Sturmflut
Freitag, 21. November 2014
Gedanken über ein Hemd
In der vergangenen Woche trug der ESA-Wissenschaftler Matt Taylor vor der Kamera ein Hemd, das ihm einigen Ärger einbrachte. Auf das Kleidungsstück des Anstoßes, ein buntes Bowlinghemd, waren einige spärlich in Lederoutfits gekleidete, comichafte Blondinen gedruckt. Mir war das Hemd aufgefallen, als ich die Interviews rund um die Rosetta-Mission und die Landung Philaes auf dem Kometen Churyumov-Gerasimenko ansah. Einsortiert hatte ich es aber lediglich unter der Kategorie "Im Dunkeln in den Kleiderschrank gegriffen". Matt Taylor bestach nämlich schon vorher durch farbenfrohe, nicht unbedingt als klassisch zu bezeichnende Hemden, durch seinen plüschigen Vollbart und seine Tattoos. Das fragliche Blondinen-Hemd passte in sein Image, das mir als solches nicht negativ auffiel. Bisschen bunt und quietschig, ja. Vielleicht auch als Berufsoutfit vor der Kamera selbst für Exzentriker nicht unbedingt geeignet. Insofern auch: Autsch!

Das Hemd geriet mir bald wieder in Vergessenheit. Dann gab es einen Google-Hangout. Matt Taylor saß im dunkelblauen Kapuzenpulli in der Reihe seiner Kollegen, und als ihm jemand das Mikrofon reichte, sagte er mit belegter, sehr emotionaler Stimme: "The shirt I wore this week... I made a big mistake and I offended many people, and I'm very sorry about this."

Offenbar gab es dann einen Shitstorm im Netz. Das Hemd stehe exemplarisch für die gesamte Situation der Frauen in der Wissenschaft, für die Misogynie im Wissenschaftsbetrieb. Eine Journalistin bezeichnete Taylor bei Twitter als "asshole", das ihr die coole Landung Philaes auf dem Kometen verdorben habe. In ihrer Timeline regnete es Attribute wie "sexist" und "gross". Der "Guardian" schrieb über das Hemdmotiv: "Many people found that sexist, reflecting a culture still present in all too many parts of science and engineering, where women are made to feel uncomfortable."

Inwieweit das Hemd ein Gradmesser für das Ausmaß des Sexismus im Wissenschaftsbetrieb allgemein und für die Unternehmensatmosphäre bei der ESA im Besonderen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Weder hatte ich jemals das Vergnügen, mich auf eine Stelle in der Wissenschaft zu bewerben oder in einer Forschungseinrichtung zu arbeiten, noch kenne ich Menschen, die mir aus erster Hand über schlechte Erfahrungen in dieser Hinsicht berichten. Damit möchte ich nicht kategorisch ausschließen, dass auch in der Wissenschaft Sexismus ein Problem ist. Sexismus ist generell ein Problem. Ich behaupte aber mal freiweg, dass Hemden wie das von Matt Taylor (oder der Kalender mit nackten Frauen an der Wand oder sexistische Kantinensprüche) nicht der Grund dafür sind, warum so wenige Frauen in der Wissenschaft tätig sind. Die Gründe dafür sehe ich ganz woanders, aber das ist nicht Gegenstand dieses Blogeintrags. (Vielleicht, nein, bestimmt ein andermal mehr dazu.)

Man kann mir gern unterstellen, ich sei eben nicht sensibilisiert genug für Sexismus. Jeder, der mich wirklich näher kennt, weiß aber, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Es gibt viele Dinge, die mich wütend machen und auch verletzen, und vieles davon hat mit Geschlechterstereotypen und Sexismus zu tun.

Ich möchte mich gar nicht auf die Mission machen, das Hemd des Herrn Taylor zu verteidigen (oder gar ihn selbst – dafür weiß ich viel zu wenig über ihn als Person). Etwas anderes beschäftigt mich an diesem Vorkommnis.

Es ist die Empfindlichkeit, mit der auf vielerlei Äußerungen – besonders im Netz – reagiert wird. Es ist mir bewusst, dass der Vorwurf der Überempfindlichkeit oder gar Hysterie in solchen Debatten gern gegen Frauen gerichtet wird. Mit diesem Vorwurf wird systematisch die Wahrnehmung der Betroffenen in Zweifel gezogen, und Geschehnisse und Empfindungen werden bagatellisiert. Um Missverständnissen also vorzubeugen: Ich kann nachvollziehen, warum man das Hemd Matt Taylors auch als sexistisch auffassen kann. Ich kann außerdem auch nachvollziehen, dass man die darauf dargestellten Frauen als objektiviert wahrnimmt. (Dass ich es nachvollziehen kann, bedeutet aber nicht, dass ich diese Auffassung auch teile.)

Trotzdem: Woher die Empfindlichkeit? Mir scheint, dass manche Feministinnen auf das Fallen bestimmter Schlagwörter oder Verhaltensweisen regelrecht warten, um dann reflexhaft darauf mit Sexismusvorwürfen zu reagieren. Herr Taylor trug ein lautes Hemd, das zugegebenermaßen regelrecht dazu einlud, diesen Vorwurf zu erheben. Schön, damit ist natürlich bewiesen, dass er und mit ihm alle Männer in der Wissenschaft widerliche Sexisten sind. Oder nicht?

Zurück zur Aussage des Guardian-Zitates "...where women are made to feel uncomfortable." Unbehagen kann man in der Tat verspüren. Was mich an dieser Perspektive stört ist die reine Passivität. Machen, dass sich jemand unbehaglich fühlt – das bezieht mit ein, dass auch jemand da ist, der sich dieses Unbehagen aufdrängen lässt. Es bedeutet, dass wir die Verantwortung für unser eigenes Behagen in die Hände anderer legen.

Wir stoßen uns daran, wie ein Teil der Männer (und meist sind das hier die besonders lauten) Frauen sieht. Auch ich stoße mich bisweilen daran. Aber mir wird klar, dass der Fokus bei alldem auf dem Gesehenwerden durch die Augen der Männer liegt. Können wir uns nicht selber sehen? Wir möchten anständig behandelt werden. Aber behandelt werden ist immer passiv. Behandelt werden Krankheiten oder Kitschporzellan in Vitrinen.

Angenommen, die Frauen auf Matt Taylors Hemd seien tatsächlich so etwas wie seine Wunschvorstellung der optimalen Frau (was ich heftig bezweifle). Lässt sich daraus ableiten, dass an mich als Betrachterin des Hemdes die Aufforderung ergeht, so zu sein? Wohl kaum. Mit welchem Recht auch?

Brisant wird die Lage erst, wenn Frauen die über sie kursierenden sexistischen Stereotype zur Handlungs- und Seinsaufforderung für sich selbst umdeuten. Das bedeutet, dass jemand anderes Macht darüber erlangt, wer wir sind und was wir machen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die an der Rosetta-Mission beteiligten Frauen mit der Erwartung eines einzelnen Mannes gerungen hätten, sie sollten sich die Haare blondieren und in knappen Latexkostümchen herumspringen. Auf mich wirkten sie selbstbewusst, kompetent und souverän (und ja, auch sehr einladend, es ihnen nachzutun). Sicher erfordert es Mut und vor allem Ausdauer, Stereotype zu hinterfragen und ihnen zuwider zu handeln. Aber betrachten wir es doch mal trocken: Wenn wir wirkmächtig sein wollen, dann haben wir keine andere Möglichkeit.

Es bringt nichts, darauf zu warten, irgendwie behandelt zu werden. Es bringt auch nichts, darauf zu warten, dass alle Männer dieser Welt ein Einsehen ereilt und sie fürderhin nur noch nett zu Frauen sein werden. Es bringt meiner Meinung nach überhaupt nichts, auf eine Änderung beim anderen zu hoffen und sich in der Zwischenzeit lautstark über all jene zu beschweren, die immer noch nicht verstanden haben, wie Respekt geht. Da ist auch ein bisschen Mimimi mit im Spiel und ein Ausruhen auf der komfortablen Position, dass man selbst auf jeden Fall im Recht ist, weil es immer jemanden gibt, der im Unrecht (sprich: ein Sexist) ist. Ich denke, das bringt uns kein bisschen weiter. Im Gegenteil, es verhärtet die Fronten. Es lockt die Vertreter extremer Positionen aus ihren Löchern, die dann ungehemmt Bashing und Beschimpfungen übelster Sorte loslassen, die tatsächlich oft ausgesprochen sexistisch und verächtlich sind. Es diskreditiert all die leisen Männer, die sich längst (und nicht immer mühelos) über solche Stereotype hinweggesetzt haben. Und vor allem relativiert es auch die Diskriminierungen, unter denen Frauen (und Männer) aufgrund ihres Geschlechts zu leiden haben.

Wenn ich nicht als Objekt gesehen werden möchte, dann darf ich mich auch nicht wie ein solches verhalten. Ich finde es legitim, Sexismus anzuprangern, sichtbar zu machen und sich dagegen zu wehren. Es ist gut, sensibel zu sein. Unverständnis habe ich aber für die ewige Opferposition. Es ist etwas anderes, aktiv in einer konkreten Situation auf sexistisches Verhalten hinzuweisen oder nach Beweggründen zu fragen, als jede vermeintliche Benachteiligung unendlich breitzutreten und sich medial darüber zu ereifern, dass manche Menschen sexistische Arschlöcher sind und dies partout nicht einsehen wollen.

Etwas mehr Selbstbewusstsein stünde uns gut zu Gesicht. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass in der Anonymität des Netzes eine Menge Kerle ihr Unwesen treiben, die laut schreien, aber daheim in den eigenen vier Wänden vermutlich eher so klein mit Hut sind. Wir entscheiden selber, wer uns beleidigt. Wieso gestehen wir Leuten, die wir selbst als Arschlöcher bezeichnen, die Macht darüber zu, uns zu definieren? Wir wissen doch selbst am besten, wer wir sind.

Permalink



Sonntag, 26. Oktober 2014
Weil der Schoß noch warm ist...
Weil die so nett familienfreundlich wirkenden, demonstrierenden konservativen Pappnasen beileibe nicht sind, was sie zu sein scheinen. Weil wir das alles schon mal hatten. Weil sich der Hass gegen andere Menschen Bahn bricht und gesellschaftsfähig wird. Weil vom gängigen Mainstream abweichende Meinungen über das Leben an sich, über Geschlechtlichkeit und über Familienstrukturen nicht toleriert werden. Weil der Schoß noch warm ist, aus dem das kroch:

Bitte den Bericht von Nele Tabler lesen, die viel besser und direkter schildert, was uns Grund zur Angst geben sollte, als ich das jemals könnte.

Als ob es hier noch um Bildungspläne ginge.

Permalink



Montag, 29. September 2014
Obacht. Obhut. Sicherheit. Schutz.
Ein deutsches Märchen.
"In Deutschland achtet man die Würde des Menschen," sagte heute bleichgesichtig Steffen Seibert in die Kamera der ARD. Mir entfuhr ein lautes "Ganz offensichtlich nicht!"

Der kapitalistische Lochfraß hat von der Würde der Menschen in Deutschland nicht viel übrig gelassen, denn man kann von Menschenwürde bereits dann nicht mehr sprechen, wenn in einem Land manche Menschen würdiger sind als andere. Herr Seibert sollte nicht einmal das Wort Würde in den Mund nehmen, wenn geringfügig beschäftigte Security-"Fachleute" sich unter Aufbietung ihrer speziellen Fähigkeiten um Menschen "kümmern", die gerade erst ihre Heimat unter ungeahnten Umständen verlassen haben.

Bei uns hier überlässt man es aus finanziellen Gründen privaten Unternehmen, sich um Aufgaben zu kümmern, die eigentlich sowohl einer gründlichen Ausbildung als auch einer regelmäßigen staatlichen Überprüfung bedürften. Ich dachte eigentlich, es sei selbsterklärend, wie blöd- und leichtsinnig das ist. Aber die Hoffnung trog. Neu ist es jedenfalls nicht.

Ich sage nicht, dass jeder Beschäftigte der Branche eine zweifelhafte Einstellung mit sich herumträgt. Aber mal im Ernst: Wie sind die Menschen wohl gestrickt, die dieses Berufsbild anzieht? Man ist befugt, andere zurechtzuweisen, von Grundstücken und Gebäuden fernzuhalten (oder eben drinnen), man darf über Recht und Ordnung entscheiden und sie durchsetzen. Sogenannte Sicherheitsbedienstete dürfen Macht und Gewalt ausüben. Ob sie damit auch umgehen können, beurteilt ihr Arbeitgeber.

Jemand, der über einem am Boden in Erbrochenem sitzenden Menschen steht und in vollem Machtbewusstsein sagt "Willst du noch eine?", der kann mit seiner Macht nicht umgehen. Der hätte sie auch besser nie erhalten. Große Jungs, die endlich jemanden zum Verprügeln gefunden haben, spielen sich als Kasernenwächter auf. Was für ein Rausch.

"Warum mich schlagen?" fragt der Mann am Boden, und mir wird eiskalt. Warum? Ich weiß es ganz genau, armer Mensch. Weil du gerade da bist. Weil du der Fremde bist. Weil du die Sprache nicht verstehst. Weil du drinnen sitzen musst und er derjenige ist, der die Tür bewacht. Weil er alles behaupten kann, während man dir nicht glauben wird. Weil wir die Regeln machen. Weil er es kann. Ganz einfach. Täusch Dich über nichts. Das ist so gewollt in diesem Land.

Du bist hierher gekommen in der Hoffnung, dass es besser ist als anderswo. Du irrst. Es ist nur anders.

Nachtrag:
Fürderhin sollen nur noch Sicherheitsdienste die Bewachung von Flüchtlingsheimen leisten dürfen, die bereit sind, ihre Mitarbeiter durch den Verfassungsschutz prüfen zu lassen. War das nicht der Verein, der auch in anderen Fällen auf dem rechten Auge ziemlich schlecht sah?

Permalink



Mittwoch, 27. August 2014
Die Rückkehr der... ähm... wie bitte?
Schon mal etwas gehört von den sogenannten "Pick Up Artists"? Klingt ein bisschen wie Varieté, und stimmt, ist es eigentlich auch. Nämlich ein Riesentheater, das manche Männer inszenieren, um Frauen abzuschleppen und schließlich (was auch sonst) Sex mit ihnen zu haben.

Ich erinnerte mich mal wieder an diese eigenartige "Verführungs"-Community, als ich in einem Artikel von Journelle den Terminus "cost per orgasm" wiederfand. Der Begriff umschreibt die rein ökonomische Rechnung, wie viel Investition ein Mann tätigen muss, um bei einer Frau zum Stich mit Happy End zu kommen. In die Rechnung mit einbezogen werden alle ausgegebenen Drinks und Abendessen, Einladungen ins Kino, Geschenke und anderer Killefitt. Wem das jetzt bereits eigenartig antiquiert vorkommt, der liegt nicht ganz daneben.

Die Männer besagter Community streben es an, sogenannte Alphas zu werden oder sehen sich selbst bereits so. Wieder fühlt man sich wie im Zirkus - da wird sich auf die Brust getrommelt, was das Zeug hält, und im Zentrum der Bemühungen, die mit allerhand lustigen Abkürzungen aus dem Englischen umschrieben werden, steht der "Close", also der Abschluss. Ehrlich gesagt, wann immer ich etwas darüber im Netz lese, komme ich mir vor, als sei ich inmitten einer Gruppe Pennäler gelandet. Wäre es nicht gleichzeitig auch noch sexistisch, wäre es glatt witzig - auf der Ebene einer soziologischen Feldforschungsstudie.

Schon allein die Klassifizierung, die die Männer bei ihren auserkorenen Zielen vornehmen, ist einfach hochgradig albern. Frauen werden anhand ihrer Attraktivität mit Schulnoten ausgestattet, aber auch als selbstbewusst oder weniger selbstbewusst eingestuft. Es fehlt eigentlich nur noch die kleine Geheimkladde, in der Jessica, Nadine und Maria mitsamt ihrer Bewertung eingetragen werden.

Mir fällt es enorm schwer zu glauben, dass es tatsächlich Frauen gibt, die die Unechtheit dieser vermeintlich so wirkungsvollen Aufreißstrategien nicht durchschauen und naiverweise glauben, sie hätten den Glücksgriff ihres Lebens getan. Aber auch der Aufwand, den die Männer betreiben, um sich das Image eines "echten, maskulinen Mannes" zu geben, wirkt vollkommen lächerlich auf mich.

"Körperliche Kraft ist der Kernpunkt dessen, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Ohne Körperkraft unterscheiden sich Männer nicht so sehr von Frauen. Obwohl es viele weitere Vorzüge von Männlichkeit gibt, zum Beispiel Entschlusskraft und mentale Standhaftigkeit, leiten sich doch die meisten davon aus der physischen Verkörperung von Kraft ab."

Dies die Begründung auf einer amerikanischen Seite dafür, warum es für Männer unabdingbar sei, Gewichte zu stemmen, und das bitte regelmäßig. (Die beiden anderen Tipps für gute, männliche Ausstrahlung und damit den Weg zum "Alpha" lauteten, regelmäßig Frauen anzusprechen, um das zur Gewohnheit zu machen sowie - Tusch! - Bücher zu lesen.)

Man bekommt anhand dieses Zitates einen ziemlich guten Eindruck davon, welchem Rollenverständnis die (werdenden) Pick-Up-Artists anhängen. Die Frauen sind hier nurmehr das Spielzeug, das man auch mit zweifelhaften Methoden wie dem Neurolinguistischen Programmieren dahin manipulieren darf, sich genau so zu verhalten, wie man es will. Ziel ist meistens, die Frau mit gespreizten Beinen auf dem Laken vor sich liegen zu haben. Dann sollte sie es außerdem nicht wagen, sich zu beschweren, wenn man sich nicht an ihren, sondern lediglich an den eigenen Bedürfnissen orientiert. Don't apologize! lautet der Rat für alle, die sich Sorgen darüber machen, wie es der erlegten Frau wohl ergehen mag. Nicht entschuldigen, für gar nichts.

Das Strategiegespinst, das sich damit befasst, "Signale" richtig zu deuten, Frauen von ihrer Gruppe zu isolieren, sie sich zurechtzulegen und sie in die gewünschte Richtung zu treiben wie ein Stück Wild (nicht umsonst heißt der ganze Vorgang irrerweise "game"), ist natürlich ein ausgezeichneter Schutz vor Ablehnung.

Man könnte Frauen ja auch einfach fragen, ob sie Sex wollen. Statt dessen gibt es diese ausgeklügelten, mit Pseudo-Fachtermini versehenen Programme. Es ist einfacher, den gesamten Vorgang der männlich-weiblichen Annäherung (ganz gleich, ob zum Zweck des Geschlechtsverkehrs oder einer Beziehung) zu versachlichen. Die entsprechenden "Artisten" schaffen Distanz zu den eigenen Gefühlen der Angst vor Zurückweisung, zu Schmerz und Enttäuschung. Emotional wird gar nicht erst investiert, denn dann kann man, für den Fall, dass es schiefgeht, die Frau als Nichtmensch, als Übungsobjekt, als Error-Variante aussortieren und sich sagen, man müsse lediglich die eigene Technik verfeinern. Ein ordentlicher Schuss Biologismus tut ein Übriges, denn dann hat man ein pseudowissenschaftliches Gerüst, an das man sich klammern kann, wenn gar nichts mehr geht.

Ein solches Verhalten hat in meinen Augen so rein gar nichts von wirklichem Selbstbewusstsein, auch wenn die Strategen des PUA-Sektors das immer wieder betonen. Im Gegenteil. Der Gesamteindruck ist der einer Horde kleiner Jungs, die eine Methode gefunden haben, auf keinen Fall berührt und verletzt zu werden.

Eine Website nennt sich "Return of Kings". Ich las das und dachte nur: "Rückkehr der Könige? Bitte?" Jemand, der von sich das Selbstverständnis eines Königs hat, sieht sich immer als Herrscher. Zu sagen, man sei ein König, impliziert auch gleich die Untertanen mit. Wer das in diesem Fall sein soll, darüber braucht man nicht zu spekulieren. Jemanden zum Untertan haben zu wollen, setzt meiner Auffassung nach ein gewaltiges Defizit an Selbstwertgefühl voraus.

Zurückkehren zu wollen als Könige, das klingt so wunderbar nach dem Fantasy-Rollenspiel, das es eigentlich auch ist. Irgendwann waren diese Personen einmal keine Könige, haben sich aber geschworen, niemals mehr klein und unbedeutend zu sein. Daraus machen sie aber auch keinen Hehl. Der Alpha-Mann will dominieren.

Eigenartigerweise wird als Idealbeute die Frau mit dem hohen Selbstwertgefühl gepriesen. Solche mit niedrigem solle man lieber meiden. Aber welche Frau, die ein halbwegs stabiles Selbstwertgefühl hat, lässt sich mit einem Mann ein, der sie der Taktik halber auch gern mal von sich stößt, ihr fiese Sprüche um die Ohren haut und sich sicher ist, dass sie hinterher trotzdem angekrochen kommt, weil ihn genau dieses Verhalten ja ach so attraktiv macht? Die Riesenmacke klebt so einem Typen doch schon als Etikett auf der Stirn. Lässt sie sich tatsächlich auf ihn ein, dann kann von gesundem Selbstwertgefühl wohl kaum die Rede sein. Ich schätze, da lügen sich die Aufreiß-Künstler gewaltig in die Tasche, und das Motto lautet: "Ich will keine wollen, die es nötig hat!" Ein schwaches Weibchen bedeutet von vornherein keine Stärkung für das eigene Ego. In diesem Punkt sehr entlarvend.

Ziel des Spiels dieser neuen "Könige" ist es, sich die wunden Punkte ihrer Mitmenschen herauszusuchen und diese für sich auszunutzen, um ihr eigenes Selbstbild zu polieren. Letztlich geht es um Kontrolle, Regelung, Distanz und darum, die Fäden um jeden Preis in der Hand zu behalten. Es geht nicht einmal um Sex, allenfalls um das Führen einer Strichliste, die zum Aufbau eines Trugbildes über die eigene Beschaffenheit dienlich sein kann.

Eine Anmaßung ist, dass die Künstler-Community für sich in Anspruch nimmt, die Bedürfnisse, Verhaltensweisen und die vermeintliche Natur der Frauen bestens zu kennen und stets richtig zu interpretieren. Natürlich auch deren Unbewusstes - vor allem das.

Interessant war da beispielsweise ein kleiner Einblick in ein Forum (zu mehr reichte es nicht, weil mir schlecht wurde). Dort schilderte ein junger Mann seine Begegnung mit einer sieben Jahre älteren Frau und ihre Reaktionen auf seine Annäherungsversuche. Letztere erschienen mir beim Lesen ziemlich harmlos, aber die Interpretation der anderen Forenmitglieder fiel anders aus. Da war alles dabei von einem recht unbefangenen "Natürlich solltest du es weiter versuchen!" bis hin zu "Welche Signale willst du noch, Junge? Die Alte will flachgelegt werden!"

In dieser konstruierten Realität ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass die beteiligten selbsternannten Aufreißhelden ständig Interpretationshilfe von ihren Artgenossen benötigen, dann aber offensichtlich meilenweit am Ziel vorbeischießen. Kann auch nicht anders sein, weil sie die Person, der sie da begegnen, überhaupt nicht wahrnehmen. Alles nur "game".

Besonders sticht mir an dem Selbstverständnis dieser Männer aber ins Auge, dass sie sich als Opfer des Feminismus betrachten. Das Bild des zu seinem eigenen Leidwesen domestizierten, von Frauen zurechtgestutzten Mannes, dem nicht mehr erlaubt wird, seine wahre Natur zu leben, geistert ja allenthalben durch die Medien, nicht nur in Pick-Up-Artist-Kreisen. Mancher sieht sich zum Versorger degradiert, der den unverschämten Ansprüchen seiner Frau genügen soll und froh sein kann, wenn sie ihm einmal im Monat zugesteht, mit ihr zu schlafen. In Wirklichkeit stecken natürlich in all diesen Männern ultramaskuline Barbarentypen, die theoretisch mit dem richtigen Werkzeug lernen könnten, sich den natürlichen Platz in der Hierarchie zurückzuerobern. Die Rückkehr der Möchtegernkönige ist also auch der Wunschtraum von Rache für eine als Demütigung erlebte gesellschaftliche Entwicklung.

Vom Feminismus kann natürlich jeder halten, was er mag. Ich selbst bin mir noch immer nicht sicher, ob es so etwas wie den Feminismus überhaupt gibt. Worüber ich mir aber sicher bin ist, dass es selbstverständlich Frauen gibt, die sich von ihren Männern aushalten und versorgen lassen, die sie ausnutzen und sie allenfalls ab und an mit Sex für das bezahlen, was sie erhalten. Sicher gibt es Frauen (vielleicht sogar viele), die Vätern ihre Kinder entziehen und entfremden. Ich bin sogar felsenfest davon überzeugt, dass sich Sexismus in unserer Gesellschaft beileibe nicht nur gegen Frauen richtet, sondern in massivem Umfang auch gegen Männer.

Nur hat man noch keine Lösung eines Problems dadurch erreicht, dass man darüber gestritten hat, wer das rechtmäßigere Opfer ist. Die Ideologie der Pick Up Artists und ferner der Maskulinisten steigt aber genau an dem Punkt ein. Ihre Anhänger verstehen sich als Opfer einer geheimnisvollen Frauenmacht, der es über lange Zeit und in großem Umfang gelang, ihr Selbstbild als Männer zu schmälern.

Nun soll der große Backlash die Erlösung bringen, auch mit Gewalt. Der Rückzug auf die eigene "maskuline" Stärke und Dominanz soll den Frauen zeigen, was sie eigentlich sind. Keine Menschen, lediglich Objekte. Niemand, zu dem es sich lohnt, eine Beziehung herzustellen. Wenn es hochkommt, vielleicht noch Brutkästen für den eigenen Nachwuchs. Vor allem Erfüllungsautomaten für die als natürliches Grundrecht betrachteten eigenen körperlichen und vor allem psychischen Bedürfnisse.

Auf einer solchen Basis funktioniert selbstverständlich kein Verstehen, keine Beziehung und keine Liebe zwischen Menschen. Es mangelt an Respekt, und das macht auch Problemlösungen unmöglich. Der Pick Up Artist bleibt mit sich und seinem verschrobenen Geschlechterbild zwangsläufig in der Kälte allein. Das alles müsste niemanden kümmern, man könnte sogar drüber lachen. Er könnte in seinem Biotop gern weiter einfach um sich selbst kreisen.

Aber diese lächerlichen, kleinen Jungs, die sich so sehr vor Zurückweisung fürchten, sind möglicherweise irgendwann diejenigen mit der Waffe in der Hand oder die, die Gesetze machen, oder die, die vergewaltigen. Das ist gefährlich. Es gibt bereits genug Männer, die aus Angst vor Nichtbeachtung und Kränkung diejenigen kontrollieren und demütigen, denen sie eigentlich nah sein möchten.

Ich habe mal gelesen (aus konservativen Kreisen, wie ich mich zu erinnern meine), dass es eben die ureigenste Aufgabe der Frauen sei, den Bedürfnissen der Männer so weit entgegen zu kommen, dass niemand sich gekränkt fühlen müsse. Am besten sämtliche Wünsche bereits im Vorfeld erahnen, erraten, erfühlen, sich darin schulen.

Aber was bitte ist so ultra-maskulin daran, sich von jedem winzigen Fliegenschiss gekränkt zu fühlen? Nur, wer mit einem übergroßen Anspruchdenken dem Leben gegenüber aufwächst, das ihn glauben lässt, er hätte ein Recht auf stets optimale körperliche und seelische Versorgung, fühlt sich durch die schon statistisch völlig wahrscheinliche Ablehnung durch andere so erschüttert, dass er dermaßen überkompensieren muss.

Das Leben ist nicht immer nett. Lebt damit. Setzt Euch in die Ecke und weint eine Runde oder zwei darüber, so richtig und von Herzen. Aber lasst den Rest der Welt mit Eurem Herrschaftsdenken in Ruhe.

Anmerkung:
Bewusst habe ich hier keine Links zu den besagten Seiten gesetzt. Wer über das Thema etwas erfahren will, kommt über die gängigen Suchmaschinen mit den entsprechenden Stichworten ganz flott zu umfangreichen Ergebnissen.

Permalink



Donnerstag, 14. August 2014
Aber sicher doch...
"In den Bergen verdursten Frauen und Kinder!"

Das sagte dumm oder dreist, wahrscheinlich aber beides, ein CDU-Politiker (seinen Namen habe ich schon wieder vergessen) vorgestern in eine Fernsehkamera, als es um mögliche deutsche Waffenlieferungen an die Kurden im Irak ging.

Ach so! Frauen und Kinder. Na dann... Wer könnte da auch noch nein sagen zu unseren humanitären Waffenlieferungen?

(Moment, waren das in Nigeria nicht auch Frauen, halbe Kinder noch, die Boko Haram entführt und unter Schleier gesteckt hatte? Da waren die hiesigen Politiker irgendwie nicht halb so enthusiastisch vor Sorge.)

Die Tränendrüsendrückerei hätte sich der Knabe auch sparen können. Die wirklichen Motive mögen vielfältig sein. Vielleicht hat man Angst vor den bösen Islamisten so ganz in unserer Nähe. Oder möchte gern mit den Amerikanern mithalten. Oder nicht das Gesicht verlieren vor der Weltöffentlichkeit. Oder schlicht und ergreifend Geld verdienen - davon soll man ja auch schon gehört haben. Liegt bei den Kackärschen von der Union auch nicht so fern.

Aber um die Frauen und Kinder geht es wohl kaum. (Und ich frage mich übrigens, was an verdurstenden Männern weniger schlimm sein soll.)

Wer mir die Waffe zeigt, die auch nur ein einziges Kind vorm Verdursten rettet, kriegt von mir eine Schachtel Pralinen.

Permalink



Mittwoch, 6. August 2014
Suburbane Assimilation
Mein neuer Weg zur Arbeit ist wunderschön. Ich lasse die Stadt links liegen und fahre am Kanal vorbei, zwischen Feldern und an Hecken entlang.


Zwischen hohen, alten Eichen liegen die neu bewohnten Reste von Bauernhöfen. Unter meinem Reifen knirscht Kies, ich kurve um Schlaglöcher herum.


Ein paar hundert Meter, bevor ich in die kleine Allee einschere, die im Gewerbegebiet mündet, läuft jeden Morgen eine Schar Hühner frei herum, komplett mit Hahn. Ich muss an keiner Ampel warten und komme mit ausgelüftetem Kopf bei der Arbeit an. Abends ist die Fahrt wie ein Balsam für die Seele, die vom Bildschirm angestrengten Augen ruhen sich aus und schweifen in die Ferne, der Takt verlangsamt sich und ich atme durch.



Die Umgebung hier ist prächtig. Aber zuerst muss ich durch die Naherholungszone, die sich an mein Stadtviertel anschließt. Ich dachte anderthalb Wochen lang, es sei schön, den Weg direkt am Wasser zu nehmen. Dann hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein Dutzend Hundebesitzer dieselbe Ansicht vertritt und die Grünstreifen links und rechts des meterbreiten Fußwegs am Kanal für optimal hält, um Fiffi und Cäsar zur Kackrunde auszuführen. Sie spannen ihre Flexileinen kreuz und quer über den Weg, und manche reagieren nicht einmal mehr auf Klingeln. Sie schleifen ihre Hunde nur dann zu sich zurück, wenn die Gefahr einer Kollision besteht.

Klingt ganz amüsant, aber das ist Suburbia, und das widert mich an. Da bin ich Misanthrop. Ich will meine heile Welt, und da passen mir Hundehaufen nicht ins Konzept, und auch nicht neben Sitzbänken abgestellte Bierflaschen und von Randstreifenmähern zerfräste Plastiktüten.

Auch am anderen Ende meines Arbeitsweges wuchert Suburbia. Die Resthöfe zwischen den alten Bäumen sind längst nicht mehr allein.


Bauern verkaufen ihre Äcker, es werden neue Baugebiete erschlossen, Pflöcke werden in den Boden getrieben, Leinen gespannt, Parzellen abgesteckt und Traumhäuser gebaut. Im Neubaugebiet wird an einigen Dachstühlen noch gezimmert, während sich die Muttis aus den schon bewohnten Häusern abends bereits zum Nordic Walking treffen und zu viert nebeneinander schnatternd die Landstraße entlangstöckeln. Die erschrecken sich zu Tode, wenn man die Unverschämtheit besitzt, zu klingeln und vorbeizuwollen. Das hier ist ihr Naherholungs- und Freizeitpark.


Unter den Reifen der schweren Baumaschinen bröckelt der Asphalt der alten Landstraße. Die braucht bald sowieso niemand mehr, denn jetzt wird eine neue Zufahrtstraße gebaut. Es gibt sogar mehrere Kreisverkehre, damit sich in der vorstädtischen Rushhour keine Autoschlange bis ins verkehrsberuhigte Wohngebiet staut. Das fein säuberlich geplante Netz aus rotgepflasterten Sackgassen benötigt Entlastung, noch ehe Belastung entsteht.


Bislang konnte ich das mit feisten Einfamilienhäusern bebaute Areal noch gut umfahren, aber bald kommen auch hier die Hundehäufchen, und wenn Papi morgens den Junior in die Kita karrt, wird die Straße für seinen BMW-SUV und mich auf dem Fahrrad zu schmal werden. Aber dann gibt es zu meinem unverschämten Glück dort vermutlich einen doppelt und dreifach gesicherten separaten Radweg mit gekennzeichneten Straßenübergängen.


Ich will nicht teilen. Die dicht über die wogenden Felder fliegenden Mauersegler, die Nilgänse am Kanal und die Graureiher in der Wiese, der endlose Himmel - das alles passt nicht zu dieser sterilen Yuppie-Familiensiedlung mit ihren manikürten Vorgärten, Spiel- und Sportplätzen und den eingezäunten Privaträumen, den Discountern auf der grünen Wiese und den Sichtschutzwällen.


Das Gefühl meiner Abneigung ist mehr als der Dünkel des authentischen Landlebens (das es ohnehin nicht mehr gibt). Mich erschreckt der Mangel an Gewachsenem, die totale Begradigung, das Abschleifen von Ecken und Winkeln in der Landschaft, das Sterben wilder Hecken und matschiger Gräben. Alles wird kanalisiert, schubladisiert, beschildert, und der Regen wird künftig im Regenauffangbecken aufgefangen.


Irgendwann werden sie die alten Bauernhäuser an den Rändern der gefräßigen Vorstadt auch noch abreißen, und dann werde ich um eingesunkene Dächer und Brennesselgärten trauern.

Permalink



Montag, 26. Mai 2014
"Ist aber harte Arbeit...!"
Vielversprechend zumindest übergangsweise:

Teilzeitjob für 8,50 € die Stunde, Gartenhilfe. Umgang mit Heckenschere und Rasenmäher muss beherrscht werden. Nun, für eine, die schon zu Schulzeiten das große Grundstück der Eltern mähte und erst jüngst die eigene Hecke einen Kopf kürzer gemacht hat ein Kinderspiel. 11 Stunden die Woche, Zeit frei einteilbar.

Der potentielle Arbeitgeber hört am Telefon die Stimme einer Frau. "Ist aber harte Arbeit...!" sagt er bestimmt. Ich bin erstmal sprachlos. Ja, nu, harte Arbeit kann alles sein. Für manche ist auch das Lackieren der Fingernägel schon harte Arbeit.

Ich frage nach, was denn so zu tun sei. Mit einem Stihl-Freischneider müsste ich schon umgehen können. Und Waldgelände sei auch dabei. Also, es sei schon harte Arbeit.

Dann packt er die Kettensäge aus. Tja, mit einer Kettensäge kann ich wirklich nicht umgehen. Wenn mir das einer beibrächte und die passende Schutzkleidung zur Verfügung stellt, stets gern.

Ich frage mich allerdings jetzt, was zuerst da war. Die Kettensäge oder das Vorurteil, Frauen seien zu intensiver, körperlicher Arbeit nicht in der Lage. Den Rasen mäht übrigens der Sohn. Rein zufällig.

Permalink



Dienstag, 20. Mai 2014
Landverbunden
Ich lebe wirklich gern auf dem Land. Das wurde mir neulich erst wieder so richtig bewusst, als ich zurück in meiner Studienstadt war. Zwar schön, mit Straßenfest in großem Maßstab, definitiv mehr Kultur als hier, mehr Möglichkeiten zum Einkaufen, mehr von allem. Aber eben auch mehr Dreck, mehr Menschen, mehr Verkehr und deutlich weniger Platz, weniger Himmel, weniger Luft und weniger Grün.

Das ist, was mich hier so sehr hält, mich Landei. Die Stille zwischen den Feldern, das üppige Grün, die Tatsache, dass der Abstand bis zur nächsten Häuserwand deutlich größer ist. Mich mit dem Rad nicht zwischen zwei Fahrspuren von LKWs zerquetschen lassen zu müssen. Die Gerüche in der Luft, unverschleiert von Kanalgestank und Abgasen. Landleben ist für mich Lebensqualität pur.

Wenn jetzt eine gute Fee käme und mir einen Wunsch erfüllen wollte, dann hätte ich gleich einen parat. Ich wünschte mir, die Maxime der Wirtschaftlichkeit im Verkehrswesen würde abgeschafft und mein liebes, ländliches Gebiet erhielte endlich eine ordentliche Infrastruktur. Eine, die einen Verzicht auf massenhaften Individualverkehr möglich machte.

Ich lasse mal all die "abers" außer Acht, die (zum Teil auch berechtigt) bei dem Thema aufkommen. Hier ist mein Utopia:

Ich steige in meinem Heimatort unter die Erde und in eine U-Bahn ein und komme in zwanzig Minuten an meinem Arbeitsort wieder heraus. Oder ich nehme die Buslinie, die im Zwanzig-Minuten-Takt den ganzen Tag lang fährt, mit geräumigen, pünktlichen Bussen zu vernünftigen Preisen. Ich kann einen Job weit draußen annehmen, weil ich nicht um fünf Uhr aufstehen muss, um pünktlich anzukommen. Ich kann problemlos mein Nachbarland erreichen, ohne das Auto zu benutzen, weil es grenzüberschreitende Straßenbahnen gibt. Ich darf mein Fahrrad in all diesen Verkehrsmitteln gratis mitnehmen und kann das auch, weil es dafür eigens konzipierte, geräumige Fahrradabteile gibt.

Ich könnte das noch weiterspinnen. Aber zwangsläufig schleicht sich ja doch immer wieder der Gedanke ein: Ja, das wäre alles ganz toll, aber es lohnt sich nicht und niemand wird so etwas bezahlen können!

Ich liebe öffentliche Verkehrsmittel. Es ist wirklich so. Ich finde kaum etwas entspannender, als mich von Bus und Bahn durch die Weltgeschichte schaukeln zu lassen. Natürlich trübt sich diese Liebe etwas, sobald besagte Öffis überfüllt und unpünktlich sind, was leider ziemlich oft vorkommt. Aber grundsätzlich...

Hier auf dem Land sind die Busse häufig ziemlich leer. Eine Bahn fährt durch meine (gar nicht so kleine) Stadt überhaupt nicht. Da stelle ich mir dann immer die Frage nach der Henne und dem Ei. Würden mehr Leute die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, wenn die Verbindungen besser wären und die Preise moderater, beziehungsweise wenn es sie überhaupt gäbe? Oder sind die Verbindungen so schlecht, weil sich engerer Takt, weitere Haltestellen und Linien nicht lohnen, weil hier ja keiner damit fährt?

Beantworten kann man das wohl nicht abschließend, weil es zu teuer wäre, es einfach auszuprobieren. Ich jedenfalls würde ein Angebot mit großer Begeisterung nutzen.

Kleiner Exkurs: Auf dem Land sterben die Dörfer vor sich hin, teilweise gibt es eklatanten Leerstand und Verfall, junge Leute ziehen weg, weil sie keine Arbeit finden, und Unternehmen siedeln sich gar nicht erst an, weil die Infrastruktur so mau ist. Gleichzeitig explodieren in den großen Städten die Mieten, man muss sich um Wohnungen regelrecht bewerben, es wird abgezockt, was das Zeug hält. Mal abgesehen von denjenigen, die die Stadt aufgrund des urbanen Feelings bevorzugen - wie viele Menschen würden wohl auf dem Land bleiben, wenn sie die Stadt gut und schnell erreichen könnten?

Das Gedankenspiel ist zu schön, um wahr zu werden. Aber man wird noch träumen dürfen.

Permalink



Dienstag, 6. Mai 2014
Herr Gauck besucht Theresienstadt
Das berichtete bereits gestern die Tagesschau. Auf dem neuen großen Display im neuen großen Tagesschaustudio sah man den Bundespräsidenten mit einer roten Rose in der Hand zwischen Grabsteinen stehen.

"Hauptsache Friedhof", mag man sich in der Bildredaktion der Tagesschau gedacht haben, denn dem Besuchsort Theresienstadt gebührt natürlich per se ein gewisser notwendiger Ernst. Dennoch: Der gezeigte Friedhof war dieser hier, und Herr Gauck stand am Grabmal von Bedřich Smetana.

Man mag das für eine Lappalie halten, und wer weder in Theresienstadt noch auf dem Vyšehrad jemals war, dem fällt es vermutlich nicht auf. Man kann auch nicht sagen, dass das Bild bewusst aus dem Kontext gerissen wurde, denn im Wortlaut der dazugehörigen Nachricht ist nirgendwo die Rede davon, dass das Bild Herrn Gauck beim Besuch in Theresienstadt zeigt.

Aber.

Aber diese zufällige Entdeckung wirft in mir die Frage auf, wie häufig solche Fehlkombinationen (seien sie nun bewusst oder unbewusst vorgenommen worden) wohl im Alltag vorkommen und wie viele falsche Schlüsse wir als Medienkonsumenten daraus ziehen. Wenn ein Geschehnis nicht so harmlos ist wie der Besuch des Bundespräsidenten in Tschechien, dann wird das nämlich schon pikanter.

Wer sind die Menschen mit den Masken wirklich, die uns das Fernsehen zur Zeit zeigt, wenn es um die Ukraine geht? Sind das zwei brennende Hubschrauber oder nur einer aus zwei unterschiedlichen Perspektiven? Wie ist der Ausschnitt gewählt, wenn die Kamera in einem Flüchtlingslager für Syrer "draufhält"? Wie viele im Mittelmeer abgesoffene Seelenverkäufer werden erst gar nicht gefilmt?

Selektive, parteiische Berichterstattung ist überhaupt nichts Neues, darüber bin ich mir im Klaren. Am Beispiel des reisenden und gedenkenden Herrn Gauck, das tatsächlich eher den Charakter einer Bagatelle hat, wurde mir nur mal wieder klar, wie groß die Macht der Bilder ist und wie sehr es von der Benutzung des eigenen Gehirns abhängt, ob man ausgewogene und weitgehend den Tatsachen entsprechende Informationen erhält.

Selektive Wahrnehmung kann auch sehr bequem sein. Sie schützt den Rezipienten davor, sich allzu viele Gedanken machen zu müssen und teilt, ganz je nachdem, was für eine Brille er trägt, die Welt so wunderbar fein säuberlich in Schwarz und Weiß ein. Es vermittelt ja Sicherheit, zu "wissen", wer die Guten und wer die Bösen sind, wer Recht hat und wer Unrecht.

Könnte es auch ganz anders sein?

Permalink



Samstag, 22. März 2014
Zeugnisse für alle!
Drüben bei Suspended Particle las ich den folgenden Artikel.

Erinnerte mich an eine Diskussion am schwiegerlichen Kaffeetisch, die wir erst letzten Samstag hatten. Schwager und Schwägerin waren sehr einverstanden mit dieser Art "Eignungsnachweis" zum Umgang mit Kindern und erschlugen jede Argumentation mit dem schlichten Satz: "Aber es geht doch um unsere Kinder!" Ich kenne sie sonst als sehr differenzierte Leute, wusste aber im selben Augenblick, dass es sich nicht lohnen würde, dagegen mit Sachargumenten anzutreten. Emotionen bringen derlei Themen auf eine andere Ebene, und als Nicht-Eltern können wir da ohnehin nicht mitstinken.

Abends dann gingen Schwiegereltern, Schwager und Schwägerin auf eine Party, und wir blieben da und hüteten die drei Kinder. Da ging mir durch den Kopf, wie wohl unsere Eignung als Onkel und Tante beurteilt werden würde. Natürlich haben Schwager und Schwägerin so viel Vertrauen zu uns, dass sie uns ohne zu fragen die Kinder überlassen haben.

Aber woher wissen sie von dieser Eignung? Könnten wir nicht alle miteinander verantwortungslose Kinderschänder sein? Theoretisch wäre das doch möglich, denn letzte Sicherheit hat man ja nicht, oder? Steht mir als Tante ja nicht auf der Stirn geschrieben, dass ich mich nicht an meinen Nichten und Neffen vergreife.

Diese Unsicherheit wird durch solche Verordnungen, wie sie Suspended Particle beschreibt, geschürt. Hinter jeder Ecke wird das Böse gewittert, und das einzige, was man dem entgegenzusetzen bereit ist, ist diese zweifelhafte Form von Kontrolle. Noch mehr Gesetze, noch mehr Durchleuchtung, erweiterte Führungszeugnisse, demnächst dann Gedankenkontrolle...?

Wenn man den Gedanken zulässt, dann bitte auch konsequent bis zum Ende. Die meisten Vernachlässigungen und Missbräuche (ganz gleich, ob sexuell, seelisch oder körperlich) finden im familiären Nahraum statt. Deshalb sollte man dann auch den Elternführerschein einführen, Väter und Mütter auf ihre erzieherischen Fähigkeiten testen, von Großeltern Eignungsnachweise verlangen, sich um die Enkel zu kümmern, und Tanten wie mir und Onkels wie dem Gatten moralische Persilscheine abverlangen. Wir sollten alle gleichermaßen auf Herz und Nieren geprüft werden, nicht nur die armen Schweine, die als Dank für ihr ehrenamtliches Engagement nur Misstrauen ernten.

Aber dann würden sich vermutlich die Helen Lovejoys, die Gutmenschen dieser Welt, darüber beklagen, dass sie nicht per se als Eltern für die besseren Menschen gehalten werden, sondern sich an denselben Maßstäben messen lassen müssen wie alle anderen.

Permalink



... früher