftlichen Methoden und fortschreitenden Erkenntnissen über die Beschaffenheit des Lebens nach wie vor die Existenz Gottes nicht beweisen lässt, möglicherweise in einen inneren Konflikt. Das bedeutet, dass diejenigen "Gläubigen" in der Tat nicht einfach glauben können und damit dann glücklich sind, sondern dass sie eben doch wissen müssen, um mit der Kälte der Welt da draußen umgehen zu können. Jetzt ist die Frage, wer den Beweis von der Existenz oder Nichtexistenz Gottes eigentlich wirklich braucht.

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Freitag, 30. Dezember 2011
Leonie
Gerade war ich mit dem Gemahl noch kurz in der Innenstadt. Ein paar Lebensmittel sollten besorgt werden und die durchlöcherten Socken ersetzt, die gestern in die Tonne gewandert waren.

Also waren wir im Klamottenladen. Der hiesige erstreckt sich über drei Etagen - unten Damen, mittig Herren, oben Kinder. Im mittleren Geschoss kramten der Gemahl und ich in der Wühlkiste mit den Sammelpacks Socken, da schrillte es durch den Laden:

"Leonie!! Leonie!!"

Ich sah indessen ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren mit der Rolltreppe in den oberen Stock fahren. Zum Gemahl sagte ich: "Na, da klingt aber jemand herzlich!" "Naja, wenn die Kleine ausgebüchst ist..." gab mein Mann zu bedenken.

Wir ließen Leonie Leonie sein und fuhren wieder ein Stockwerk tiefer, wo ich nach Strümpfen schauen wollte, da brüllte die Mama erneut vernehmlich durch den ganzen Laden: "Leonie? Leonie?!" Komm jetzt gefälligst her!" Was sich noch zirka drei-, viermal wiederholte. Dann: "Leeeeonie!! Okay, ich geh' jetzt!" Und eine halbe Minute später: "Leonie!!", ehe dann das vermisste Mädchen auftauchte. Von der Mutter zusammengestaucht und zur Rede gestellt, sagte das Kind: "Mama, ich hab' Dich gesucht!" "Ja ja. Immer hier rumrennen, ich glaub', es hakt - Du Arsch!"

"Ich glaub', Du hattest Recht mit Deinem Bauchgefühl!" meinte mein Mann, während wir betreten ob der mütterlichen Wortwahl hinter der Madame her Richtung Ausgang stapften.

"Du Ziege!" fauchte sie ihr Kind an und gab ihm einen kräftigen Schubser von hinten. Da platzte mir der Kragen. "Hallo? Wie reden Sie eigentlich mit Ihrem Kind?" Die Angesprochene wuchtete ihren massigen Körper herum und starrte mich feindselig an. "Ja klar! Wer hat denn jetzt schon wieder was zu meckern?"

Ich sagte nur: "Bei einem solchen Ton würde ich als Kind auch weglaufen!"

"Ja! Auf Wiedersehen!" motzte die Dame und ging nach draußen. Ob sie mein "Hoffentlich nicht!" noch hörte, weiß ich nicht.

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Sonntag, 25. Dezember 2011
Stille Nacht?
Das Weihnachtsfest ist an einem Tiefpunkt angekommen. Heiligabend - so lautet das Fazit aus den gestrigen Erlebnissen - kann genau so gut auch gestrichen werden.

Schon als wir gestern unseren kleinen Schwarzen bei den Schwiegereltern vorfuhren, um sie abzuholen, war die Stimmung wirklich herzig. Der Gatte hatte mir schon vorher gesagt, er sei nicht in Feierlaune, was ich von ihm allerdings kaum anders gewohnt bin. Die Kinder stellen für ihn immer wieder eine hoffnungslose Überreizung dar, und auch ich als Nicht-Aspie habe in der letzten Zeit oft die Schnauze voll. Zudem "freute" ihn besonders die Aussicht auf seinen Bruder, der an Tagen wie diesem an seiner Frau herumzumäkeln neigt, und auf seinen Vater, der an Tagen wie diesen an seiner Frau herumzumäkeln neigt. Ich dachte noch, er sehe das möglicherweise ein bisschen schwarz. Aber sobald also die Türen des Autos zuklappten, erregte sich mein Herr Schwiegervater über die Leute, die neben uns auf dem Bürgersteig in Richtung Stadtpark liefen, um die dort zum Besten gegebene Weihnachtsmusik zu genießen.

"Man muss doch jetzt auch wirklich nicht immer alles nachmachen, was die Leute toll finden," grantelte er, "alle rennen sie jetzt da hin!" Und als Schwiegermama andeutete, sie fände das aber ganz nett und überlege sich, im nächsten Jahr auch mal hinzugehen, grantelte er noch weiter. Und weiter. Und weiter. Und konnte es nicht gut sein lassen. Ich sagte nur, es würde ihn ja niemand zwingen, dort hin zu gehen. Schwiegerpapa änderte darauf leicht die Richtung: "Überhaupt das ganze Weihnachtsgedudel, schon einen Monat vorher...!" Worauf der Gatte entnervt am Radio drehte und das Gefecht auf der Rückbank mit Guns'n'Roses zum Schweigen brachte. "Ach, solche Musik hörst Du auch!" brummelte der Schwiegervater noch, dann war Ruhe. Vorerst. Bis Schwiegermama eine Bemerkung zum Fahrstil ihres Sohnes machte, der - zugegebenermaßen - etwas zügig unterwegs war. Aber der Vergleich zur Fahrweise seines Vaters ist dann doch aus der Luft gegriffen, denn selbiger fährt absolut haarsträubend und hat dabei natürlich auch immer Recht. Und nichts verletzt meinen Mann so sehr, als in manchen Sachen mit seinem Vater verglichen zu werden.

Üblicherweise neige ich dazu, meine Schwiegerfamilie zu idealisieren. Nicht ganz zu Unrecht, ist doch bei ihnen allen zusammengenommen mehr Herzlichkeit spürbar, als ich bei meiner eigenen Familie in all den Jahren erlebt habe. Aber endlos ist meine Toleranz und Geduld nun auch wieder nicht. Was so "stimmungsvoll" begonnen hatte, setzte sich nur noch chaotischer fort. Bei Schwager und Schwägerin angekommen echauffierte sich Schwiegerpapa über die Parkplatzwahl des Gatten, und während Vater und Sohn beinahe schon wieder in eine Debatte darüber einstiegen, ob der Parkplatz korrekt gewählt sei oder nicht, stieg ich aus dem Auto aus und dachte mir, zu den Schwägern zu flüchten sei eine gute Idee. Ich packte also meine Auflaufform mit dem vorbereiteten Nachtisch, die Tasche mit dem Vanilleeis und der Keksdose und ließ mich von meiner zweitältesten Nichte begrüßen, die mit ihrem bruchhalber in der Schlinge liegenden Arm schon an der offenen Haustür wartete.

Drinnen war es dann allerdings um keinen Deut ruhiger. Meine älteste Nichte begrüßte mich frenetisch und nahm mich vollkommen in Beschlag, noch bevor ich auch nur richtig im Haus war. Mich beängstigt ihre Begeisterung für mich, von der ich nicht weiß, wo sie herrührt. Zumal sie dann dazu neigt, ihre gesamten Erlebnisse seit unserer letzten Begegnung zu schildern und ihre Vorstellungen einer Top-Priorität auch nicht dadurch zu relativieren sind, dass man ihr sagt, man möchte erst einmal reinkommen und alle begrüßen dürfen. Sie hüpft wie ein Eichhörnchen auf Koks auf und ab, stellt sich in den Weg, klammert sich an meinen Arm: "Sturmfrau, Sturmfrau, Duuuu! Ich muss Dir was erzählen...!" Hinter mir schleppte indessen der Gatte die Geschenke für die Kinder ins Haus, und die Schwiegereltern schleppten die Lebensmittel und Sektvorräte und noch mehr Geschenke.

Der Tisch war, wie Schwägerin K. angekündigt hatte, schon gedeckt. Das war das erste Mal, dass ich in diesen Haushalt kam und es tatsächlich so wirkte, als sei mal an alles gedacht. Sektgläser standen bereit, und in der Küche war genug Platz, dass ich den Nachtisch abstellen konnte. Klar, es war auch schon wieder reichlich Gewirbel, aber das nahm ich noch nicht so ernst, zumal K. auch noch Geburtstag hatte. Also gratulierte ich ihr. Ein Geschenk hatte ich allerdings nicht dabei. Ich hatte mir im Vorfeld darüber reichlich den Kopf zerbrochen und dann beschlossen, sie nicht zu beschenken. Denn oft genug hatte ich bei ihr erlebt, dass sie aus reiner Gedankenlosigkeit die Geschenke für andere Leute vergaß, dass sie dann Schwiegermutter bat, ihr auszuhelfen, oder dass sie Last-Minute-Gutscheine bastelte (denen man die Verlegenheitslösung ansah), oder dass sie schlicht und ergreifend einfach gar nichts schenkte. So war es auch in diesem Jahr bei mir. Ich bin da nicht zimperlich - ich habe mich mit einigen Menschen (meiner besten Freundin I., meiner Schwester, meinem Mann) aufs Nicht-Schenken geeinigt, und keiner ist deshalb beleidigt, auch ich nicht. Aber hier hatte ich einfach auch wenig Lust darauf. Denn manchmal grenzt ihr Verhalten schon an Missachtung, und dieses Jahr hatte sich dieser Eindruck zu diversen Gelegenheiten verstärkt und mir massiven Ärger bereitet. Allzu grobe Asymmetrie tut in solchen Belangen nicht unbedingt gut.

Der Ordnung halber wurden die Kinder in Sachen Bescherung dann hingehalten, bis jeder Erwachsene zumindest einmal an seinem Sekt genippt hatte. Sie kreisten aber bereits wie die Geier um den Weihnachtsbaum, hatten erspäht, welche Päkchen für sie bestimmt waren und lauerten auf den Startschuss, um das Papier aufzureißen. Schließlich sagte irgendwer irgendwas, und der Damm brach. Ruhe kehrte erst ein, als sich die Geschenke für die Mädchen als Nintendo-Spiele entpuppten, was sie dazu bewegte, hypnotisiert wie die Kaninchen dazusitzen und quasi in den kleinen Apparaten zu verschwinden. Währenddessen freute sich Junior ausgiebig über den Anhänger für seinen neuen Trecker - davon war er so gefesselt, dass er in seiner kindlichen Unbefangenheit die Gier nach noch mehr vergaß. Ich frage mich, wann dieses Verhalten auch bei ihm an den Tag tritt. Denn seine Schwestern sind schwer konditioniert aufs Geschenke-Kriegen durch das wetteifernde Verhalten ihrer Großmütter, die immer noch etwas und noch etwas und noch etwas aus dem Hut zaubern. Insgesamt gab's in diesem Jahr drei Bescherungen - finde nur ich das nicht normal? In all den Trubel schlich sich aus dem kalten Flur durch die offene Tür immer wieder der neurotische Irish Setter der Familie herein, der mit seinem Schwanzwedeln Gefahr lief, die unterste Etage des Weihnachtsbaums abzuräumen und auch alles sonst in Unordnung zu bringen. Jedes Mal wurde dem Tier die Tür gewiesen.

Krönung war denn aber das Abendessen. Zwei Raclette-Grills standen auf dem Tisch, und man ging allgemein davon aus, dass im Grund nur noch die Zutaten auf den Tisch gestellt werden müssten, damit man mit dem Essen beginnen könnte. Während Schwager dann aber in der Küche Garnelen briet (- ihm wird nachgesagt, gut kochen zu können, was daran liegen muss, dass er hemmungslos alles mit Weißwein und Sahne abschmeckt - ), wuselten alle anderen plötzlich hektisch durch die Gegend, denn mitnichten war alles geschnitten und vorbereitet. Ich teilte mir mit der Schwiegermama ein Schneidbrett, an dem wir beide auf der Abtropfplatte des Spülbeckens zeitgleich Paprika und Salami schnitten. K. kramte aus den Tiefen ihrer Schränke lang unbenutzte Schälchen und Teller hervor, die Schwager N. dann noch rasch mit der Hand spülen musste, damit wir all den Kleinkram unterbringen konnten. Derweil stritten sich die Schwestern mit dem ihnen eigenen Temperament lautstark darüber, welche von ihnen neben mir sitzen dürfte, und Klein-S. geriet dazwischen, schlug sich seine Nase am Fußboden auf und blutete Schwiegermamas Bluse voll. "Du hast mir aber versprochen, dass ich neben Dir sitzen darf!" rief T. und hüpfte in der Küche neben mir auf und ab ("Nein, mir!!" krähte F. aus dem Hintergrund), und natürlich ließ sie es nicht gelten, dass ich zuvor klipp und klar gesagt hatte, ich müsse mir das erst überlegen und würde auch sehr gern neben meinem Mann sitzen.

Dazu kam es nicht. Wir sortierten uns einfach auf die übriggebliebenen Plätze, was bedeutete, dass zwei der drei hibbeligen Kinder zwischen zwei Erwachsenen auf der hinteren Bank eingekesselt waren und dieses Manko dadurch zu beheben wussten, dass sie einfach unter dem Tisch hindurch krabbelten. Schwiegermutter in ihrer Eigenschaft als Laufbursche setzte sich auf das Bankende und managte mal wieder all das, was in Ermangelung von Planung (Schwägerin) und aufgrund einer gewissen Pascha-Haltung (Schwager) nicht ordentlich vorbereitet war. Sie kam kaum zum essen, weil sie damit beschäftigt war, Zutaten herumzureichen, Getränke nachzufüllen oder aus der Besenkammer zu holen, Anbrennendes zu wenden, Heruntergefallenes aufzuwischen.

Ich saß am anderen Ende der Bank, den Absatz meines linken Stiefels verheddert im Telefonkabel. Meine mittlere Nichte F. saß neben mir und hatte permanent irgendeines ihrer Körperteile in meinem Essen oder auf meinem Schoß. Sie beschwerte sich darüber, dass ihr niemand half (klar, essen mit einem Arm in der Schlinge kann für eine Sechsjährige auch schon mal kompliziert werden), lud sich ihre Raclette-Pfännchen voll bis zum Rand und ließ das Überbackene dann doch auf dem Teller liegen, krabbelte unter dem Tisch durch und wieder zurück, und hängte beim Trinken mit dem Strohhalm ihre Haare in die Sauce. Junior verbrannte sich die Hand, als er auf die Grillplatte fasste, was die Schwägerin schließlich nach hektischer Kühlaktion quittierte mit "Man sieht auch gar nichts mehr, der hat sich bloß erschreckt!" Der Schwiegervater beschwerte sich bei mir: "Hm, das Rind, das ist so lecker, aber das gerade, das war zu lange auf dem Grill. Das war wie Leder. Wie Leder war das. Das war wie Leder. Das darf nicht so lang!" Ich entgegnete nur, er hätte es sich jederzeit herunternehmen können. Die älteste Nichte griff indessen aus allen Schalen die Zutaten mit den Fingern (was angesichts vorhergehender Nasenbohrarbeiten besonders appetitlich war) und tat es ansonsten ihrer Schwester gleich: Viel überbacken, wenig davon essen. Ermahnungen ihrer Mutter verhallten im luftleeren Raum, bis diese irgendwann den Tonfall verschärfte und sagte: "Nicht mit den Fingern, habe ich Dir gesagt!" Worauf das Kind mit trockener Logik die Planlosigkeit seiner Mutter enthüllte und sagte: "Ja, Löffel sind ja hier auch keine drin." Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Zumal man ihr nichts verübeln kann, was die Eltern selbst so vormachen.

Mit steigendem Sättigungsgrad neigte sich die chaotische Fütterung dem Ende zu, Zeit also für den Nachtisch. Ich heizte den Ofen vor und schob die Auflaufform hinein. Als fast alle mit dem Essen fertig waren, kündigte ich an, dass es gleich Nachtisch gebe. In der Zwischenzeit war Schwiegermutter mit dem Jüngsten und seinem neuen Trecker auf dem Fußboden gelandet, wo die beiden ins Spiel vertieft waren. Die beiden Mädchen saßen mit ihrem neuen "Malen nach Zahlen" in der Küche, wo auf der schmierigen Arbeitsplatte sämtliches Zubehör herausgekramt worden war. Schwägerin war irgendwo verschwunden, der Gemahl für kleine Jungs. Schwager N. saß mit den letzten Resten Rindfleisch und einem Glas alten Whiskeys am Kopfende des Tisches, wo ihm Schwiegervater Gesellschaft leistete. Ich begann abzuräumen, weil sich auf dem Tisch sonst nicht genügend Platz für das Dessert gefunden hätte, stieß dabei aber auf Grenzen. Denn die malenden Mädchen blockierten die Küche, die Frischhaltefolie wollte sich nicht von der Rolle trennen, der Geschirrspüler war noch nicht frei für neues Geschirr, Schwägerin K. begann also erst einmal zu spülen, und die am Tisch verbliebenen Herren der Schöpfung ließen um sich herumräumen wie kleine Ölprinzen, ohne auch nur mal ohne Aufforderung einen Teller herüberzureichen. Schließlich gesellte sich der Gatte hinzu und half, was half. Der Mülleimer quoll über, das Dessert begann auszukühlen und die Mädchen hielten mir ihre halbfertigen Bilder unter die Nase. "Oh, Du hast noch gar keine Untersetzer, oder?" stellte K. fest. Und dann auch noch, dass wir nicht genügend Teller fürs Dessert hatten.

Die Süßspeise war schließlich weitgehend vertilgt, da ging man zum Musizieren über. Schwiegermutter sang glückselig (sie hatte N.'s neuen Whiskey probiert) zum Blockgeflöte der ältesten Nichte. Irgendwann rüsteten Schwager und Schwägerin dann mit Gitarre und Akkordeon auf. Im Hintergrund kippten die Jüngeren mit viel Lawaai die Legokiste aus. Der Gatte saß mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer-Sessel, um sich vor dem Total-Overload zu schützen. Schwiegervater sprach von "in Kürze nach hause fahren", und als wir dann auf den Vorschlag eingingen, kommentierte er: "Was, jetzt schon? Ihr könnt doch noch bleiben, immerhin hat K. auch Geburtstag!" Und Schwager: "Wie? Es ist doch noch Nachmittag! Ich hab' mich auf den ganzen Abend eingestellt!" Es war acht Uhr abends, und wir hatten die gesamte Kakophonie seit bereits fünf Stunden über uns ergehen lassen. Gleichzeitig kam kein anregendes Gespräch zustande, und sämtliche Beteiligten mit Ausnahme meiner Schwägerin und meines Mannes senkten ihre verbale Ausdrucksfähigkeit durch den Konsum selbstaufgesetzter Schnäpse, schottischer Whiskeys und Bier, das zu holen man die Kinder in regelmäßigen Abständen beauftragte. Dass wir gehen wollten, festigte unser Image als lahme Spaßbremsen, das Schwiegervater meinem Mann gegenüber schon andeutungsweise ironisch-gehässig zur Sprache gebracht hatte: "Oh, was hast Du, Sohn? Musst Du auf Besuch?" - wohl wissend, dass dieser ein Zuviel an Input üblicherweise nur mit Rückzug beantworten kann und daher solche Gelegenheiten nicht wirklich schätzt. Was ihm aber immer als böse Absicht ausgelegt wird.

Heute hätten wir dann eigentlich ein Mittagessen bei den Schwiegereltern gehabt. Wir haben es auch versucht. Mir gingen die Kinder schon wieder auf den Keks, die mit ihren Fingern in der Salatplatte herumwühlten, die Schwiegermama so sorgfältig hergerichtet hatte. Derweil lag der Gemahl stumm und mit bleichem Gesicht auf dem schwiegerelterlichen Sofa. Wir fuhren dann nach hause. Er hat bereits seit heute morgen das große Kotzen, wir vermuten Noro. Auch ein Statement zum Erlebten.

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Freitag, 23. Dezember 2011
"Praktisch bildbar"
Bin ich die einzige, die den Begriff furchtbar herablassend und arrogant findet? Ich habe ihn nun schon mehrfach gelesen, und er stößt mir wirklich sauer auf.

Klar, die Euphemismus-Tretmühle ist eine Sache. Menschen, die früher noch als schwachsinnig, idiotisch oder minderbemittelt galten, wurden dann irgendwann zu Gehandicapten, dann zu Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Aus der Sonder- wurde die Förderschule. Inzwischen sind "Behindi" oder "Spast" völlig "normale" Schimpfwörter. Die Debatte um Begriffe ist also obsolet, solange sich nicht die dahinter stehende Auffassung zu unseren Mitmenschen ändert. So ist es wohl auch mit dem Ausdruck "praktisch bildbar".

Aber ich finde, "praktisch bildbar" sagt noch eine Menge mehr aus. Der Begriff bricht den Menschen in seiner Existenz (und zwar uns alle) auf eine Wertigkeit, eine Ver-Wertbarkeit herunter. Er sagt aus, wie viel oder wenig mit dem gegebenen Material anzufangen ist. Demzufolge sind wir alle wie Klumpen von Ton, die geformt werden können - in unterschiedlichen Ausprägungen. Wir sind Objekte, die bearbeitet werden. Harte oder weiche Brocken. Dem Begriff "praktisch bildbar" schwingt dann zudem ein unterschwelliges "immerhin noch" mit. Ein bisschen was kann man damit anfangen, der betreffende sitzt immerhin nicht den lieben langen Tag sabbernd in der Ecke. Das könnten wir nun wirklich nicht ertragen.

Ein bisschen ist das wie mit der inzwischen modern gewordenen Haltung gegenüber Menschen mit Trisomie 21. Allgemein gehen diese Menschen nun nicht mehr als "Mongölchen" durch, sondern man empfindet sie als liebenswerte, erstaunlich lernfähige Menschen mit Teddybärcharakter - was im Übrigen aber nicht weniger herablassend ist. Die Überbetonung des Faktums, Menschen mit dieser Beeinträchtigung seien ja sooo fröhlich, unbekümmert und lebensfroh, stellt ihr "Defizit" nur noch mehr in den Vordergrund. So, als müsse man zwangsweise ein Gegengewicht zu ihrer Behinderung erzeugen, um ihren "Wert" für die Gesellschaft anerkennen zu können.

Die Grundfrage ist immer noch: Was springt dabei heraus?

Natürlich ist es für jeden Menschen erstrebenswert, ein hohes Maß an Selbständigkeit und Autonomie zu erlangen und zu lernen, was es zu lernen gibt (und auch, was er will). Aber der Begriff der Bildbarkeit gibt dem Ganzen einen anderen Anstrich. Er ist symptomatisch für unseren Drang, nach verwertbarem Output zu kategorisieren. Wir richten das Augenmerk darauf, was jemand kann, nicht wer er ist. Das zieht eine Staffelung der Wertigkeit nach sich (die sich übrigens ebenso auf alle anderen anwenden lässt, denen wir "Normalbürger" uns überlegen fühlen - Hartz-IV-Empfänger, Obdachlose, seelisch Kranke, sogar Tiere). Wer sich nicht einreiht in den Ellenbogenkampf der engagierten Produktiven, den wir für unsere Lebensrealität halten, wer also nicht(s) kann, der ist raus.

Dabei ist die Idee der Wertigkeit eines menschlichen Lebens eine artifizielle, und wenn man sie auf die Spitze treibt, dann wird (wie bereits erlebt) zwischen "wert" und "unwert" unterschieden. Zwar tötet man heute nicht mehr mit Giftspritzen und Gas, aber Verachtung und ein arroganter Blick können ebenso vernichtend wirken und die Würde jedes Menschen zerstören. Wir müssen uns daran messen lassen, wie würdevoll der Einzelne in unserer Gesellschaft lebt, und damit ist es nicht mehr allzuweit her.

Da können noch so viele Neologismen nicht trösten. Sie sind allenfalls Kosmetik, während das Gesicht darunter immer mehr zur hässlichen Fratze mutiert.

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Dienstag, 29. November 2011
Weil das auch mal gesagt werden muss...
Die Spezies der Selbstgerechten hängt mir so zum Hals raus. Diese Leute, die sich selbst als die Tolerantesten sehen, als diejenigen, die am differenziertesten denken. Die Super-Sozialen, die Selbst-Kekse-Back-Muttis, die Hochgebildeten, die oberkompetenten, täglich Brotdosen packenden Familienmanagerinnen, die moralisch-ethisch stets Einwandfreien. Die, die glauben, keinerlei Vorurteile zu haben und das auch an die große Glocke hängen. Die, die es immer besser wissen. Die, die meilenweit über ihren Mitmenschen schweben und einem auch genau erzählen können, wieso. Die sich für ach so kritisch halten und den Rest der Welt für Dummköpfe. Die sich echauffieren über die Makel der anderen, aber vor der eigenen Türe nicht kehren wollen. Die päpstlicher sind als der Papst.

Verbitterter, gehässiger Haufen! Da bin ich intolerant.

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Mittwoch, 23. November 2011
Übers Heiraten
Gestern fiel mir mal wieder so eine alberne Hochzeits-Publikation in die Hände, voller seidener Träume, Rosen, Tauben, Ringen und zarter Spitze. Immer, wenn ich so etwas zu Gesicht bekomme, muss ich an die Hochzeiten denken, die ich erlebt habe. Das sind nicht allzuviele. Die meiner Cousine (lange her), die meiner Schwester, die von A. (auf pompös-polnische Manier), meine eigene, dann die von I. und die Trauung meiner Schwägerin. Weitere Freundinnen sind nach wie vor (verzweifelt) ledig oder in "wilder Ehe" gebunden. Freundin S. hat sich schon einen Namen gemacht als die "ewige Trauzeugin".

Ich staune immer wieder angesichts des Tam-Tams, das in Sachen Hochzeit veranstaltet wird. Meine Schwester bescheinigte mir prompt mangelnde Bindungsfähigkeit, als ich ihr offenbarte, dass der Gemahl und ich uns gegen Eheringe entschieden hätten. Das Problem war kein pekuniäres - sie hätte uns die Ringe bezahlen wollen. Auf meine Ablehnung erwiderte sie nur: "Ach, willst Du nicht, dass jeder sieht, dass Du verheiratet bist?" Damals traf mich das noch. Neulich, als wir sie besuchten, glaubte sie, die beiden schlichten, silbernen Ringe, die ich an der rechten Hand trage, seien unserer beider Eheringe. Aber das sind sie nicht. Das ist einfach nur Schmuck, befreit von jeglicher symbolischen Bedeutung.

I. ist da ähnlich nüchtern veranlagt wie ich, heiratete standesamtlich im schwarzen Blazer und bekam anschließend von der Dudelsack-Band ihres frisch angetrauten Ehemannes ein Ständchen. Mich beruhigte das irgendwie, denn meine gesamte Verwandtschaft gab mir zu verstehen, dass ich irgendwie eigenartig und ganz sicher von meinem Anzutrauenden seltsam beeinflusst sei, als ich sagte: "Nein, ich will keinen Brautstrauß, ich käme mir damit lächerlich vor!", "Nein, wir heiraten nur standesamtlich!", "Nein, ich brauche kein Brautkleid!", "Nein, wir machen nur ein kleines Buffet im Haus der Schwiegereltern...!" Tapetentisch im eigenen Haus wäre auch okay gewesen, aber selbiges befand sich noch in Renovierung. Ich kam mir bei alledem nicht einmal besonders vor, ich wollte nur einfach nicht mehr.

Wenn ich dann sehe, was für ein Buhei ums Heiraten gemacht wird, um diesen angeblich schönsten Tag im Leben, dann wird mir bisweilen richtiggehend übel. Das Ganze scheint für viele Menschen eine Veranstaltung zu sein, auf die monate-, jahre- oder gar lebenslang hingefiebert wird. Der Tag als solcher wird schon im Vorfeld ausgiebig geplant, im Zweifel auch mit sogenanntem "Weddingplanner", es wird generalgeprobt und alles, von der cremefarbenen Rose am Revers des Bräutigams bis hin zur Menüfolge, genauestens arrangiert. Wie mir das zuwider wäre, dieses durchgestylte Prinzesschen-Ambiente, das "Heiraten in stilvollem Rahmen". "Individuelle, musikalische Untermalung von CD nach Absprache möglich" - wieso denke ich da immer automatisch an Elton John, Whitney Houston und Brautmütter mit Taschentüchern?

Und dann die "besonderen" Locations. Standesamt reicht nicht mehr, für die ganz "individuelle" Trauung muss es das "Burgzimmer", der "Rittersaal", das Fahrgastschiff oder der Leuchtturm sein. Tauben werden losgelassen, Oldtimer und Stretchlimousinen gemietet, und man kommt sich dabei originell vor, denn das hat ja so kein anderer... Bei meiner Schwester war es das im klassizistischen Stil erbaute Kurhaus mit Säulengang und Innenhof.

Kleider sind ein ganz eigenes Kapitel. Ich hätte es mir beim besten Willen nicht vorstellen können, in einem überteuerten Brautkleid, das aussieht wie ein Sahnebaiser, in dem man sich kaum bewegen kann, das man nie wieder tragen wird und dessen Farbe (kombiniert womöglich noch mit Schleier) so überhaupt nicht zu mir passen mag, meinem zu Ehelichenden romantisch-verliebt in die Augen zu schauen und nicht lauthals loszuprusten. Immerhin, die in den Achtzigern so beliebten Puffärmel sind verschwunden. Statt dessen tragen jetzt Frauen, denen es aber auch so gar nicht steht, Corsagen. Der Reifrock ist immer noch beliebt (auch wenn es einige Ausnahmen gibt, die sich zu ihrer "Mittelalter"-Hochzeit von der besten Freundin ein Elben-Gewand aus Polyestersatin mit Trompetenärmeln schneidern lassen). Ich finde, die derart herausgeputzten Bräute sehen aus wie Schaufensterpuppen: Starr, hübsch arrangiert, Dekoartikel erster Güte wie die Porzellanpuppe in der Vitrine. Als Cocktailkirsche obendrauf noch die perlengespickte, mit Hilfe des Lockenstabs fabrizierte Hochsteckfrisur, die aber leider längst nicht aus jeder Braut eine zarte, verhuschte Waldnymphe macht.

Ich kann verstehen, dass mancher zukünftige Ehemann sich vor diesem Spektakel fürchtet und es sogar zum Weglaufen findet, mindestens aber genug Anlass für eine "Noch-einmal-leben-vorher"-Party sieht. Denn mit dem Leben haben solche künstlichen Inszenierungen meiner Ansicht nach überhaupt nichts zu tun. Ansprüchliche Bräute projizieren in diesen Tag - dieses vollkommen überbewertete Ereignis - die ganze Fülle ihrer Vorstellungen zu einem glücklichen Leben, zum "...and they lived happily ever after." Es erscheint mir außerdem ein Relikt aus Zeiten, in denen es für Frauen nichts Wichtigeres gab als geheiratet zu werden - passiv, wohlgemerkt. Wie sonst ist wohl auch die Mär aufgekommen, das sei der schönste Tag im Leben einer Frau? Heißt es, danach geht es nur noch abwärts?

All die hübschen Arrangements verhindern doch nicht, dass man eventuell an diesem Tag schlecht gelaunt ist. Dass es regnet. Dass sich die Gäste betrinken. Dass wieder mal ein Verwandter aus der Rolle fällt. Das servierte Reh zäh ist, weil der Koch einen schlechten Tag hatte. Dass der Saum des "Traums in Weiß" in eine Schlammpfütze gerät. Der Bräutigam einen Autounfall baut. Der Cousin dritten Grades einen Herzinfarkt erleidet und das Blumenkind sich in die Hosen macht. Dass nach der Vernichtung des teuren Champagners die Trauzeugin Geheimnisse der Braut ausplaudert. Fährnisse, die das Leben nun mal mit sich bringt, die aber an diesem Tag (und bis in alle Ewigkeit) unerwünscht sind. Auf der Hochzeit meiner Schwester verhinderte alle sorgfältige Planung und alles Wünschen doch nicht, dass mein Vater eine miserable Tischrede hielt, die sich mehr um ihn drehte als um das Brautpaar und dass er sich später in den Kurpark zurückzog, um seiner Geliebten SMS zu schreiben. Auf der Hochzeit meiner Schwägerin verhinderte all die durchdachte Glückseligkeit nicht, dass der Bräutigam zur Kirche einen whiskeygefüllten Flachmann mitnahm und sich Mut an- oder seinen Weltschmerz wegtrinken musste.

Vielleicht ist es menschlich, sich für einen Tag das Wolkenkuckucksheim basteln zu wollen, von dem man insgeheim doch weiß, dass es nicht existiert. Vielleicht ist es normal, dass sich zu bestimmten Anlässen die Erwartungen in unermesslichem Ausmaß konzentrieren, so wie man in einem neugeborenen Kind noch alle Möglichkeiten des Glücks sieht - vor allem die, die einem selbst verwehrt blieben. Vielleicht meinen Menschen, sich auf diese Weise Erinnerungen backen zu können, von denen sie ihr ganzes Leben zehren. Wünschen ist menschlich.

Ich persönlich bin immer wieder sehr froh, mir diesen übertriebenen Firlefanz nicht angetan zu haben. Mag sein, dass es die Ehe meiner Eltern war, die mich in dieser Hinsicht desillusioniert hat. Ich habe aus sehr rationalen Gründen geheiratet - nicht etwa, weil die tiefe Liebe zu meinem Mann noch eine Bestätigung gebraucht hätte. Die irgendeines Gottes ohnehin nicht, aber auch sonst hätte ich, was meine Gefühle für ihn betrifft, gut ohne Trauschein leben können. Vielleicht waren es auch die zu dem Zeitpunkt erlebten sieben Jahre Realität, die ich mit ihm bereits geteilt hatte, die mir die Notwendigkeit nahmen, meine Vorstellung vom Glück in die Zukunft projizieren und mir ein an diese Heirat geknüpftes Besseres wünschen zu müssen. Geheiratet haben wir, weil uns das Rechte aneinander sicherstellt, die wir ohne diese Festschreibung nicht hätten. So wird keiner auf dem Krankenhausflur sagen müssen "Ich bin aber die Lebensabschnittsgefährtin/der Lebensabschnittsgefährte". So wird es keinen Streit um Hinterlassenschaften geben, über Verfügungen und Regelungen. Im Übrigen bin ich auf diese (zugegebenermaßen altmodische Weise) meinen Mädchennamen losgeworden, was nun trotz meiner Ablehnung Symbolismen gegenüber für mich eine wichtige Angelegenheit ist, zumal meine Schwiegerfamilie mir ein Ausmaß an liebevoller Akzeptanz und Solidarität zu bieten hatte, von der ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ich trage diesen Namen mit Stolz und gehöre gern zu dieser Familie.

Wenn die sorgfältig gehegten Schneewittchenträume zerplatzen (und das werden sie), dann braucht man einen Boden, auf dem man stehen kann. Mir sind jeder liebevolle Blick des Gemahls zwischen Bügelwäsche und Schreibtisch, jede Albernheit morgens zwischen Aufstehen und Badezimmer und die Gewissheit, mit diesem Menschen noch sehr, sehr viel Lebenszeit verbringen zu wollen, tausendmal mehr wert als jede peinlich-romantische Heirats-Inszenierung, die mir entgangen sein mag. Was wir haben, bedarf keiner solch abstrusen "Krönung".

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Dienstag, 8. November 2011
Beweise
Ist die Tatsache, dass Erlebtes irgendwann zu Erinnertem wird und Erinnertes vergessen werden kann ein Indiz dafür, dass Erlebtes unwahr wird, sobald es vergessen wird?

Und muss daher unsere unumstößliche Gewissheit, dass wir es trotzdem erlebten und sich daran auch nichts ändert, selbst, wenn wir es vergessen, ein Beweis für die Existenz Gottes sein?

Bisschen krude, finde ich.

Mich erstaunt immer wieder, dass besonders diejenigen, die an Gott glauben, so unglaublich zäh und auf allerhand findige Arten versuchen, seine Existenz zu beweisen. Würde es nicht reichen, seine Existenz ganz persönlich für sich selbst zu wissen? Oder ist es für solche Menschen schlicht existenziell notwendig, auch alle anderen zu überzeugen, weil sonst die postulierte universelle Wahrheit dieses Gottes in Frage steht? Woher dieser Missionsdrang, der alle anderen Haltungen - vom Zweifel über Leugnung bis hin zum Nicht-Glauben - für unwürdig erklärt?

Während sich die Menschen früher noch am naiven Bild einer graubärtigen Vatergestalt auf ihrem Himmelsthron festhielten, ist Gott heute für Gläubige irgendwie alles, Hauptsache, er ist. Höhere Macht, Wahrheit, Sinn hinter allem, was lebt, göttliche Schablone für das menschliche Ebenbild. Ich finde das so anstrengend.

Aber ich muss trotzdem nicht mit meiner Überzeugung missionieren gehen, dass das, was manche Leute Gott nennen, eine menschliche Erfindung zur Überwindung der Bedrohung durch Fehlerhaftigkeit, Sinnlosigkeit, Zufall und Vergehen ist. In meinen Augen generiert erst das Wissen des Menschen um seine eigene Sterblichkeit, Endlichkeit und um die Unbegreiflichkeit der Ausmaße der ihn umgebenden Welt einen Gott. Daher finde ich das Konzept Gott zutiefst menschlich und mitnichten göttlich.

Es zieht mir nicht das Fundament unter den Füßen weg, wenn andere an einer Chimäre Halt finden wollen. Ich finde es menschlich - indes den Drang zur Mission, zu Beweis und Wahrheitsanspruch ein massives Ärgernis.

(Link gefunden bei uwesak)

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Donnerstag, 27. Oktober 2011
Blähungen
Die Sparer sollen sich am Euro-Rettungsschirm beteiligen, klärte mich gestern ein vom ZDF interviewter Finanzheini auf, dessen Namen ich vergessen habe.

Das Prinzip des sogenannten Hebels habe ich begriffen: Private Anleger tragen das Risiko mit, indem sie (bzw. ihre Banken und Fondsgesellschaften) Staatsanleihen der besagten Länder kaufen. Dazu sollen sie animiert werden, indem ihnen eine Teilkaskoversicherung angeboten wird. Sprich: Wenn Du auf die Nase fällst, dann brichst Du Dir zwar sämtliche Knochen im Leib, aber immerhin nicht das Genick!

Der Krawattenträger in dem Interview sprach lustigerweise immer von Sparern. Wenn ich mir einen Sparer vorstelle, dann habe ich jemanden vor dem inneren Auge, der jede Woche in seiner Stammkneipe zwei Euro in den Sparkasten steckt, oder ein Kind, das am Weltspartag seine Klüngelbüchse zur Sparkasse trägt, oder jemanden, der jeden Monat einen festen Betrag auf sein Sparbuch überweist. Ich bin sogar selbst Sparerin in diesem Sinne, denn ich habe auch zwei Sparbücher (und darauf insgesamt einen Betrag von zwölf Euro zusammengespart).

Aber das war nicht gemeint, als der Geldfuzzi von Sparern sprach. Eigentlich meinte er Anleger. Sparen bedeutet, Geld nicht auszugeben. Anlegen bedeutet, Geld zu verleihen in der Hoffnung, mehr wieder zurückzubekommen. Es bedeutet Gewinnbeteiligung. Ich fände diese Grundannahme fast noch witzig vor dem Hintergrund, dass es zur Zeit in Europa so aber auch gar nichts zu gewinnen gibt, weil eh schon alle bis zum Hals verschuldet sind. Aber witzig ist das alles wirklich nicht.

Wir haben zu viel Luft im Bauch, wir haben Blähungen. Ökonomische Luftblasen sind sehr schwer verdaulich. Das sollten wir doch eigentlich wissen. Mahlzeit.

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Montag, 17. Oktober 2011
Was man nicht hat...
Im Presseclub am Sonntag stritten sich vier Redakteure (gespalten in zwei Parteien) darum, ob sich die deutsche Binnenkonjunktur ausreichend steigern wird, um angesichts von Eurokrise und wirtschaftlicher Rezession trotzdem Anlass zu Optimismus zu geben. Binnenkonjunktur gilt wirtschafts- und wachstumsgläubigen Menschen ohnehin ja in starkem Maße als Allheilmittel. Beinahe ist man geneigt zu glauben, vermehrter Konsum um des Wirtschaftswachstums willen sei der einzige Grund, den die zahlreichen Experten für Lohnerhöhungen akzeptieren können. So auch Marc Beise von der Süddeutschen, der so viele Leute wie nie zuvor in Deutschland in Lohn und Brot sieht und daher auch reichlich Potential für Binnennachfrage.

Dass ihm Ulrike Herrmann von der „taz“ vehement widersprach und konstatierte, dass viele derjenigen, die einen Job hätten, insgesamt weniger arbeiteten und weniger verdienten, ergo auch weniger konsumieren könnten, kratzte Herrn Beise wenig. Der vermehrte Konsum sei Fakt, statistisch erfasst und daher ein reeller und realer, ernstzunehmender Aspekt, wenn es darum gehe, dass sich Deutschland auch aus dieser Krise herausstrampeln werde wie die Ratte aus dem Sahnetopf.

Zwei Positionen, ein Zwiespalt. Was macht man mit diesem Widerspruch? Wenn der erstarkende Konsum innerhalb Deutschlands tatsächlich nachgewiesen ist, wie verträgt sich das mit der ebenfalls nachgewiesenen Tatsache, dass immer mehr Menschen in Teilzeit, befristet, für wenig Geld arbeiten?

Wir konsumieren, das mag sogar stimmen. Aber wir konsumieren auf Pump. Was bei der ganzen Euro-Schuldenkrise vollkommen unerwähnt bleibt, das sind die privaten Schulden. Alles lässt sich heute finanzieren, der Flachbildfernseher, das Auto, die Klamotten beim Versandhaus (auch da geht Ratenzahlung), und der alltägliche Bedarf wird durch den überzogenen Dispokredit gedeckt. Die Wirtschafts- und Wohlstandsapostel argumentieren beinahe so, als wüchse das Geld auf Bäumen. Aber in diesem Land, in dem es immer noch keine gesetzlichen Mindestlöhne gibt (was ich für eine absolute Schande halte), wird trotzdem fleißig gekauft, und man freut sich drüber. Klar, es gibt ja auch keinen Grund, warum sich eine Bank nicht freuen sollte über die langfristige Fesselung der „Kunden“ durch Ver- und Überschuldung zu völlig überhöhten Zinsen. Das ist der Preis, den der Geringverdiener zu zahlen hat, um am fröhlich-bunten Konsumrausch teilnehmen zu dürfen und so dazuzugehören.

Wer diese verquaste Spirale jetzt aber für den Heilsbringer und Wohlstandsgaranten schlechthin hält, der hat definitiv nicht mehr alle Nadeln an der Tanne.

Was man nicht hat, kann man auch nicht ausgeben. Das wußte meine Oma schon. Dass das mit solcherlei Vakuum-Management schiefgehen muss, das können sich die besagten Experten jetzt schon mal im Großen mit Griechenland anschauen. Zum Üben.

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Donnerstag, 13. Oktober 2011
In einer idealen Welt...
Ach, wäre es doch schön, wenn alles einfach wäre. Wenn alle Menschen dazu in der Lage wären, zu ihren eigenen Erlebnissen, Verhaltensweisen, Gefühlen und Neurosen in Distanz zu treten. So könnte man das eigene Leben gewissermaßen unters Mikroskop legen, um endlich klar zu sehen und die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.

Dann gäbe es keine Späne mehr beim Hobeln, keine Tränen mehr beim Erfahrungen sammeln. Es gäbe keine Duckmäuser und feigen Strammsteher mehr, keine Missbraucher und Gewalttäter, keine gedankenlosen Ignoranten, keine Kriminellen. Es gäbe nur noch lauter aufrechte, wohlerzogene, rücksichtsvolle, gute und authentische Leute.

Weil dem aber nicht so ist, braucht man halt ab und an Menschen mit Übersicht, die einem die Welt erklären. Die einen zur Ordnung rufen, differenziertes Denken einfordern, Bedenken in den Raum stellen, zu sauberer Sprache mahnen, über Richtlinien, Ideale und guten Geschmack informieren.

Es ist eine Sache, seine Meinung, seinen Senf, seine zwei Cents zu etwas in die Welt zu posten oder zu posaunen, sich über etwas aufzuregen oder sich an etwas oder jemandem zu reiben. Ich finde, es ist aber etwas vollkommen anderes, sich in beinahe herablassender Manier über fast jede menschliche Regung seines Umfeldes zu echauffieren, klinisch zu analysieren, was bei anderen alles verkehrt läuft, jede Schwäche zu sezieren, bis nichts mehr bleibt. Es erhebt den Analysten meilenweit über sein Objekt und legt die eigenen Maßstäbe an alle anderen an.

Mich beschleicht der Verdacht, auch das könnte pure Kompensation sein. Was den Besserwisser - weil um keinen Deut weniger neurotisch - auf eine Stufe mit seinem Analyseobjekt stellt. Schließlich sind wir alle Menschen. Blöd nur, dass manche viel zu sehr um die Lampe kreisen, um das mitzubekommen.

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