Sturmflut
Samstag, 25. Dezember 2010
Uff...
Ja, ich weiß, Leute ohne Kinder sind selbstverständlich immer die besseren Eltern... Nur, dieses Mal war es wirklich ein hartes Stück Arbeit, Heiligabend und den ersten Feiertag hinter mich zu bringen.

Ich habe meine Nichten und Neffen wirklich gern. Die, die ich regelmäßig zu Gesicht bekomme, sind drei entzückende blonde Kinder, wie die Orgelpfeifen, die beiden Mädchen die älteren, der kleine Junge der Nachzügler. Sie sind pfiffig und intelligent, anschmiegsam und lieb und sehr, sehr lebhaft, wogegen ich nichts einzuwenden habe. Alle drei sind ohne den geringsten Zweifel Charakterköpfe und etwas ganz Besonderes.

Aber... Muss Papi den lieben Kleinen vormachen, dass man aus dem Sahnespender direkt in den Mund Sahne naschen darf? Darf sich Papi dann wundern, dass die lieben Kleinen das auch so machen und hinterher niemand mehr von der Sahne haben will? Wieso muss Oma den Lütten erlauben, die Kondensmilch direkt aus den Döschen zu schlürfen? Muss sich Mami wundern, dass sich Junior (2einhalb) auf die Klappe legt, als er auf dem Spielplatz, die Hände in einem Paar rutschiger Fausthandschuhe zur Unbeweglichkeit verdammt, versucht, am Kletternetz aufwärts zu klimmen? Und wenn dann Juniors Lippe blutet und der Zahn wackelt, ist es angebracht zu sagen "Hör auf zu heulen, sonst gibt es gleich gar nichts mehr?" Ist es irgendwie verwunderlich, dass sich die Mäuse ihre Teller randvoll packen und sie dann doch nicht leer essen, wenn ihnen bei jedem Mucks, den sie machen, gesagt wird: "Guck mal, willst Du nicht noch hiervon? Oder davon? Oder lieber das oder das?"

Der Lärmpegel der letzten zwei Tage lässt ein Rockkonzert wie eine Oase der Stille erscheinen. Die drei Geschwister (oder intensiver noch in Verpaarung mit ihren inzwischen ebenfalls drei Cousins/Cousinen) schaukeln sich kräftig aneinander auf. Streit ist vorprogrammiert, weil der andere garantiert das schönere Geschenk hat als man selbst. Sie waren nur mit Mühe davon abzuhalten, sämtliche unter dem Baum befindlichen Geschenke auf einmal aufzureißen, egal, ob sie für sie bestimmt waren oder für jemand anderen. Warten ist nicht. Beruhigen auch nicht (wobei ich mich auch nicht beruhigen könnte, wenn Papi, anstatt mich zu trösten und zu streicheln, Ablenkungsmanöver via Unfug probiert). Die schwiegerelterliche Wohnung war zeitweise erfüllt von dem wenig sonoren Dreiklang kindlichen Gebrülls, das sich nicht dadurch besänftigen ließ, dass meine Frau Schwägerin zunehmend genervt war. In solchen Momenten bin ich froh, Tante zu sein.

Ich mag meine Schwägerin sehr. Sie ist ein kreativer, fröhlicher und ehrlicher Mensch, mit dem sich wunderbar die Zeit verplaudern lässt, die aber auch genügend Tiefgang hat, um ernsthafteren Themen aufgeschlossen zu sein - ihren eigenen wie den meinen. Uns verbindet eine enge Freundschaft. Aber irgendwie hat sie manchmal keinen Plan. Ich möchte sie manchmal schütteln und sie fragen: "Warum drei Kinder? Warum noch ein Hund dazu? Warum tausend Baustellen gleichzeitig? Warum kein Terminkalender? Warum nicht mal ein deutliches "Stopp!!", wenn die Lage eskaliert?" Irgendwie brennt es bei ihr immer an allen Ecken und Enden. Heute war Waldbrand. Und Papi, im Grunde ein liebevoller solcher, wirkt der eigenen und der Überforderung der Ehegattin dadurch entgegen, dass er arbeitet wie ein Besessener, ihre Brandherde löscht und sich zur Bewältigung des Chaos im Regelfall gründlich einen hinter die Binde kippt. Nüchtern ist er eher seltener, und ich gebe zu, das ist für mich angesichts der Gesamtlage beinahe verständlich.

Für mich war's nur Weihnachten, ich kann mich aus meinem Tantendasein zurückziehen ins Leben eines typischen DINK-Pärchens, das sich um nichts zu kümmern hat als um das eigene Wohlergehen. Heute sage ich ganz frei von der völlereigeschädigten Leber weg: Zum Glück!!

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Montag, 8. November 2010
Die Ecke
Vor Längerem waren die Zeiten noch so, dass in der Schule in der Ecke stehen musste, wer störte, unangenehm auffiel oder anderweitig aus der Reihe tanzte. Dieser Stehposten war zumeist mit Verachtung oder Hohn auf Seiten der Nichteckensteher verbunden, mit tiefer Scham und Demütigung auf Seiten des Bestraften. Dieser Brauch ist innerhalb von Schulmauern überholt, auch wenn es dort inzwischen andere Sanktionen gibt.

Aber gesellschaftlich gesehen existiert immer noch so etwas wie diese Ecke, und sie wird der Gelegenheit angepasst.

Übermorgen jährt sich der Todestag von Robert Enke. Was hat das mit Ecken zu tun, kann man sich jetzt fragen. So eine Ecke existiert auch für das Phänomen Depression. Depressive werden in diese Ecke gestellt, und sie ernten Verachtung, manchmal unverhüllt, oftmals aber verpackt als Bedauern, Schockiertheit, Mitleid, Betroffenheit. Dennoch bleibt es Verachtung. Verachtung ist spürbar. Es ist die Verachtung gegenüber dem Andersartigen, dem Unbegreiflichen, die Verachtung gegenüber Menschen, deren Erleben man sich nicht erklären kann und will. Es ist dies auch die Weigerung, sich mit Menschen tatsächlich auseinanderzusetzen und die Frage "Wie geht es Dir?" wirklich ernst zu meinen und mit einer Antwort umgehen zu wollen.

Depressive und die Depression passen nicht. Schließlich ist jeder seines Glückes Schmied. Wenn man nur will, dann kann man... oder? Wir hätten es gern so, aber es stimmt nicht. Und daran erinnern Depressive. Sprüche wie "Mein Gott, der hat doch alles!" oder "Jetzt allmählich sollte er dies/das/jenes aber mal verkraftet haben!" zeugen davon, wie wenig man im Allgemeinen dazu bereit ist, sich mit den Menschen bschäftigen, die das Etikett "depressiv" tragen. Generell setzt man sich mit anderen eher ungern auseinander, wenn sie aufhören, amüsant und glänzend, stark und erfolgreich zu sein.

Dieser Zustand wird gern bekämpft, durch Wegsehen, durch schnelles Therapieren mit allerhand Psychopharmaka, damit der Zustand des Funktionierens wieder hergestellt wird. Wenn es gar nicht anders geht, wenn man keine plausible, leicht verdauliche, in zwei Sätzen zusammenfassbare Erklärung für den merkwürdigen Seelenzustand des Gegenüber finden kann, dann kommt schon auch gern mal: "Der hat einen Knacks!", "Der läuft nicht ganz rund!" oder "Die bedauernswerte Arme! Der ist nicht zu helfen!". In die Tiefe will keiner schauen. Zu bedrohlich, zu unbequem.

Ich las heute an anderer Stelle im Blogger-Universum aus der Feder von gorillaschnitzel (dem ich zustimme):

Robert Enke. Den vergesse ich nicht. Wirklich. Tragisch nennt man das heute, aber verstanden hat es keiner. Ihn nicht, alles nicht.

Und darauf ein weiterer Kommentator:

"Nun ja, ich verstehe es schon. (...) Oftmals ist das Leben anderer aus Sicht des Depressiven ebenfalls wertlos."

Gewagte Behauptung. Woher weiß der das? Ist er Psychologe? Oder selber depressiv? Oder schließt er das - wie leider so viele - aus dem Umstand, das es so etwas wie depressionsbedingte Schienensuizide überhaupt gibt? Eben nichts verstanden. Gar nichts.

Ich will ihm keine böswilligen Unterstellungen machen, wirklich nicht. Aber das ist auf gewisse Weise typisch. Außenstehende verstehen nicht die tiefe Verzweiflung, die Bodenlosigkeit dieser Krankheit, das Gefühl von Nichtswürdigkeit. Deshalb leiten sie aus den Verhaltensweisen Depressiver für sie verständlichere Erklärungen ab. Man kann noch eher damit umgehen, dass Menschen offensichtlich einfach egoistisch und rücksichtslos sind und andere Menschenleben für wertlos halten, als auch nur ansatzweise die Gefühlswelt eines Depressiven zumindest als gegeben annehmen zu können.

"Wenn er auch nur mal einen Moment darüber nachgedacht hätte, was seine Tat für Lokführer und Angehörige bedeuten würde und welches Leiden er verursacht, dann hätte er..." Das ist der Tenor, der in diesem Zusammenhang unter aller Betroffenheit und all dem blinden "Die Welt muss menschlicher werden"-Aktionismus durchschimmert.

Nur - Depressive tun oft nichts so intensiv wie das. Nachdenken über andere. Über die Erwartungen, die an sie gerichtet werden, über die Art, wie sie funktionieren sollten und darüber, wie wertlos es sie macht, dass sie genau das nicht können. Das "eigentlich sollte ich" hat einen sehr hohen Stellenwert im Leben Depressiver, und das Scheitern an diesem hohen Anspruch reißt immer und immer wieder den Boden fort. Die Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit gräbt sich so tief ein, dass alles andere nicht mehr von Bedeutung ist. Das macht so müde, dass man manchmal vor Züge treten möchte. Das ist ein Akt der Aggression sich selbst gegenüber, nicht gegenüber dem anderen. Es ist das Rückgängigmachen der eigenen Existenz, um das Gefühl des Überflüssigseins, der Nichtswürdigkeit und des Falsch-Seins nicht mehr spüren zu müssen.

Ich bin es so Leid, ich finde es so abgrundtief traurig, dass immer mehr vergessen wird, dass Menschen - egal, ob depressiv oder nicht - vor allem das Gefühl brauchen, angenommen zu sein, da sein zu dürfen, respektiert zu werden, ohne dafür leisten und sich zutiefst verbiegen zu müssen. Das läuft allerdings inzwischen den Maßstäben, nach denen wir leben, so sehr zuwider, dass es nicht weiter verwunderlich ist, dass so viele Menschen das Leben aufgeben.

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Freitag, 5. November 2010
passiv-aggressiv
An anderer Stelle habe ich ja schon mal angemerkt, dass mir das tagtägliche Radio-Gedudel im Büro gewaltig zum Hals heraus hängt. Was Kollegen am aus dem Brüllwürfel dringenden "Programm" zu schätzen scheinen, nämlich seine banalen Alltags-Begleit-Qualitäten, bringt mich hingegen auf die Palme. Ich kann den musikalischen Dünnschiss nicht ignorieren, der da von links hinten auf mich zuschwallt. Ich besitze für diese Art der akustischen Belästigung keinen Filter. Üblicherweise bin ich ein Musik-Mensch, ich höre gern und viel Musik. Aber der tägliche Dudelfunk ist eine echte Zumutung. Die Wiederholungsfrequenz der einzelnen Titel und ihre überzuckerte Banalität summieren sich zu einer abgestandenen Pampe, die man jeden Tag essen muss, weil die Ohren das einzige Organ sind, das man nicht willentlich abschließen kann. Nicht, dass mir nicht schon in den Kopf gekommen wäre, mir einen Kopfhörer oder Ohrenstöpsel zu verpassen, aber ich arbeite nun doch in einem Bereich, in dem ein Minimum an Kommunikationsbereitschaft vonnöten ist.

Es scheint schwer nachzuvollziehen zu sein, dass nicht jeder mit diesem rappeligen, nöligen Klangteppich im Hintergrund zurechtkommt. Mich hat es regelrecht zermürbt, und es gibt viele, viele Titel, die mich regelrecht aggressiv machen und meine Nerven freilegen. Als gestern Angestellte der Stadtreinigung mit Laubbläsern auf dem Gehweg vor den Fenstern unseres Büros reichlich Lärm machten (der auch ziemlich nervig war), bedauerte ich am Ende ihr Gehen, weil dann das Radio wieder hörbar wurde. Daran lässt sich ermessen, wie absolut anstrengend und gruselig ich die Beschallung durch das Radio finde.

Nun ist mir durchaus bewusst, dass ich nicht allein auf der Welt bin, dass meine Empfindungen zu diesem Sachverhalt durch und durch subjektiv gefärbt sind und dass ich ein gewisses Maß an Toleranz aufbringen sollte. Da die Radiohörer dieses spezielle Büro schon vor uns belegten und wir von außen dazugekommen sind, haben wir uns den Gepflogenheiten erst einmal angepasst. Möglicherweise war es ein Fehler, die Radio-Angelegenheit nicht gleich von Beginn an zur Sprache zu bringen, weil die betreffenden Kollegen so glauben mussten, dass alles in Ordnung sei. Ab und an baten wir um Leiserdrehen, und den Bitten wurde anstandslos nachgekommen. Nett - eigentlich.

Dennoch war es mir nicht möglich, das Gedudel wegzuignorieren. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass ich schon morgens nach dem Aufstehen Ohrwürmer hatte, die ich nicht haben wollte. Und dass ich immer genervter wurde ob dieser Tatsache, denn wer will schon innerlich Musik hören, die er eigentlich abgrundtief hasst, aber nicht loswerden kann? Wer will schon in der Freizeit permanent krampfhaft mit Musik eigenen Geschmacks gegenbeschallen, um die Implantate zu "überspielen"?

Also fasste ich mir ein Herz und sprach es an. Ich bat - unter vorheriger Klarstellung, ich sei mir bewusst, dass das Thema Radio ein heikles sei - um einen Tag in der Woche "radiofrei". Beide anwesenden Kollegen kommentierten das mit "Also, mir ist das egal!", der dritte hatte zu dem Zeitpunkt Urlaub, ist aber ein grundfriedlicher Typ. Das wäre an und für sich mein Wunschergebnis gewesen. Nach diesem kurzen Satzwechsel dachte ich: "Mensch, das war einfach!" Und sagte es auch. Es zeigte sich dann, dass es aber doch nicht so egal war. Ich fragte, welcher Tag denn recht wäre, und erhielt keine Antwort. Ich musste erst konkret einen Kollegen ansprechen, der dann sagte: "Ja, such Dir einen aus." Das tat ich.

Mittwochs blieb das Radio aus. Ein Tag der himmlischen Ruhe, der Erholung für die Ohren, ein Tag, an dem ich meinen eigenen, geliebten inneren Ohrwurm den ganzen Tag pflegen durfte, ohne dass der von belanglosem Gejaule überschrieben wurde. Ein Tag, an dem mir die Konzentration auf die Arbeit leichter fiel. Ein Tag ohne den beinahe körperlichen Schmerz der akustischen Belästigung. Ein Tag mit latenter, passiver Aggression. Die Kälte war spürbar. Ich war das Schwein, das das Radio getötet hatte.

Der Tag drauf war ein Tag mit der Erkenntnis: Ich bin belogen worden. Das Radio lief. Das für sich genommen habe ich auch nicht anders erwartet. Aber egal schien es den Herren der Schöpfung doch nicht zu sein. Sonst hätten sie es ja um meinetwillen auch ausgeschaltet lassen können. Wieso kann man nicht so offen sein und sagen: "Wir hören gern Radio und würden das auch gern jeden Tag tun, aber wir können uns auf einen leisen Tag einigen"? Oder: "Was für ein Dreck, das Radio bleibt an, Du blöde Spaßbremse. Ohne geht gar nicht!"? "Also, mir ist das egal!" bedeutet in diesem Fall: "Ich bin eigentlich gegen einen radiofreien Tag und sehe auch nicht ein, was an dem Radio so schlimm sein soll, aber ich will nicht das Arsch sein und leide deswegen lieber stumm vor mich hin, als es offen zu sagen!"

Man könnte diese meine Annahmen über das innere Geschehen des Kollegen für reine Spekulation (oder möglicherweise sogar Paranoia) halten, wäre da nicht der heutige Ausbruch. Ein anderer Kollege bat heute darum, man möge das Gerät des Anstoßes vielleicht ein wenig leiser stellen. Da platzte der Angesprochene heraus, wieso denn immer nur er angesprochen würde, wenn es um das Radio ginge. Und es sei im Übrigen nicht lauter oder leiser als am Tag zuvor. Aber ihm sei das egal. Dann solle man das Radio eben ganz aus machen. Der andere Kollege solle auch mal was dazu sagen. Der jedoch - in Dingen wie diesen eher stoischer Natur - schwieg beharrlich.

Wie ich dieses verdammt passiv-aggressives Verhalten hasse. Ich halte offene Auseinandersetzungen (die ja kein Streit sein müssen) für wünschenswert. Aber auf Fragen wie "Macht es Dir etwas aus...?" erhält man keine ehrlichen Antworten mehr. Statt zu aufrichtigen und ehrlichen Kompromissen zu kommen, wird ein Schattenkrieg geführt. Das Gegenüber zieht sich kindlich-trotzig zurück, leidet vor sich hin, lässt einen spüren, wie unfair man ist und transportiert das, indem die Kommunikation auf das Knappste reduziert, Grüße nicht mehr ausgesprochen werden. So etwas ist wirklich geradezu lächerlich pubertär. Ich möchte schreien: "Werd endlich erwachsen!" Da fühlt sich einer angegriffen, trägt es aber nicht aus. Und ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass er in der "ungefährlichen" Zone seines eigenen stillen Kämmerleins über all die Ungerechtigkeit jammert und motzt. Ich finde zum Kotzen, wenn jemand permanent den Weg des geringsten Widerstandes geht, um dann von sich behaupten zu können, doch so lieb und nett zu sein. So jemand eckt nie an, macht aber alle anderen dafür verantwortlich, dass ihn und seine Bedürfnisse keiner sieht. Diese Rückgratlosigkeit finde ich einfach nur peinlich.

Vielleicht wäre es angemessen, sich angesichts dieser Umstände einfach zum rücksichtslosen Arschloch zu entwickeln, das ausnutzt, wenn niemand widerspricht. Schließlich sind sie selbst Schuld, und ich könnte genießen, dass ich so leicht meinen Willen kriege. Ich muss ja nicht Dauerkuscheln, also sollten mir die "Sanktionen" in Form von Beleidigtsein und eingeschnapptem Schweigen egal sein. Vielleicht kann ich dem sogar etwas abgewinnen. Ich weiß nur noch nicht, ob ich mich darüber erschrecken sollte.

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Donnerstag, 28. Oktober 2010
Gier
Mag sein, dass ich in der Vergangenheit naiv war. Ich habe "We feed the World" gesehen - das ist schon etwas her - und natürlich hatte ich die Bilder von Hühnertötungs-Fabriken und Brütereien zwischenzeitlich ebenso verdrängt wie die Intro-Sequenz, in der gezeigt wird, wie LKW-Ladungen voll Brot einfach weggekippt werden - alles noch frisch, verzehr- und verkaufsfähig. Neulich gönnte ich mir ein Update des Films und stellte dann auch zufällig fest, dass die ARD gerade diese Woche eine Themenwoche "Essen ist Leben" zu sehen gibt. Also ging mir viel Nahrung durch den Kopf, und mal wieder schlich sich das Entsetzen dabei nicht durch die Hintertüre herein, sondern traf mich eher mit dem Holzhammer.

Letzten Endes lief die Dokumentation der Lebensmittel-Misere auf zweierlei Schlüsse hinaus. Erstens: Das Bild vom idyllischen Landleben hat schon längst nichts mehr mit der Realität zu tun (auch wenn in der Werbung immer noch kernige Mädels in Dirndln dekorativ sahnige Milch aus großen Kannen einschenken). Lebensmittelproduktion ist eine hochindustrialisierte Angelegenheit, und wie alle Industrien legt es auch die Lebensmittelbranche vor allem auf eines an, nämlich auf Gewinnmaximierung. Zweitens: Der Verbraucher ist ein großenteils geschmacksnervlich degenerierter Idiot (ich schließe mich mit ein), der eigentlich gar nicht mehr wissen kann, wie was schmeckt und was er mögen würde, und nur noch auf Zucker, Fett und Glutamat anspringt. So lange es ausreichend würzig oder süß ist, ist es ihm egal, was er isst. Hauptsache, es ist billig.

Ein solcher Konsument kommt der Lebensmittelindustrie entgegen, die alles rechtfertigt mit dem Satz "Die Verbraucher wollen das so!" Ganz Unrecht haben die Produzenten damit nicht, auch wenn sie sich den so gearteten Konsumenten selbst gezüchtet haben wie ein Hybridschwein. Wir sind vor allem bequem, verwöhnt und denkfaul und auf bestimmte Essensmuster konditioniert. Wir sind unseren Überfluss so gewöhnt, dass wir jammern wie die kleinen Kinder, wenn im Regal mal nur vier statt zehn Schnittkäsesorten stehen und abends beim Bäcker nur noch das einfache Graubrot übrig ist. Und weil wir jammern wie die kleinen Kinder, sehen sich die Produzenten dazu eingeladen, uns abzufüttern mit dem, was sie unterm Tisch zusammenfegen. Komisch eigentlich, dass man sich hierzulande immer wieder echauffiert über Gammelfleisch im Döner, Adipositas bei Kindern und Jugendlichen und Allergien aller Art.

Stimmt, wir werden getäuscht, aber wir werden es gern. Wir lassen uns auch täuschen. Wir fressen nicht nur fraglos, was man uns auf den Teller legt, wir wollen auch noch gute Gründe dafür haben, und die liefern uns die Lebensmittel-Hersteller gleich dazu. Wieso sonst müsste man sich krampfhaft einreden (lassen), dass Süßigkeiten als Vitaminquelle taugen, man mit Fertigsuppen abnehmen kann, dass gezuckerte Milch der Immunabwehr dient und Margarine den Cholesterinspiegel senkt?

Das alles könnte man billiger und besser haben, aber das erfordert einige Kenntnis im Bezug auf Eigenschaften und Verarbeitung von wirklichen Nahrungsmitteln und zudem Zeit. Das verlangt Auseinandersetzung mit der Materie.

Wir aber wollen alles, was wir wollen, sofort und ohne Mühe, und wir wollen die Illusion der freien Wahl. Also wollen wir im Prinzip auch, dass unsretwegen Vögeln die Schnäbel gekürzt werden. Wir wollen, dass man tonnenweise Brot wegwirft. Wir wollen, dass man Erdbeergeschmack aus Sägespänen nachbaut und wir wollen, dass man nur noch eine Sorte Schwein züchtet (dessen helle Borsten in der Wurst nicht so auffallen). Weil alles das, was auf diese Weise erzeugt wird, doch so wunderbar bunt und süß ist. Und so einfach zu haben.

Das große Problem ist, dass es den meisten gar nicht klar ist, dass diese Zusammenhänge existieren. Erst einmal ist es nur wichtig, dass die Schachtel Wurst im Supermarkt nur 70 Cent kostet, und schlecht schmeckt sie ja nicht - dafür wurde gesorgt.

Die Lebensmittel-Industrie ihrerseits hat nicht das geringste Interesse an Aufklärung. Ein denkender Konsument ist der ganzen Maschinerie nicht förderlich. Im Gegenteil. Der Käufer soll impulsiv sein, spontan, seinem Appetit nachgeben. Er soll immer noch ein bisschen mehr ins Körbchen legen. Am besten von den Dingen, die in der Herstellung nicht viel kosten, aber als schickes, nützliches, gesundes Produkt unter großem Namen verkauft werden können.

Irgendwo findet aber auch das pauschale Wort "Der Käufer will das so!" sein Ende. Ich habe zum Beispiel nichts gegen krumme Gurken. EU-normierte Salatgurken sind das Ergebnis einer Massenvermarktung, denn nur die geraden Exemplare passen in die Kiste. Nur so lässt sich effizient transportieren. Viel. Auf einmal. Stellt sich mir die Frage: Sind wir zu viele auf diesem Planeten? Lässt sich die Ernährung der Bevölkerung nur noch auf diese Weise regeln? Muss ich, weil ich Teil der Masse bin, mich mit den begradigten Gurken arrangieren?

Ich glaube nicht. Vielleicht lässt sich biologische Erzeugung und artgerechte Tierhaltung schlicht nicht auf Massen-Niveau verwirklichen. Aber so ganz hilflos bin ich doch nicht. Zutatenlisten lesen kann man lernen. Man kann sich kritisch fragen, was dieser oder jener Zusatzstoff in meiner Nahrung zu suchen hat, und sie im Zweifel stehen lassen. Man kann sich informieren, woher Obst und Gemüse stammen, man muss sich sein Essen nicht vom anderen Ende der Welt herkarren lassen (so gern ich auch Braeburn-Äpfel mag).

Was mich wieder zum Wollen zurückbringt. Niemand ist gezwungen, den Schund zu essen, der bei uns in den Regalen steht. Es ist unsere Gier und Bequemlichkeit, die dafür sorgt, dass die Maschine sich weiter dreht und am anderen Ende der Welt Menschen hungern und verhungern. Hierzulande werden Menschen dick, unruhig, krank von Nahrungsmitteln, die diesen Namen nicht einmal verdienen. Und die Gier derjenigen, die an den Hebeln dieser Maschinen sitzen, ist grenzenlos. In Ländern, in denen es Essen im Überfluss gibt, werden sie nicht müde, uns Hunger auf Abfall zu machen, damit sie verkaufen können.

Mein nächster Einkaufsgang geht auf den Wochenmarkt mit Einkaufsliste. Es ist zumindest ein Anfang, auch wenn ich glaube ich noch viel zu lernen habe.

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Donnerstag, 7. Oktober 2010
Armes Abendland
Differenziertes Denken ist offenbar des Durchschnittsdeutschen Stärke nicht. Im Gegenteil, in letzter Zeit bedarf es offenbar nur einiger kleiner Reizworte, um sofort eine heftige Polemik-Lawine loszutreten. Da geben sich Politiker und Normalbürger nicht viel. Das zur Zeit wohl beliebteste Reizwort ist "Islam". Zonk total.

Der Bundespräsident - man mag von ihm halten, was man will - hielt eine Rede zum Feiertag der "Deutschen Einheit". Die war insgesamt recht lang, und neben allerhand anderen Sätzen fielen unter anderem auch diese vier hier:

"Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland."

Daran entzündet sich jetzt der Volkszorn, und nicht nur der. Frau Merkel in ihrer Eigenschaft als Bundespräsidenten-Reden-Interpretatorin stellte gleich klar, dass das jetzt aber nicht heiße, in Deutschland gelte die Scharia. Heinz Buschkowsky, seines Zeichens Bürgermeister in Berlin-Neukölln, meinte, man dürfe "nicht wieder alles gleich schönreden". Das Objekt, das er da schöngeredet sieht, ist offenbar die von ihm direkt erlebte harte Neuköllner Realität. Und "Volkes Stimme", die Bild-Zeitung, überschreibt einen Online-Artikel mit der schmissigen Frage: "Warum hofieren Sie den Islam so, Herr Präsident?"

Dabei beschreibt Herr Wulff eigentlich seinerseits auch nur eine Realität: Der Islam gehört zu Deutschland. Ob und wie weit die Deutschen das wollen und wie sie damit umgehen ist wieder ein ganz anderes Kapitel. Hätte der Bundespräsident wissen müssen, dass dieser für sich genommen noch neutrale Satz nach hinten losgehen muss? Das wäre eine Frage, die ihm zu stellen sich lohnte und deren Beantwortung mehr über seine Qualifikation als Bundespräsident aussagte als seine Verwendung des Reizwortes "Islam" an sich.

Es gibt viele Muslime in Deutschland, das ist Fakt. Daran ändert auch permanentes Gemaule über die ach so fiesen Minarette nichts, die angeblich das Ortsbild verschandeln, oder das polemische Geschwafel über Underground-Islamisten, die angeblich im Schutz deutscher Demokratie und Verfassung massenweise zu Terroristen herangebrütet werden. Es ändert nichts an den realen Verhältnissen, wenn man sie einfach nur stumpf ablehnt. Im Gegenteil, starre Haltungen verfestigen Problematiken und die Spaltung der Gesellschaft in diametral entgegengesetzte Lager. Es ist naiv zu glauben, dass eine Lösung der tatsächlich vorhandenen Probleme ganz einfach darin liegen könnte, "endlich mal Klartext zu sprechen", wie es beispielsweise Herrn Sarrazin in letzter Zeit so übermäßig wohlwollend unterstellt wurde.

Wie die Mehrheit der Deutschen wirklich tickt, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Mich erschreckt allerdings, was sich so im Internet, dem großen Meinungspool für alle, an Aussagen allein zu diesen vier Tage alten Sätzen des Bundespräsidenten findet. Einiges davon ist an Denkbefreitheit kaum zu überbieten. Fleißig nutzten allerhand neugeborene Ur-Deutsche die Möglichkeit, Web-Artikel zum Thema zu kommentieren oder sich in Portalen auszukotzen.

Beinahe die nettesten Äußerungen sind noch:

"Mohammed Wulff ist ein charakterloser Dummschwätzer, der Deutschland und die europäischen Werte verrät, um sich bei fanatischen Moslems anzubiedern. Pfui Teufel !"

und

"Dieser Wulff im Schafspelz ist als Führer der Deutschen untragbar. Hoffentlich nimmt er bald freiwillig den Hut. Wenn er ein Quäntchen Ehre im Ranzen hat, sollter er das tun!"

Besonders spannend (und abstoßend) fand ich die Synthese von Homo- und Xenophobie:

Frage bei "Yahoo clever": "Werden wir nur noch von Kranken, Schwulen und machtgierigen Politikern regiert?"
Antwort: "muss ja so sein denn ansonsten würden die nicht öffentlich sagen das der Islam zu Deutschland gehöhrt !!"

und

"Wulff`'s rede ist genau so instinktlos wie einen Schwulen zum Aussenminister zu machen. Nichts gegen schwul sein aber es ist ein arffront für einige Länder auf dieser Erde und in einigen anderen Ländern würde er als Schwuler eingekerkert oder hingerichtet."

Mancher fühlt sich - typisch deutsch - als ewig Zu-Kurz-Gekommener und schiebt die Schuld - typisch deutsch - den bösen anderen zu:

"Alle Muslime zurückführen in die Heimat! Wir hätten schlagartig die öffentlichen Haushalte saniert! Und könnten uns um den eigenen Nachwuchs kümmern - Schulen sanieren, Bildung forcieren, die Forschung und Wissenschaft ausbauen. Mit halbwissenden Moslems, die hier alles ablehnen, ist dies ja schwer möglich."

Ich weiß, vieles von dem, was ich hier zitiere ist Senf, richtiger Senf. Das erschreckt mich gerade so. Absichtlich habe ich die orthographischen Fehler unkorrigiert gelassen. Denn vom Bildungsgrad hängt offensichtlich zumindest zum Teil auch ab, wie unsachlich und verblendet die Reaktionen inhaltlich sind. Manche der Schreiberlinge sind nicht einmal in der Lage, einen Gedanken über die Spanne eines Satzes logisch und konsequent zu Ende zu führen:

"Wir weden von Heuchler und Lügner verwaltet, denn wer erleben muss, dass z.B. das Benzin für die armen Menschen täglich teurer wird, aber gleichzeitig werden in fremden Ländern Kriege geführt und ohne auf die Umwelt Rücksicht zu nehmen, werden ganze Tankwagenzüge dort sinnlos verfeuert und der Rauch in die Luft geblasen, dass läßt keine anderen Schlüsse mehr zu - und wem das gleichgültig ist in dieser Welt, ist ein Schurke."

Man könnte sich angesichts solcher Bräsigkeit verführt sehen, sich entspannt zurückzulehnen und solche Stimmen als Äußerungen verdrehter Spinner und absolute Ausnahmen zu betrachten. Sollte man aber besser nicht tun, weil...

"Ich sehe momentan nur die eine Möglichkeit, die Republikaner zu wählen, und das mach ich auch - der Wulff hat doch auch schon eine ürkische Ministerin erzeugt-dann gleich einen türk. Bundespräsidenten"

"Alle Deutschen sollen nun mal endlich begreifen und eine neue ehrliche volkstreue Partei wählen. Liebe Westdeutschen, lerne von den Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger. Liebe Elite-Parteigenossen und liebe Politiker, trete mutig aus miserablen Parteien aus und trete in eine neue volkstreue Partei ein, sonst seid Ihr keine volkstreuen Patrioten mehr!"

Der Zorn dieser Menschen ist gefährlich, denn er ist es erst, der Extremismus nährt. Ich bin schockiert darüber, dass solche Sprüche neuerdings salonfähig werden. Dass die Angelegenheit in den Köpfen und Herzen der Menschen so aus dem Ruder läuft, liegt zweifelsfrei an den Versäumnissen der Politik in der Vergangenheit. Es hat seine Ursache durchaus aber auch am ausgeprägten Interesse der Medien an Stimmungsmache und Polarisierung. Sie treffen einen Nerv, der in der Bevölkerung aufgrund von Alltagserfahrungen, Vorurteilen und Klischees sowie eigener Geschichte und Erziehung ohnehin schon bloßliegt. Genau so hatten wir das vor rund achtzig Jahren schon mal.

Und was jetzt? Ich glaube, es nützt nicht viel, wenn Bundespräsident Wulff in seiner Rede betont:

""Deutschland, einig Vaterland", das heißt, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen. Zu allererst die Würde eines jeden Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau."

Natürlich ist die Handlungsmacht eines Bundespräsidenten faktisch begrenzt. Daher kann er nur reden und repräsentieren. Das Fleisch auf diesen Knochen muss von den Volksvertretern geliefert werden. Damit meine ich nicht, das Fähnchen ganz nach Bedarf und kurzfristig nach dem Wind zu hängen, der einem aus den Wählerreihen entgegenweht. Damit meine ich, dass es gilt, einen Konsens darüber zu erzielen, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Es ist viel von Werten die Rede, aber die lassen sich nicht durch Lehrgänge und Gesinnungstests in den Köpfen von Zuwanderern verankern - das ist allenfalls Kosmetik an der kritischen Situation. Begriffe wie der der "deutschen Leitkultur" greifen zu kurz, weil sie Integration zu einer einseitig zu erbringenden Leistung deklarieren und die Realität verkennen. Integration basiert zu einem großen Teil auf "Wollen", auf "Müssen" lässt sie sich nicht aufbauen. Aber für "Wollen" benötigt es Verstehen und Verständigung, die meiner Auffassung nach durch sarrazinistischen "Klartext" auf beiden Seiten unterbunden werden.

Manche Werte halte ich für unveräußerlich, und ich gehe mit Herrn Wulff d'accord, dass allen Menschen, die in diesem Land leben, klar sein muss, dass sie nicht biegsam sind. Bis auf eine Ausnahme: Die Glaubensfreiheit. Ich finde es bemerkenswert, dass sie in Wulffs Aufzählung der Werte vor der Gleichberechtigung von Mann und Frau rangiert, welche erschreckenderweise auf dem letzten Platz gelandet ist. Ob sich daraus eine inhaltliche Gewichtung aus Sicht des Herrn Bundespräsidenten ergibt, sei dahingestellt.

Es ist wichtig und richtig, dass jeder Mensch ein Recht auf freie Ausübung seiner Konfession hat. Aber dieses Recht muss an seine Grenzen stoßen, wo fundamentalere Rechte verletzt werden. Meiner Meinung nach gehört eine eindeutige Neugewichtung in unsere Verfassung. Es ist wichtig, Glaubensfreiheit im Grundgesetz zu verankern, aber das Recht auf Meinungsfreiheit, Würde und ganz besonders auf die Gleichberechtigung der Geschlechter muss unbedingt höher stehen.

Denn die Auffassung von Glaube ist immer Interpretationssache. Übermorgen kann mein Nachbar auf mich zutreten und sagen, dass es im Sinne seines persönlichen Glaubens ist, mir Farbbeutel an die Fenster zu werfen - regelmäßig jeden Mittwoch zum Beispiel.

Wenn er sich auf die im Grundgesetz verankerte Glaubensfreiheit beruft, ist es dann sein Recht? Natürlich nicht.

Aber die Handhabung von Glaubensdingen ist in jeglicher Hinsicht flexibel. Die Tatsache, dass sich jemand in seiner Glaubensauffassung diskriminiert oder eingeschränkt sieht, rechtfertigt zunehmend auch in unserer Gesellschaft die psychische und physische Misshandlung von Menschen - nicht nur, aber besonders von Frauen. Das darf es nicht geben.

Ich halte es für zwingend notwendig, Werte vollständig unabhängig von religiösen Grundsätzen zu formulieren. Religion beinhaltet eine Menge irrationaler Aspekte, die in einem aufgeklärten, freiheitlichen Land nicht Maßstab des Handelns sein dürfen, mag ihre spirituelle Bedeutung für den einzelnen noch so groß sein.

Religion ist interpretierbar, und das macht sie als Handlungsgrundlage eines Staates vollständig untauglich. Christlich-jüdische Prägung hin oder her, die Trennung zwischen Staat und Kirche gehört in Deutschland noch deutlicher gelebt. Dieses Land muss seine Werte für jeden, der ihn ihm lebt, verständlich und nachvollziehbar machen, und das kann nur gehen, wenn sie von der Religion entkoppelt werden. Wenn Menschenrechte in diesem Land als veräußerlich betrachtet werden, sobald sie jemandes religiöse Gefühle verletzen, macht sich der Staat unglaubwürdig.

Verständlich natürlich, dass sich insbesondere eine konservative Regierung gegen eine solche Trennung sträubt. Religion ist von jeher auch immer schon Mittel zur moralischen Machtausübung gewesen, und auf ein solches Mittel verzichtet es sich schwer. Vielleicht wird deswegen jetzt auch aus den erzkonservativen Reihen der Union am lautesten gejammert, spürt man doch, dass es Bereiche gibt, in denen nicht die eigene religiös gefärbte Machtausübung greift, sondern eine andere, die einem wesensfremd und beängstigend erscheint. Wer phobisch alles Fremde vermeidet, weil es ihn selbst in Frage stellt, kann nicht zu Kommunikation kommen.

Gern noch ein Wort zur Würde: Wenn sich jemand in religiöse oder kulturelle Abgrenzung flüchtet, wie es in den Parallelgesellschaften dieses Landes und anderer Länder der Fall ist, dann ist er oft auf der Suche nach einem Ausgleich für seine subjektiv empfundene Macht-, Hilf- und Würdelosigkeit.

Wenn also im Grundgesetz die Würde des Menschen als unantastbar beschrieben wird, täglich aber Bürger dieses Landes andere Erfahrungen im Alltag machen müssen - sei es mit Ämtern, Ärzten, bei der Arbeit, in den Lebensumständen - dann darf doch so eine Reaktion nicht verwundern. Sie ist im Gegenteil die vollkommen logische Konsequenz aus den Strukturen, in denen Menschen bei uns leben. Aller mit Krampf und Kohle herbeigeförderter wirtschaftlicher Aufschwung vermag den Menschen das Gefühl der Würde nicht zurückzugeben, und so wäre es wohl in allererster Linie die Aufgabe des Staates (aber nicht nur des Staates), sich über die Lebenswürdigkeit der Rahmenbedingungen einige reifliche Gedanken zu machen.

Wenn das Abendland untergeht, dann nicht wegen der einströmenden "islamistischen" Kräfte, wegen Überfremdung und terroristischer Tendenzen, sondern weil es hier zu kalt zum Leben ist und das einzig adäquate Mittel, dieser Kälte entgegenzutreten, für viele Menschen allein noch die heiße Wut auf andere ist.

Quellen:
www.bundespraesident.de
www.welt.de
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Mittwoch, 1. September 2010
Von allen Gedanken...
Thilo Sarrazin hat mal wieder den Mund aufgemacht, und deshalb ist er jetzt auch in aller Munde. In den Rezensionsforen werden ebenso fröhlich dieselben Keulen geschwungen wie in Funk, Fernsehen und Print: Befürworter gegen Ablehner, die "bösen Rassisten" gegen "ewigen Gutmenschen". Ich geb' zu, ich habe sein neuestes Machwerk nicht gelesen, weil es mich nicht interessiert. Die ganze Diskussion darum geht indes trotzdem irgendwie nicht an mir vorbei, und deshalb habe ich die eine oder andere Rezension und Auszüge überflogen.

Interessante oder neue Gedanken sind es nicht, die Herr Sarrazin der geneigten Öffentlichkeit zu bieten hat. Nicht einmal die bestreitbare These, die Deutschen schlitterten geradewegs auf das Aussterben zu, ist neu. Seit Jahren schon hört man derartiges Gejammer aus den unterschiedlichsten Lagern. Und ich denke mir: "Na und? Dann sollen sich die Deutschen doch abschaffen..." Selten ging mir etwas so am Allerwertesten vorbei. Wenn es dabei um das nörgelige, ewiggestrige Deutschland geht, als dessen Vertreter sich Sarrazin durch die Herausgabe seines Buches outet, dann bin ich um eine Abschaffung ganz und gar nicht traurig.

Dabei ist ja wirklich sensationell, was er uns da präsentiert! Dramatisch!! Nie vorher gehört!! Die Zusammenhänge, die uns Sarrazin in seinen Thesen nahebringt, sind wirklich revolutionär!! Deutschland werde durch Überfremdung gefährdet... Gähn! Menschen mit erwünschten Merkmalen sollten sich wieder mehr fortpflanzen... Gähn! Zur Begründung der Unterschiede zwischen uns und den anderen wird der gute alte Biologismus aus der Kiste gekramt... Gähn, gähn, gähn...!

Es ist doch bemerkenswert, dass ausgerechnet diejenigen, die am liebsten zur "guten" alten Zeit zurückkehren würden, sich auf die Unabänderlichkeit bestimmter Um- und Zustände berufen. Sei es, dass man die Frauen am liebsten wieder an Herd und Wiege haben will und sich prä-feministische Zustände zurückwünscht, sei es, dass man den im Kontext der Globalisierung wankenden Nationalstaat gern zurückhätte oder den guten alten Wirtschaftswunder-Wohlstand - immer sind es die angeblich "natürlichen" Gegebenheiten, die man wieder herstellen will. Auf die wird sich berufen, als sei die beschworene "Natürlichkeit" eine Art messbarer (und natürlich indiskutabler) Optimalzustand. Besonders betont wird bei solchen Rückwärts-Bestrebungen, dass die anderen eben einfach anders sind (egal, ob es sich dabei um Fremde, Frauen oder Dumme handelt).

Es ist wirklich einfach, ein paar Daten von woher auch immer hervorzukramen und auf dieser Grundlage dann über die bestehenden Zustände wahlweise zu jammern oder zu wettern. Man kann sich dabei auf jeden Fall einer breiten Zustimmung sicher sein (weswegen sich solches Gebaren auch Populismus nennt, schließlich ist es populär). Natürlich ist es leicht, über sogenannte Sozialschmarotzer herzuziehen, wie es Herr Sarrazin schon früher tat, weil das Bild des faulen Hartz-IV-Empfängers schon sorgfältig in den Medien genährt und gepflegt wurde (nicht zuletzt durch Deutschlands Boulevard-Blatt Nr. 1, das - nanü, Zufall? - mit Herrn Sarrazin schon vor Veröffentlichung des Buches auf Kuschelkurs war). Jetzt macht es der gute Thilo wieder genau so, nur dass jetzt das Ziel der schwarzäugige Nachbar mit den sechs sehr lebendigen Kindern ist.

Solche Hassbilder sind leicht bedient, dazu bedarf es keiner besonderen Kreativität. Man muss nur ein paar (durchaus existente) Klischees aufgreifen und sich einen Reim darauf machen, von dem man behauptet, er sei neu und nie zuvor gedacht. Wenn man dann noch hinzufügt, man spräche "unbequeme Wahrheiten" aus und sei sich darüber im Klaren gewesen, dass das nicht überall gut ankommen würde, kann man sich sicher sein, schnell eine Menge Leser auf seiner Seite zu haben. Ganz besonders diejenigen, die sich selbst als eher kritisch einstufen. Das ist kein besonderes Bravourstück.

Ich verstehe die Aufregung um dieses Buch wirklich nur zum Teil. Denn einer, der sich so vehement über die angebliche Dummheit der Bevölkerung auslässt und sich zugleich so offensichtlich an ein Publikum richtet, dass über seine ersten drei Thesen nicht hinausdenken wird, sondern schluckt, was ihm mundgerecht serviert wird, macht sich allein durch diese peinlich offensichtliche Strategie unglaubwürdig.

Einen besseren Vorschlag als die vermehrte Reproduktion der übriggebliebenen Intelligenz-Elite dieses ach so gefährdeten Landes hat er nicht zu bieten. "Die" Intelligenten - wer soll das sein, und wer bewertet das? Und dann - wer animiert, motiviert oder zwingt sie zur Reproduktion? Ich bin wirklich froh, dass Fortpflanzung inzwischen eine Frage der freien Entscheidung ist.

Ich schätze wirklich von allen Gedanken am meisten die interessanten, aber Monsieur Sarrazin hat auf diesem Feld wirklich nichts Neues zu bieten. Echte Gedankenanstöße liefert er nicht. Die Frage ist nicht, ob man für oder gegen Thilos Thesen ist. Die Frage ist eher, ob das Problem, das er schildert, tatsächlich vorhanden und relevant ist. Hat er uns noch Neuigkeiten zu diesem Themenfeld mitzuteilen, die nicht schon vor hundert Jahren gedacht wurden? Liefert er irgendwelche Aussagen, die fruchtbar und nützlich sind?

Ich denke, eher nicht. Ich werde das Buch leihen, sobald es die Bibliothek angeschafft hat (falls sie es denn anschafft), denn zur käuflichen Investition ist mir das sauer verdiente Geld auch nach den kurzen Einblicken schon zu schade. Falls ich auf wirklich interessante Gedanken stoße, werde ich darüber berichten. Aber ich bezweifle es. In der Zwischenzeit firmiert Sarrazin für mich als ein weiterer "Autor", der - irgendwo zwischen Schirrmacher und Herman eingekuschelt - ungefragt peinlichen Populismus absondert.

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Montag, 23. August 2010
It's a mad world.
Wenn doch der Mensch nur im Erfinden von hilfreichen Dingen genau so pfiffig wäre wie im Erfinden der nutzlosen, die Geld bringen. Gewinnmaximierung ist wirklich eine gewaltige Triebfeder, die allerlei Mist hervorbringt.

Während der Gatte im Baumarkt war, um eilig noch einige Schräubchen für seine Teleskopmontierung zu besorgen, lief ich in die Drogerie, um mal schnell eben... Ja, und da haperte es dann auch schon. Denn schnell mal eben eine Schachtel Slip-Einlagen (eigentlich sowas Profanes) zu kaufen, ist quasi unmöglich.

Ich stand vor der breiten Angebotspalette kleiner, selbstklebender Zellstoffstreifen und konnte einfach keine normalen finden. Es gab welche mit Aloe Vera und mit Kamille, welche zum Falten und welche in schwarz (damit der neuesten Eroberung beim Abstreifen des Schlüpfers nicht auffällt, dass man überhaupt welche benutzt, was ja wieder irgendwie peinlich wäre), es gab welche mit Duft in zig verschiedenen Varianten (damit man bloß keinen Eigengeruch absondert). Welche mit Flügelchen. Welche in extra klein, welche im praktischen Döschen, einzeln in Plastikfolie verpackte, welche mit Schutzfolie und welche ohne. Nur so ganz normale Slipeinlagen musste ich länger suchen.

Vielleicht ist es ein wenig absurd, angesichts von Konsumenten-Verwirrung vor dem Intimhygieneregal philosophische Betrachtungen anzustellen. Trotzdem musste ich mich zwangsläufig fragen: "Wer braucht den Unsinn?" Mir wurde mal wieder klar, dass nicht zwangsläufig die Nachfrage das Angebot bestimmt, wie es glühende Marktwirtschaftsanhänger immer wieder behaupten.

Ich bin nicht der Ansicht, es sollte fürderhin - lang lebe der Sozialismus! - nur noch Einheits-Artikel für diesen Zweck geben, und zwar aus Recycling-Papier. Großes Aber: Ich glaube, die (in diesem Fall) geneigte Konsumentin würde auf den Unfug niemals von alleine kommen, sich ein mit 0,00000337%iger Aloe-Vera-Lösung imprägniertes, plattgewalztes Stück Watte ins Höschen kleben zu wollen. Sie wüsste gar nicht, weshalb sie das wollen sollen würde.

Es muss erst ein findiger Marketing-Mensch kommen und bei ihr das Bedürfnis nach zarter Haut auch an den verstecktesten Körperstellen wecken und die passende Lösung präsentieren, nach deren Stichhaltigkeit angesichts des blumigen Versprechens niemand mehr fragt. Oder, was noch viel, viel wirksamer ist, der Marketing-Mensch erfindet ein Schreckgespenst...!!!

Der Gedanke ist ja nun auch wirklich absolut unerträglich für uns Durchschnittsfrauen. Man stelle sich das vor: Man schlängelt sich im fahrenden Zug durch enge Sitzreihen, und an deren Ende dräut, mit ausgestreckten Beinen und sympathischem Dreitagebart, der totale Traumtyp - optimal zum Flirten (oder sogar mehr...). Und dann, plötzlich, kriegt man die Krise, weil man feststellt, man ist nicht das zarte, süße, elegante, frische und dem gängigen Idealbild entsprechende Persönchen von einer Frau, mit dem so ein Typ flirten würde.

Im Gegenteil: Man ist schon drei Stunden mit diesem vermaledeiten Zug unterwegs und riecht dementsprechend. Also nicht nach Schweinestall oder wie drei Tage nicht geduscht, sondern einfach nur wie ein weiblicher Mensch. Was für eine Schreckensvision! Ehrlich!! Ist es nicht wirklich eine Bereicherung für die Menschheit, dass da dieser findige Marketing-Mensch unsere Angst und unseren Schrecken erkannt hat und uns die Möglichkeit gibt, im Schritt wunderbar leicht und locker nach Raumspray zu duften anstatt nach Frau? Nasoeinglück!!

Die Slipeinlage als solche steht natürlich exemplarisch für all die anderen lustigen Dinge, die zu kaufen uns immer wieder mit Nachdruck ans Herz gelegt wird. Es spielt gar keine Rolle, ob wir all die bunten Dinge wirklich brauchen oder ob sie tatsächlich einen Zweck erfüllen.

Mit dem Kaufen ist es wie mit dem Rauchen. Wir befriedigen damit ein Bedürfnis, das wir eigentlich nicht hätten, legte es nicht jemand drauf an, dass wir es haben sollen. Eine Kaufhauskette warb neulich mal auf Plakaten mit dem Slogan "Kaufen macht glücklich!". Ich dachte nicht, dass man Leuten straflos so platt ins Gesicht lügen kann, aber offenbar kann man. Nett verpackt geht es natürlich noch leichter, dann riecht es auch noch gut.

Problematisch ist die emotionale Besetzung des Ganzen. Mit Angst wie mit Begehren lässt sich der Mensch super steuern. Duftende und glänzende Dinge sorgen dafür, dass wir uns weniger farblos fühlen und die Befürchtung, langweilig und unattraktiv zu sein, für zumindest ein halbes Stündchen auf ein erträgliches Maß zusammenschrumpft. Dann brauchen wir wieder die nächste Zigarette.

Der Mensch ist in erster Linie Zielgruppe, und in dem Begriff schlägt sich schon deutlich nieder, dass die Nachfrage nicht das Angebot bestimmt, sondern es zumindest in mancherlei Hinsicht genau umgekehrt ist. Auf mich als Menschen wird gezielt. Es soll etwas an den Mann, an die Frau gebracht werden. Es geht dabei nicht um meine Bedürfnisse oder gar darum, was ich brauche.

Die Super-Mami aus der Milchcreme-Snack-Werbung braucht keine Süßigkeiten, denn diese konkrete Süßigkeit wäre allenfalls noch lecker, zumindest macht sie aber vor allem nur dick und wegen ihrer kurzkettigen Kohlehydrate ein bisschen euphorisch. Das tun all die anderen Süßigkeiten auch. Also wird vermittelt: Jemand, der ein solches Familienmanager-Allroundtalent ist und ständig nur an andere denkt, darf sich zwischendurch auch mal was gönnen - tadaaaa, da ist sie, die emotionale Botschaft. Du hast es Dir verdient!! Du hast Dir was Besonderes verdient!!! Wirklich echt. Gönn' es Dir!!

Das Bedürfnis nach etwas Besonderem, nach Anerkennung und nach Seelen-Streicheleien haben wir alle, und zwar so sehr, dass es ein leichtes ist, auf uns als Gruppe zu zielen, abzudrücken und uns Zucker und Fett als etwas Besonderes zu verkaufen. Man muss nur die richtigen Verbindungen herstellen.

Das wäre vielleicht alles soweit zumindest noch im Bereich des Erträglichen, wenn uns Bonbons als Bonbons verkauft würden, aber da war ja noch die Sache mit der Gewinnmaximierung. Also wird auch noch an der anderen Stellschraube gedreht, die neben dem Konsumenten beeinflussbar ist, nämlich am Produkt. Wieso sollte man Menschen, die ohnehin alles fressen würden, noch Käse verkaufen, wenn es auch analog geht? Wieso die guten Teile vom Schwein nehmen, wenn man auch die Reste zusammenbasteln kann, die sonst in die Tonne gekommen wären? Wieso sollte man Erdbeeren in den Joghurt tun, wenn Sägespäne billiger sind? Bunt verpackt macht es keinen Unterschied mehr.

Was mich beeindruckt ist die enorme Kreativität, die dahinter steckt. Endlose Designtests werden veranstaltet, um zu sehen, wie sehr ein Mobiltelefon als stylisches (aber leider unfunktionelles) Prestigeobjekt taugt. Immer wieder neue Zusammenstellungen von Aromen aus der Pipette werden ausprobiert, um dem Geschmack von Omas Eintopf so nah wie möglich zu kommen und ihn in ein wasserlösliches Pülverchen zu bannen. Wie findig es doch ist, überhaupt darauf zu kommen, dass sich aus Hefe ein Stoff extrahieren lässt, der uns zumindest gierig, wenn nicht süchtig macht, wenn man ihn auf frittierte Kartoffelscheiben aufträgt.

Naiv, davon zu träumen, was man mit all dieser Kreativität und den zur Gewinnmaximierung gebundenen Ressourcen alles anstellen könnte. It's a mad world. It's a sad world.

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Montag, 19. Juli 2010
Medienschnipsel: Mama ohne Telefon
Ein Neubaugebiet in Heidelberg, so erfuhr ich irgendwann in den letzten Tagen, hat keine Telefonleitungen. Damit fehlen, obwohl anderweitig bezugsfertig, den Häusern die Möglichkeiten zur günstigen Telekommunikation via Festnetz. Was den Mangel bzw. dessen Beseitigung betrifft, will's keiner gewesen sein, weder Stadt noch Telekom. So etwas kommt vor und ist natürlich ärgerlich...

Das Fernsehen interviewte die Betroffenen vor ihren auf der grünen Wiese errichteten Schuhkarton-Reihenhäusern und bekam dabei auch eine resolut wirkende junge Frau vor die Kameralinse, die entrüstet konstatierte:

"Wir haben zwei Kinder und auch noch was anderes zu tun..."

Ich begab mich ob dieser Aussage auf Sinnsuche und habe bis jetzt letzteren nicht gefunden. Was zum Henker hat der Nachwuchs der Jungfamilie mit den fehlenden Telefonanschlüssen zu tun? Das wollte sich mir doch beim besten Willen nicht erschließen.

Natürlich haben junge, zur frühzeitigen Förderung ihrer Sprösslinge motivierte Mütter allerhand zu tun, das sehe ich ein. Die lieben Kleinen zur Tennisstunde fahren zum Beispiel, und für regelmäßigen Nachschub an vitaminisiertem Fruchtgummi und Milchcreme-Snacks sorgen... Da ist man schon mal schnell voll gefordert und vielleicht nicht in der Laune, sich um die fehlende Telefonleitung zu kümmern. Genau wie viele andere Menschen mit anderen Lebensentwürfen auch, die nach dem Berufsleben lieber Feierabend hätten, oder die sich lieber ehrenamtlich engagieren würden anstatt die Telekommunikation zu sichern, oder Freunde treffen, oder Sport treiben, oder den Garten auf Vordermann bringen.

Bei der ganzen "Unsere-Kinder-bezahlen-Eure-Rente"-Polemik, die in Deutschland zur Zeit grassiert, geht mir diese Haltung auf den Geist, ehrlich. Es ist schön und gut, wenn sich Menschen für Kinder entscheiden, und wenn sie es bewusst tun - noch besser. Aber sich in jedem denkbaren Kontext der Kinder wegen als Sowiesoschon-Opfer darzustellen, das seinen Anteil zum Volkswohl längst geleistet hat und deswegen nicht weiter über Gebühr belastet werden dürfte, ist völlig übertrieben. Besonders dann, wenn inhaltliche Zusammenhänge nicht vorhanden oder doch zumindest massiv an den Haaren herbeigezogen sind.

Ich wünsche der jungen Mama, dass sie wirklich bald telefonieren kann und eine angemessene Entschädigung für die erlittene Unbill erhält. Ihren Kindern wünsche ich indessen von Herzen, dass sie nicht als Ausrede für alle Benachteiligung und alles Leiden herhalten müssen, das Mama in ihrem Leben erfahren hat und noch erfahren wird.

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Dienstag, 29. Juni 2010
Gedanken- und Gefühlsdiktatoren
Die Gedanken sind frei. Dachte ich immer. Natürlich ist keiner unbeeinflusst in dem, was er fühlt und denkt. Mitmenschen und ihre Ansichten prägen uns. Unser Umfeld hat Einfluss darauf, wie wir uns entwickeln und welche moralischen Maßstäbe wir an unser und anderer Menschen Denken, Fühlen und Leben anlegen. Der Glaube an die völlige Eigenständigkeit ist vielleicht naiv. Aber trotzdem ist es letzten Endes meine Entscheidung, was ich denke, wie ich fühle und handele - und wie ich mich entscheide, ist meine Sache.

Aber es gibt Menschen, die das anders sehen. So mancher maßt sich an, genau zu wissen, was richtig und was falsch ist, wenn es um das Denken und Fühlen anderer geht. Er achtet mit Argusaugen darauf, welche Lebensäußerungen seines Umfeldes mit seinen eigenen Vorstellungen kollidieren. Das an sich wäre noch nicht weiter tragisch, wenn er es denn unterließe, die Differenzen so beharrlich zu betonen. Der Mensch definiert sich immer ein Stück weit über die Unterscheidung zu anderen Menschen, aber derlei besondere und wiederholte Abgrenzung gipfelt manches Mal in Übertreibung.

Diese Übertreibung umfasst die ganze Palette vom rustikalen Stammtisch-Gerede bis hin zur sophisticated wirkenden Analyse der Mitmenschen. Nur scheinbar gibt es zwischen diesen beiden Polen eine Qualitätsteigerung der enthaltenen Kritik. Schließlich sind aber nur die Wortgewänder komplexer und der Ausdruck gewählter.

Niemand hat etwas gegen Meinungsäußerungen, und ein gewisses Maß an Polemik ist nur allzu menschlich. Aber diese Art der inneren Fremdenfeindlichkeit ist immer mit der Abwertung der anderen verbunden. Der Tenor ist: „Nur wer mir gleich ist, ist mir genehm. Alle anderen sind dumm bis massiv unterbelichtet, sprachlich unfähig, sitten- oder ehrlos, peinlich, mir von Natur aus untergeordnet, (hier weiteres einsetzen)!“ Dabei nimmt sich ein solcher Mensch dann auch gleich die Definitionsmacht heraus, was denn eigentlich "dumm" ist. Diese permanente Selbsterhöhung mittels Erniedrigung anderer ist etwas völlig anderes als Kritik. Sie ist grundsätzlich verschieden davon, einfach nur zu sagen „Ich mag den nicht...!“ oder „Ich sehe es so...". Der Gedankendiktator macht sich dadurch unangreifbar, dass er "Feststellungen" darüber trifft, wie die Dinge “sind“. Das befähigt ihn auch dazu, seine Sichtweise immer wieder damit zu begründen, dass „es nun einmal so sei“ - ein Argument, das auf derselben Diskussionsebene nicht zu widerlegen ist. Ganz ähnlich gilt das auch für Gefühle. Wenn einem derart veranlagten Menschen das Gefühl eines anderen nicht in den Kram passt, dann betont er, dass es ja "nur" ein Gefühl sei und deshalb nicht weiter relevant.

Das alles wäre halb so wild, wenn es in dieser Welt nur gefestigte, selbstbewusste Menschen gäbe. Wer in seinen Gefühlen und Gedanken aber nicht so frei ist, sondern sehr abhängig von den Ansichten und Beurteilungen anderer, der wird durch solche Absolutisten sehr schnell verletzt.

Man könnte beinahe meinen, so ein Gedankendiktator lege es darauf an, solche Verletzungen zu verursachen, aber ich denke nicht, dass das der Fall ist.

Ein Mensch, der permanent behauptet „Alle blöd außer mir!“ ist so infantil, dass er das Gegenüber als menschliche Person gar nicht wahrnimmt. Der andere ist ihm nur Instrument zur eigenen Festigung. Diese unerwachsene Haltung kann er aber selbst gar nicht erkennen, weil ihm Selbsterkenntnis und Selbstkritik fremd sind (es sei denn, er hätte davon einen wie auch immer gearteten Nutzen). Zu sehr zöge ein selbstkritisches Verhalten seine sichere Basis in Zweifel. An dem Aufwand, den ein Gedankendiktator betreibt, um seine Umwelt als stupide Zumutung zu schildern, lässt sich die Verzweiflung erkennen, die in seinem Innern herrschen muss.

Einem Gedankendiktator kommt es nicht darauf an, sich die Welt gleich zu machen. Damit fiele schließlich die Möglichkeit unter den Tisch, sich mit anderen zu vergleichen und immer wieder feststellen zu dürfen, wie überragend intelligent und überlegen man selbst ist.

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Montag, 14. Juni 2010
Viel Lärm um eine Tröte
Ich habe mich im Vorfeld ziemlich gegen die ganze Fußball-WM gesträubt, ich gebe es zu. Mir ging und geht das ganze mit der WM verbundene Marketing auf den Keks, die Fähnchen an den Autos, die Rückspiegel-Bikinis und Magnetschilder, das Gehupe und die Tatsache, dass die halbe Innenstadt gesperrt ist für's Public Viewing.

Im Grunde meines Herzens muss ich aber zugeben, dass es nicht der Sport ist, der mich nervt, sondern das Drumherum, und in diesem Fall besonders das deutsche. Nichts gegen Freude am Sport, aber irgendwie - so mein natürlich vollkommen subjektiver Eindruck - kann sich der Deutsche nicht freuen ohne Grillwurst, Bier, Sackgekratze und wildes Gegröhle. Fußball könnte ohne diese Störfaktoren direkt schön sein.

Wahrscheinlich mache ich mich gerade zur Vaterlandsverräterin, aber das ist mir ehrlich gesagt wurscht. Den Zorn meiner Mitstudenten sowie auch meiner Freundinnen zog ich mir schon vor Jahren zu, als ich beim gemeinsamen Fußballschauen in unserer damaligen Lieblingskneipe zum Spiel Niederlande : Deutschland im orangen T-Shirt auftauchte. Ich konnte nicht anders... Weitere Ausführungen spare ich mir.

Die aktuelle WM bereichert nun ein besonderes Element: Die Vuvuzela.

Ehrlich, ich finde die Teile witzig. Während sämtliche Fernsehkommentatoren ebenso wie auf der Straße zum Zwecke der parteilichen Aussage interviewte Public Viewer kollektiv über die Plastiktröte herfallen, finde ich sie irgendwie charmant und launig.

Aber die Vuvuzela passt nicht in des Deutschen Fußball-Freu-Bild. Sauertöpfisch wird darüber hergezogen, vonwegen Lärmbelastung und so, während man sich bei früheren Meisterschaften über den Lärm, vor allem den eigenen, überhaupt nicht aufregte. Und der sowieso kultiviert-schlechtgelaunte Günter Netzer gab in der ARD heute nach dem Spiel der Niederlande gegen Dänemark zum Besten, er finde die Vuvuzela einfach "falsch", denn man könne ja die Begeisterungs-Stürme der eigentlichen Fans gar nicht mehr hören. Vielleicht ist mir das Ding gerade deswegen so sympathisch.

Demnächst am Stammtisch in der Kleingartenkolonie zwischen den Gartenzwergen:
Also, wenn hier getrötet wird bei der WM, dann doch bitte so, wie es dem deutschen Durchschnitts-Fußballfan gefällt, mit Gaskartuschen-Hupe und garniert mit dem üblichen, volltrunkenen "Olé, Oléoléoleee..." Afrikanische Eigenheiten in einer afrikanischen Weltmeisterschaft - das geht ja mal gar nicht. Das gehört reglementiert, ja, am Besten verboten. Jawoll.

Ich persönlich hoffe, dass niemandem einfällt, die Vuvuzelas im Laufe der WM möglicherweise doch noch zu verbieten. Ich freue mich gern afrikanisch, wenn die Niederlande gewinnen. Oder auch gern Ghana. Oder England. Oder...

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