Sturmflut
Montag, 27. Januar 2014
Kinderbelustigung, oder:
Die wachsende Sehnsucht
nach weißem Rauschen
Für anderthalb Tage verschlug es den Gatten und mich ins Ruhrgebiet. Wir hatten vor, eine Kabarettveranstaltung zu besuchen und gleichzeitig hatte der Gatte versprochen, Freund B. technische Hilfestellung in ein paar Dingen zu geben. Folglich saßen wir am Samstagmorgen um neun bei B. und P. am Frühstückstisch, während Klein-J. auf dem Fußboden herumwieselte und glücklich vor sich hin krähte.

J. ist zehn Monate alt, ein wirklich süßer kleiner Kerl mit einem ungemein charmanten Lächeln. Wie es mir scheint, könnte er auch ein sehr entspanntes Kind sein, wenn seine Eltern ihn nur ließen.

Nichtmütter - das habe ich inzwischen gelernt - dürfen sich ja nur in begrenztem Rahmen über die Erziehungstätigkeiten und -fähigkeiten anderer ereifern, weil sie "überhaupt keine Ahnung" haben. Und so versuche ich denn auch, mich gedanklich in P. hineinzuversetzen und ihr einige Dinge zugute zu halten. Dass J. ihr erstes Kind ist. Dass sie viele Unsicherheiten zu bewältigen hat. Dass sie und B. nun mal (euphemistisch gesprochen) alles andere als autoritär sind. Dass sich P.s Mutter bereits sehr früh massiv in die Erziehung des Kindes eingemischt hat und damit den Maßstab gesetzt hat für alles.

J. ist ein helles Köpfchen. Er hat bereits jetzt herausgefunden, dass seine Mutter und in geringerem Maße auch sein Vater alles an ihn herantragen. Er braucht nur mit dem Finger darauf zu zeigen. Es ist ganz gleich, ob das Objekt des Begehrens kaputtgehen könnte, ob es besser nicht in den Mund gesteckt werden sollte oder sich einfach nicht zum Spielen eignet, Junior bekommt es gereicht. Weil er, wenn das nicht geschieht, in unzufriedenes Jammern ausbricht. Und was könnte junge Eltern schon mehr unter Druck setzen als das Gefühl, es nicht richtig und ihr Kind möglicherweise unglücklich zu machen?

Dabei ist P. selbst von diesem Zustand genervt. Sie wirkt unglücklich und müde, als sie mir davon berichtet, wie anstrengend es sei, den ganzen Tag mit dem Kind allein und mit dieser Überforderung konfrontiert zu sein. Sie habe eigentlich gar keine Lust, das Kind dauernd zu bespaßen. Ich kann's ihr nachfühlen. Während ich ein Auge auf Junior habe, backt sie einen Kuchen, sichtlich dankbar dafür, dass sie ganz in Ruhe einen Schritt nach dem anderen machen kann, ohne unterbrechen zu müssen.

Ab und an wendet sie sorgenvoll den Blick von der Rührschüssel ab. Vor allem dann, wenn sich J. wieder an irgendeinem Möbelstück hochgezogen hat, denn er könnte hintenüber fallen. Mit gleichgewichtigem Stehen hat er es noch nicht so, und mit kontrolliertem Fall auf den bewindelten Hintern auch nicht. Also checkt P. ab und an, ob ich auch sehe, was sie sieht, und Junior am Stürzen hindere. Sie selbst setzt ihn meistens einfach wieder hin, wenn er aufgestanden ist. Als ich dabei zuschaue, frage ich mich, wie das Kind stehen und fallen lernen soll, wenn man es nicht lässt.

Das an und für sich geräumige Wohnzimmer unserer Freunde ist zur Zeit ausgepolstert wie eine Gummizelle. Auf dem Fußboden liegen Schaumstoffmatten und Decken, das ist ganz offensichtlich Juniors Zone. In einem Laufstall, wenn es denn einen gäbe, würde er sich nicht wohl fühlen und nur meckern, bekomme ich erklärt. Und auch da könne er natürlich fallen. Kein Wunder also, dass P. nie die Hände frei hat, denn der Kleine bleibt nicht in seiner Zone, er will vor allem auf den Arm und gucken und haben und in den Mund stecken.

Irgendwann beginnt J. zu jammern. Es ist kein echtes Weinen, eher von ungeduldiger Konsistenz. Ich nehme ihn auf den Arm und spaziere mit ihm durch die Wohnung. Er reibt sich mit seinen kleinen Händen die nurmehr halb offenstehenden, leicht glasigen Augen, irgendwann lehnt sein Kopf an meiner Wange. Ich plappere ein wenig belangloses Zeug, während ich über das Laminat schlurfe, und wiege ihn sacht hin und her, während in der Küche das Rührgerät brummt. Wir schauen uns gemeinsam im Flurspiegel an, und ich stelle fest, ich passe nicht zum Kind. Obwohl uns beiden gleichermaßen gerade nicht unbedingt unbehaglich zumute ist.

Erst, als wir erneut in der Küche eintreffen, wird das Kind wieder aufgeregt, weist mit der Hand auf die Teigschüssel und kräht. "Fahr mal ein bisschen mit ihm Fahrrad", meint P. und holt aus einem anderen Zimmer ein Dreirad mit Anschiebestange, auf dem J. recht stabil sitzen kann. Eigentlich fand er es auf dem Arm ganz gut, aber wer widersetzt sich schon einer Mutter. Ich komme mir blöd vor, als ich Söhnchen durch den engen Flur schiebe, in der Küche kehrtmache und dann wieder zurücklaufe in Richtung Haustür. Ich mache das ein paarmal und lasse ihn dann einfach wieder krabbeln. Es dauert keine drei Minuten, da zieht er sich wieder an den Hosenbeinen seiner Mutter hoch und möchte sehen, was da oben gemacht wird.

Ich weiß, dass das Großziehen von Kindern anstrengend sein kann, sogar, obwohl ich selbst keine habe. Das erschließt sich mir nicht nur an Tagen wie diesen, bei Menschen wie diesen. Andere Leute meiner Umgebung sind in Sachen Kindererziehung ganz anders gestrickt. Ich habe schon vieles gesehen. Die Bandbreite rangierte zwischen schwägerlich-zurückgelehnt und schwesterlich-strengkalt, und die meisten Begegnungen dazwischen waren irgendwie bodenständig, unaufgeregt und ganz normal. Trotzdem kennen sie natürlich auch das Gefühl, den eigenen Nachwuchs am liebsten an die Wand klatschen zu wollen, sie verlieren die Geduld, sind wütend, verzweifelt oder genervt. Kann vorkommen.

Aber P. und B. kreisen mit ihrem Sohn wirklich um die Lampe. Das Kind wird regelrecht dauerbearbeitet, manchmal gar von beiden Eltern zugleich. Während unseres Besuches frage ich mich immer wieder, wie der Kleine Ruhe finden soll, wenn die Eltern so unruhig sind. Der kleinste Mucks fordert sie zu ausgereiften Ablenkungsmanövern heraus, sie wedeln vor seinem Gesicht mit Spielzeug, denken sich ad hoc irgendwelche "lustigen" Spiele aus, damit er wieder lacht. Und zeigt er mit dem Finger irgendwo drauf, bekommt er, ungeachtet der eigenen Bedürfnisse von Mutter und Vater, unverzüglich, was er scheinbar verlangt. Das Rührei vom Teller, die Tulpe aus der Vase, die Deko von der Wand.

P. wundert sich, dass er nicht allein schläft. Ich wundere mich nicht. Und auch, wenn ich gut reden habe, weil ich mich nicht Tag für Tag mit kindlichen Ansprüchen auseinandersetzen muss, habe ich doch irgendwie das ungute Gefühl, dass das alles nicht besser, sondern eher schlimmer wird, wenn es so weitergeht.

Die Eltern sind beide ungeheuer liebe Menschen, ich mag sie sehr. Das Kind ist (noch) ein Sonnenschein. Aber ich war unglaublich erleichtert, als ich mit dem Gatten zusammen wieder auf der Autobahn war und wir gemeinsam heimwärts glitten, einziges Geräusch das monotone Brummen der Reifen auf dem Asphalt. Keine unvorhergesehenen kindlichen Krähanfälle mehr, vor allem aber keine ausdauernd wiederholten Sätze in drei Oktaven zu hoher Babysprache, kein Geklapper mit kleinteilgefüllten Plastikboxen, kein Geknister mit Folientüten, kein "Schau mal da!" und "Schau mal hier!", keine in wachsender Verzweiflung abgesungenen Kinderlieder.

Stille. Im Kontrast zu anderen Menschen die Bestätigung dafür zu erleben, dass man sich richtig entschieden hat, kann erleichternd sein. Selbst dann, wenn man (vielleicht fälschlicherweise) von sich selbst annimmt, man würde es ganz anders machen.

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Donnerstag, 23. Januar 2014
Lügen für (herzlich wenig) Geld
Es hängt wohl vom Grad der Verzweiflung ab, zu welchen Tätigkeiten man bereit ist. Heute habe ich wo "hereingeschnuppert", weil der Mensch ja von was essen muss. Während neben mir die künftige Kollegin vor sich hin telefonierte und ich zuhörte, spürte ich einen fetten Kloß in meiner Kehle aufsteigen und hatte ein Déjà-vu. An Call-Center-Martyrien aus meinem Studentenleben. Es ist Fakt, es fühlt sich einfach nicht schön an, anderen Menschen am Telefon Erdachtes zu erzählen, sich unter falschem Namen zu melden und auf kritische Rückfragen mit eigenartigem Geschwurbel zu antworten.

Man mag argumentieren, dass sich ein Job auch nicht zwangsläufig schön anfühlen muss. Aber sorry, ich habe noch einen Rest Integrität und bin nicht bereit, sie in diesem frühen Stadium der Verzweiflung zu opfern. Lieber ehrlich putzen als unehrlich auf dem Hintern sitzen.

Jetzt erstmal Hühnersuppe und Schokolade. Und dann wieder alles auf Null.

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Mittwoch, 15. Januar 2014
Unworte
Ich hatte mich schon in einem ellenlangen Artikel darüber auslassen wollen, dass der Ausdruck "Sozialtourismus" das Zeug zum Unwort des Jahres 2013 hat, als ich gestern las, dass es tatsächlich dazu gewählt worden war. Die Begründung für die Wahl dieses Begriffes war auch genau die, die mir durch den Kopf spukte. Der Ausdruck ist ein polemisches Unding. Eben ein Unwort. Allein die Verbindung dieser beiden Worte impliziert: "Die kommen alle zu uns, weil sie es sich hier auf unsere Kosten mal so richtig gut gehen lassen wollen!"

Was auch sonst tut ein Tourist, als faul zu sein und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen? Schweinerei, überhaupt! Die bösen Rumänen und Bulgaren, diese dreckigen, faulen Säcke. Sowas würde sich ein strammer Deutscher natürlich nicht erlauben. Der steht noch aufrecht, mit der Schaufel in der Hand, wenn ihn Ströme von Einwanderern überrennen. Ja, ja.





Ich weiß, ich soll keine Kommentarspalten lesen. Nicht bei Freenet, und auch nicht anderswo. Denn da treiben immer wieder solche Halbleichen an die Oberfläche und tun ihre Ansichten kund über die Welt, wie sie wirklich ist. Ungut, aber kundtun darf jeder.

Es gibt offenbar viele Menschen in diesem Land, die meinen, es gebe tatsächlich so etwas wie "Sozialtouristen". Vor allem meinen das die ewig Zukurzgekommenen. (Dass es hier Rentner zu sein scheinen, nehme ich mal als Randerscheinung von zweitrangigem Interesse hin - das könnte man noch mal separat diskutieren.)

Sozial möchte man nicht mehr sein. Man möchte nicht mehr teilen, schon gar nicht mit denen, die nicht nützlich sind und sich nicht anpassen. Man vergleicht sich permanent, und man selbst schneidet dabei grundsätzlich immer besser ab. Alles, was unter den Begriff "sozial" fällt, betrachtet der Deutsche neidisch als das, was anderen zugute kommt. Gleich hinterher mutmaßt er außerdem, dass die anderen das überhaupt nicht verdient haben, im Gegensatz zu ihm selbst. Er hat schließlich hart gearbeitet für sein Feierabendbier. Man mag das alles als Marotte einiger Stammtischsitzer abtun, aber ich habe den Verdacht, da ist noch mehr.

Wer sich nicht in die Tretmühle des Kapitalismus einfügen will oder kann, der zählt nicht mehr, weil er nicht verwertbar ist. Der Mensch wird nach seiner Nützlichkeit beurteilt. Eine solche Rechnung ist eiskalt. Dass ausgerechnet hier in Deutschland ein Begriff entsteht wie "Sozialtourismus", ist symptomatisch. Wir wollten schon immer unseren Platz an der Sonne und haben giftig geguckt, wenn wir fürchteten, dass andere ihn uns streitig machen. Die Furcht allein reicht auch schon aus, um Tatsachen geht es gar nicht. Denn was wissen wir eigentlich von der Not derjenigen, die wir so leichtfertig als Sozialtouristen, Sozialschmarotzer oder Sozialbetrüger bezeichnen? Wie kann es sein, dass sich die Leute aus ihrem Fernsehsessel heraus ein Urteil über diejenigen erlauben, die sie noch niemals persönlich getroffen und gesprochen haben und desgleichen vermutlich auch niemals tun würden?

Es ist nicht allein der Hass auf das Fremde, der eine Rolle spielt, auch wenn ich glaube, dass er nicht zu vernachlässigen ist. Es ist auch die Angst vor den Schwächeren. Die will man in unserer Verwertungsgesellschaft nicht sehen, weil sie so drastisch verkörpern, dass man tatsächlich scheitern kann. Sogar ohne eigenes Zutun. Also muss man ihnen die Schuld für ihre soziale Bedürftigkeit selbst in die Schuhe schieben, weil das die eigene Seele schützt.

Der "Penner" auf der Straße ist an seinem Unglück selbst schuld, er braucht sich doch nur zusammenreißen, sich einen Job suchen, sich um Himmels willen mal zu rasieren und mit dem Saufen aufzuhören, und dann wird das schon was. Die arbeitslosen Jugendlichen, die auf der Straße herumhängen, müssten nur einmal wieder lernen, wie man sich ordentlich ausdrückt, höflich und pünktlich ist und fleißig lernt, dann wird das schon. Und die Rumänen und die Bulgaren, die sollen doch bitte in ihrem eigenen Land bleiben und dort fleißig sein, anstatt sich hier einen lauen Lenz zu machen. Dann wird das schon.

Platz für Solidarität ist da nicht. Sozial zu sein und sich verbunden zu fühlen geht nur, wenn sich eben nicht alles an der Nützlichkeit des Menschen ausrichtet. Aber an der Nützlichkeit muss sich alles ausrichten, weil es der Wahnsinnskapitalismus, in dem wir uns befinden, so verlangt. Der Mensch zählt nur noch als ökonomischer Faktor, nach seinem in Ziffern ausdrückbaren Nutzen. In unserem kapitalistischen System müssen sich auch Krankenhäuser und Altenheime rechnen, werden Unglücke und Naturkatastrophen an ihrem volkswirtschaftlichen Schaden in Euro gemessen, lässt sich den Menschen mit der Drohung des Verlustes von Arbeitsplätzen beinahe jeder Kompromiss abringen. Und die soziale Rolle des Staates wird zum notwendigen Übel degradiert, was auch die Menschen, die auf soziale Zuwendungen angewiesen sind, zu reinen Übeln, zu Soll-Posten auf der Rechnung macht.

Und als ob sich das deutsche Sozialsystem so leicht betrügen ließe. Ich habe schon nicht geglaubt, dass das einfach ist, bevor ich gemeinsam mit dem Gatten begann, sicherheitshalber die Anträge auf Hartz IV auszufüllen. Jetzt, hinterher glaube ich es schon gar nicht mehr. Man muss wirklich alles offenlegen und hat bei Nichterfüllung bestimmter Erwartungen mit harten Sanktionen zu rechnen. Ich würde keine Lanze brechen wollen für das deutsche Sozialsystem. Trotzdem bin ich gerade froh, dass wir uns noch nicht wie Amerika im Endstadium des Kapitalismus befinden. Das dicke Ende kommt erst noch. Man wundert sich in Deutschland allenthalben darüber, dass bei guter Konjunktur trotzdem die Sozialausgaben nicht sinken. Wie sollten sie, wenn all die fleißigen Minijobber und Zeitarbeiter und Niedriglöhner von dem, was sie erhalten, nicht leben können?

Sie widern mich an, diese boulevardbetäubten Sesselfurzer, die wie kleine Kinder herumnörgeln: "Und wer kümmert sich um uns?" Ihre kurzsichtigen Gefühle im Bezug darauf, wer sie sind (deutsche Bürger), was sie geleistet haben (harte Arbeit), was sie erleben (echte Not) und was ihnen zusteht (mehr), machen sie zum Maßstab dafür, was für Bedürfnisse und Rechte andere haben sollen (möglichst keine). Sie geben sich gar nicht die Mühe, sich mit den realen Problemen auseinanderzusetzen, die bei all dem eine Rolle spielen. Sie weigern sich zu begreifen, dass die Zeit der Nationalstaaten vorbei ist und es blauäugig ist, sich einmauern zu wollen. Vermutlich ist es ihnen auch egal, vielleicht sogar ganz recht, dass Flüchtlinge massenweise im Mittelmeer ersaufen. Wechselt man halt den Fernsehsender.

Aber die Sesselfurzer sind meines Erachtens einer geschickten Wortschöpfung auf den Leim gegangen, die von vornherein dazu konstruiert war, ihr Gefühl von Ungerechtigkeit zu befördern und die Angst vor Zuwanderern zu schüren. Das lenkt dann so wunderbar davon ab, dass das massenhafte Angewiesensein auf Sozialleistungen, ganz gleich aus wessen Hand, lediglich die Kehrseite der Medaille ist, auf deren Vorderseite in fester Überzeugung tief eingraviert die Worte "Ewiger Wohlstand, ewiges Wachstum" stehen. So spaltet man elegant die Menschen in zwei Lager. Man möchte nur die Reichen, die Produktiven, die Selbständigen und ignoriert dabei, dass die Ursachen für die Armut der anderen im System liegen, nicht im Selbstverschulden.

An die Stelle der polemischen Aussage, Ausländer nähmen uns die Arbeitsplätze weg, ist jetzt die noch polemischere Aussage getreten, sie "plünderten" unsere Sozialkassen. Da eröffnet sich noch einmal eine neue Dimension. Jetzt spürt der brave Bürger, es geht ans Minimum, an die letzte Reserve, und er fürchtet die Migranten wie eine Horde von Heuschrecken.

Die Heuschrecken aber sind in Wahrheit andere.

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Klappe, Texter!
Im literarischen Belangen bin ich nicht sonderlich bewandert. In der Rückschau kommt es mir oft so vor, als hätte ausgerechnet der Deutsch-Leistungskurs meines Jahrgangs alles an literarischen Klassikern ausgespart, was andere behandelt haben. Ich habe eklatante Lücken, aber komischerweise auch nicht das Bedürfnis, sie durch nachholende Lektüre zu füllen. Irgendwie gehen mir die Pflichtlektüren von damals (trotz gelegentlicher Anfälle von Bedauern) am Allerwertesten vorbei. Natürlich gibt es Menschen, die mit Klassikern etwas anfangen können. Freundin I., natürlich als beinahe-gewordene Deutschlehrerin durchaus bewandert in diesen Dingen, kann mehr Interesse dafür aufbringen als ich und ist eine große Freundin von Günter Grass, der mich absolut kalt lässt.

Jetzt bin ich allerdings auch keine Trivialliteratur-Leserin. Wobei mich die Klassifizierung der Literatur in trivial und anspruchsvoll schon immer genervt hat - sie ist snobistisch und eitel. Ob U oder E ist mir relativ egal, wobei ich eben einen Anspruch an Bücher hege, was Tiefgang und Qualität der Sprache betrifft. Als mir im Wohnzimmer meiner Schwester "50 Shades of Grey" in die Hände fiel und ich es mal aufschlug, biss mir das sprachliche Missmanagement fies in die Nasenspitze, und ich klappte das Machwerk wieder zu. Es gibt Dinge, die ganz ungeachtet vom Inhalt (der mich auch nicht interessierte) einfach nicht auszuhalten sind. Ich bin also immer auf der Suche nach guter Lektüre, und Freundin I. ist mir in dieser Hinsicht eine gute Quelle für Rat und Tipps. Sie lieh mir bereits auszugsweise den Inhalt ihres Bücherregals, und wir starteten mit Stewart O'Nan. Seine Romane zu lesen bereitete mir ein ausgesprochenes Vergnügen, und gerade liegt auf dem Bücherstapel neben meinem Bett Emily, allein, einer der wenigen, die ich noch nicht gelesen habe. Im Bücherflohmarkt der Bibliothek war außerdem für einen Euro Das Glück der anderen abzugreifen - es verlieh sich wohl nicht oft genug.

Mit Freundin I. habe ich also jemanden für gute Lektüre-Hinweise, und bislang hat sie noch nicht daneben gelegen. Aber was macht man noch, wenn man gute Lektüre sucht? Weil Bücher wie Persönlichkeiten sind, die sich mit dem eigenen Charakter nicht immer vertragen, ist es schon gut, sich auf jemanden verlassen zu können, der einen selbst gut genug kennt, um raten zu können. Deshalb verzichte ich grundsätzlich darauf, mir Rezensionen bei Amazon durchzulesen. Schon allein, dass die Rezension so überdurchschnittlich häufig zur Rezession mutiert, klappt mir die Zehennägel hoch. Da wird der Inhalt nacherzählt wie in Schulaufsätzen, sich darüber beklagt, dass in manchen Büchern "gar nichts passiert", es werden Wendungen verraten und manchmal geht auch schon ein schlichtes "Ich fand das Buch nicht gut!" als Rezension durch. Mich gruselt es. Also lasse ich es lieber.

Es gibt beinahe nichts Schöneres für mich, als mit richtig viel Zeit in die städtische Bücherei zu gehen. Ich muss mir keine Gedanken machen, ob ich mir ein Buch leisten kann, ich kann es gleich mitnehmen, wenn es mich interessiert. Bücherei ist ein Bonbon, und es fällt mir häufig schwer, mich selbst zu beschränken angesichts der guten Auswahl, die die Bibliothek meiner Stadt bereithält. Aber nach welchen Kriterien wähle ich aus? Bei Sachbüchern ist das simpel, da gehe ich nach Interessenlage.

Bei Romanen fesselt mich manchmal ganz einfach der Titel. So geschehen bei Ian McEwans Der Zementgarten, das ich neulich entlieh, ohne mir den Klappentext zuende durchgelesen zu haben und das innerhalb von drei Abenden verschlungen war. Ein Wahnsinnsding, dicht und düster und trotzdem irgendwie lebendig. Der Verzicht auf den Klappentext hat sich allerdings als essentiell herausgestellt. Denn der war erstens grottenschlecht flapsig geschrieben, zweitens verriet er einen Großteil des Inhalts, ohne ihn jedoch drittens korrekt wiederzugeben.

Lesen Klappentexte-Texter eigentlich, was sie in Klappentexten treffend beschreiben sollen? Manchmal scheint es mir, das ist nicht der Fall. Ich bin mit der Materie nicht vertraut, aber vielleicht gibt es ja in Verlagen auch Leute, die für Klappentexte-Texter Zusammenfassungen erstellen, anhand derer die Klappentexte-Texter dann ihre Klappentexte texten. Das ist dann wie Stille Post - die Hälfte der Information geht unterwegs verloren. Die Atmosphäre eines literarischen Werks ohnehin.

Wenn ich mal wieder auf der Suche nach wirklich guten Büchern durch die Regale der Bibliothek wandere und mal das eine, mal das andere zur Hand nehme, sind es die Klappentexte, die mich oft abschrecken und dafür sorgen, dass die das jeweilige Werk stehen lasse. Das mag auch daran liegen, dass ich mich nicht für die ungewöhnlichen, abgehobenen Geschichten interessiere, sondern für die, die Menschen passieren, die so real wie Du und ich sein könnten. Stewart O'Nan ist ein Meister im Erzählen solcher Geschichten. Aber ich kann nicht mein Leben lang nur O'Nan lesen, denn so schnell kann der arme Mann gar nicht schreiben, wie ich ihn lesen möchte. Außerdem isst man nicht jeden Tag Sachertorte.

Als Online-Rezensionsverweigerin bin ich also bei dieser saloppen Suche vorm Regal eben angewiesen auf gut verfasste Klappentexte, die mich auf den Haken zu nehmen verstehen und mich dann auch vor der Enttäuschung bewahren, dass der gelesene Roman schließlich - wie im Fall des Zementgartens - nur wenig mit der Beschreibung auf seiner Rückseite zu tun hatte. Komplett überflüssig erscheinen mir desbezüglich auch Zitate aus den Medien ("Ein Meisterwerk!", "Das ist ganz große Literatur!"), die zur Bewerbung des jeweiligen Buches den Klappentext teilweise oder ganz ersetzen. Das ist riesengroßer Käse. Nur, weil der Feuilletonist irgendeiner namhaften Wochenzeitung etwas für ein Meisterwerk hält, sagt das noch nichts über Qualität aus und schon gar nichts über den Gegenstand einer Erzählung. Allerhöchstens etwas über den Klappentexter, nämlich, dass er faul war.

Ich frage mich insgeheim, wie viele wirklich gute Bücher ich bereits in der Bibliothek habe stehen lassen, weil mich der Klappentext so sehr abschreckte. Zum Teil wirken Klappentexte wie die Alltagserzählungen von Zweitklässlern. Und dann..., und dann..., und dann... Ich muss in einem Klappentext auch nicht die gesamte Handlung präsentiert bekommen. Wenn ich hinterher bei der Lektüre nach einem Drittel des Gesamtumfangs plötzlich feststelle, dass - aha - da jetzt die auf dem Umschlag angekündigte dramatische Wendung kommt, dann hat das einen schalen Beigeschmack. Am schlimmsten finde ich aber die hanebüchene Stereotypisierung der Charaktere, die im Werk selbst viel breiter und wesentlich weniger vorhersagbar angelegt sind. Seichte Protagonisten stoßen mich ab. Ich mache wahrscheinlich bei all dem den Fehler, tatsächlich zu glauben, die Protagonisten seien so seicht, wie es der Klappentext schildert. Aber ich kann das Buch ja nicht schon in der Bücherei zu lesen beginnen, sonst schließen die mich abends ein, ohne es zu merken. (Ich kann mir allerdings schlimmeres vorstellen, als in einer Bibliothek eingeschlossen zu sein.)

Was nun? An Klappentexter appellieren, vorher zu lesen, worüber sie schreiben? Sich mehr Mühe zu geben? An ihren eigenen sprachlichen Qualitäten zu feilen und diese auch einzusetzen? Würde vermutlich wenig helfen. Vielleicht wäre es besser, vom Klappentext gleich auf die erste Seite zu springen und selbst zu sehen, ob die Sprache des Autors und seine Idee mich zu fesseln vermögen. Oder doch noch eine gute Quelle für fundierte, sorgfältige Rezensionen aufzutun, die nicht spoilern. Oder weiterhin Freundin I.s reichlich gefülltes Bücherregal in Anspruch zu nehmen. Mit Algorithmen wie "Kunden, die xxx gekauft haben, bestellten auch yyy" kann ich rein gar nichts anfangen, das erwies sich schon in Sachen Musik. Und was soll auch eine Aussage wie "Schreibt so ähnlich wie..." schon bedeuten? Entweder, jemand schreibt so, wie er schreibt, oder er lässt es besser bleiben.

Mal sehen, ob mir in nächster Zukunft ein Buch unterkommt, nach dessen Lektüre ich über den Klappentext sagen kann: "Ja, genau!" Der unbesungene Held, der gute Klappentexter, hätte sich dann einen Preis verdient. Entscheidet doch, was er schreibt, zwischen "Oh, wie interessant, nehme ich mit!" und "Och nö, langweilig, lass mal lieber...", und damit über die Erschließung neuer Universen oder verschwendete Zeit.

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Montag, 2. Dezember 2013
Erledigt.
Abschlägige Bescheide braucht die Agentur für Arbeitsverhinderung auf gestellte Anträge gar nicht zu verfassen. Man lässt einfach alle relevanten Termine verstreichen und übermittelt dann dem "Kunden" die frohe Botschaft, dass die Ansprüche abgelaufen sind.

Sämtliche Fortbildungsoptionen haben sich erledigt. Viertelstunde geheult. Jetzt wieder nach vorne sehen und gucken, was machbar ist.

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Dienstag, 19. November 2013
Und ich frage mich so...
... wie das wohl wäre, wenn Du tatsächlich Recht hättest. Also, das Recht, das zu haben Du immer für Dich in Anspruch nimmst.

Wie wäre das, wenn Deine Gedanken Gesetz wären, wenn Du Deine Vorstellungen durchsetzen könntest, ohne eine Strafe fürchten zu müssen, ohne Dich rechtfertigen zu müssen?

Wärest Du ein glücklicherer Mensch? Wäre diese Welt eine bessere Welt, wenn Du immer unwidersprochen bliebest, wenn alle Deiner Idee folgten? Wie fühlte es sich an, für Dich und für andere, wenn Du die schlichte Wahrheit in Deinen Worten und Taten für alle anderen verständlich machen könntest, ganz ohne Kämpfe und Krämpfe? Wie wäre es, wenn sich der Stachel der Andersartigkeit nicht mit jedem Schritt tiefer in Deine Sohle bohrte?

Wie wäre es, wenn endlich jeder spüren könnte, was doch so klar auf der Hand liegt: dass Deine Perspektive die richtige ist? Kämest Du damit zurecht, nicht missachteter, missverstandener Außenseiter zu sein, sondern Dein Rufen in der Wüste endlich erhört zu wissen? Wie wäre es wohl, wenn nicht nur einige, sondern wirklich alle ohne Ausnahme auf Deiner Seite stünden? Schön?

Kämst Du klar ohne Widersacher, ohne Widersprecher, ohne Kontrahenten? Fühlte sich die Zustimmung nicht irgendwann schal an, nähme sie Dir nicht die Aura des Besonderen, machte sie Dich nicht profan? Zerfiele nicht der brennende Wunsch nach vollständiger Bestätigung in dem Moment seiner Erfüllung zu Staub und Asche?

Frage ich mich nur mal so.

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Donnerstag, 7. November 2013
Wer werde ich sein?
So schnell, wie die Meldung auftauchte, war sie auch wieder vom Tisch. Gewundert hat es mich überhaupt nicht, dass der Herr Friedrich gern die Bewegungsprofile aller deutschen Autofahrer hätte, um mit ihrer Hilfe "Kapitalverbrechen" aufzuklären. Aber als ich das las, griff mir eine eiseskalte Hand ums Herz und es überkam mich ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. In dem Moment wusste ich, wenn er das wirklich will, dann wird er es auch umsetzen. Gegen meinen Willen, gegen den anderer Menschen. Da kann in irgendwelchen Datenschutzvereinbarungen noch so viel drin stehen, das ändert gar nichts.

Ich mache mir in der Hinsicht nicht die geringsten Illusionen. Und ganz ähnlich wie in Sachen NSA bin ich davon überzeugt, dass auch innerdeutsch gemacht werden wird, was gemacht werden kann. Dass sich in diesem Falle die SPD quergestellt hat, bedeutet letztlich nur, dass die Angelegenheit aufgeschoben ist. Wir benötigen lediglich einen ausreichend schwarz gezeichneten Präzedenzfall, ein wirklich übles "Kapitalverbrechen", anhand dessen dann der Bevölkerung das richtige Maß Angst eingejagt werden kann. Das "Supergrundrecht Sicherheit" lässt sich am Besten in den Köpfen der Menschen verankern, wenn man vorher so richtig den Teufel an die Wand malt. Dann ist es auch ganz egal, ob sich die beschriebenen Methoden schließlich tatsächlich zur Fahndung und Ahndung der postulierten "Kapitalverbrechen" verwenden lassen. Man kann zuverlässig damit rechnen, dass die Menschen alles tun wollen, damit es nicht zu schrecklichen, dramatischen Vorfällen kommt. Niemand will sich vorwerfen lassen, schlimme Szenarien ignoriert oder leichtsinnig zur Seite geschoben zu haben. Dann lieber Netz und doppelter Boden. Man kann ja nie wissen.

Der fünfte November ist gerade wieder zwei Tage her, und Freund J. macht uns jedes Jahr unter dem Betreff Remember, remember... wieder darauf aufmerksam, indem er die prächtig treffende Fernsehansprache des "V" aus "V wie Vendetta" zitiert.

"Grausamkeit und Ungerechtigkeit, Intoleranz und Unterdrückung - wo man einst die Freiheit zu Widersprechen besaß, zu denken und zu reden wie man es für richtig hielt, hat man nun die Zensoren und Überwachungssysteme, die einen zu Konformität zwingen und zur Unterwerfung führen. Wie konnte es dazu kommen? Wer hat Schuld? Nun, sicherlich hat manch einer mehr zu verantworten als andere, und der wird auch zur Rechenschaft gezogen, doch um ehrlich zu sein, wer einen Schuldigen sucht, der muss nur in den Spiegel sehen."

Mir stellt sich die Frage, wer wir sind, genauer, wer ich bin, wenn ich in einem solchen Staat, in einer solchen Welt lebe. Ist es tatsächlich meine Bequemlichkeit, meine Resignation, meine Angst, die mich hindert, den Mund aufzumachen gegen diese Unmenschlichkeiten? Ja, was eigentlich? So schnell schleicht sich der Gedanke ein, es nütze ohnehin nichts, man renne sich sowieso nur den Kopf ein, weil "die da oben" machen, was sie wollen. Muss ich wirklich nur in den Spiegel sehen, um in die Augen der Schuldigen zu blicken? Ich fürchte, so ist es.

Die Idee von totaler Gefahr, totaler Überwachung und totaler Sicherheit saugt sich in unseren Köpfen fest wie ein Parasit. Sie verwandelt uns von selbständigen Menschen in abhängige Kinder, und wir fürchten uns brav. Wir fürchten uns nicht allein vor den heraufbeschworenen Drohungen von außen, personifiziert durch Terroristen, Kriminelle, Kinderschänder, Industriespione, Betrüger, Schlägertypen, Schießwütige und Islamisten. Die wahre Furcht geht noch viel weiter, und ich hasse, was sie mit uns macht. Der Satz "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten!" steht über dieser Furcht wie eine Überschrift. Wir fürchten, nicht rechtschaffen genug zu sein, wir fürchten uns, den Mund aufzumachen, wir fürchten, lächerlich gemacht zu werden, wenn wir protestieren. Wir fürchten uns vor Nonkonformismus und davor, anderen als Feindbild zu dienen. Wir fürchten uns vor noch zu schaffenden Straftatbeständen, gegen die wir unbewusst verstoßen könnten. Wir fürchten uns davor, allein auf weiter Flur zu stehen. Wir fürchten uns davor, geächtet zu werden, Unrecht zu haben, ins Kreuzfeuer zu geraten. Wir fürchten uns davor, die Kälte zu spüren, die außerhalb unserer heilen, sichergeredeten Welt herrscht. Wir fürchten, uns in Frage stellen zu müssen. Wir fürchten um unseren Wohlstand und unsere Geborgenheit.

Sich mitten in diesem Angstgebäude zu befinden ist unverträglich mit Freiheit. Der Gedanke, ein Mensch zu sein, der alles machen, denken, alles sagen kann, ist eine Illusion. Persönlichkeit ist eine Illusion. Freier Wille ist eine Illusion. Wir sind unfrei. Und dennoch ist es so, wie V in seiner Rede sagt: "Auch, wenn man den Schlagstock anstelle eines Gesprächs einsetzen kann, werden Worte ihre Macht behalten!" Das setzt natürlich voraus, dass diese Worte auch jemand ausspricht und sie nicht ertrinken in dieser giftigen Suppe aus Lethargie, Resignation und Angst.

Es wird eine Zeit kommen, in der unsere Regierung das von Herrn Friedrich in den Ring geworfene Verfahren umsetzt. Auch, wenn er diesen Gedanken nicht erschaffen hat, ist es ihm zu verdanken, dass er vielen Menschen nicht absurd, sondern gerechtfertigt erscheint. Wenn er sein rundes Onkelgesicht in die Kamera hält und über Sicherheit schwadroniert, dann sind die Menschen nur zu gern bereit, ihm zu glauben. Komm in Papis Arme, ich pass auf dich auf!

Als nächstes dann wird der Begriff "Kapitalverbrechen" neu definiert - schleichend vielleicht sogar, ohne dass man es so richtig realisiert. Die Gruppe derer, die als potentielle Verbrecher durchgehen, wird sich vergrößern. Die Angst wird sich vergrößern. Auch und vor allem die Angst, irgendwann selbst Opfer einer Definitionswillkür zu werden. So hält man den Mund.

Es ist bei all dem nur konsequent, dass Herrn Snowden kein Asyl in Deutschland gewährt wird. Vordergründig werden geltende Asylgesetze zur Begründung herangezogen, in Wirklichkeit aber geht es um etwas ganz anderes. Die deutsche Regierung will es sich natürlich nicht mit Amerika verscherzen. Wäre man wirklich souverän, dann müsste man nicht so feige sein und um das Wohlwollen anderer betteln, sondern würde deutlich machen, dass man dem anderen nicht mehr wohlwollend gegenübersteht. Deutschland bleibt zum einen immer das Kind, Amerika der große Papa, der belohnt, straft, missbilligt oder fördert. Dahinter steht aber nicht nur die Sorge, man könnte mit einem Mal wirken wie ein undankbares Kind, das das geschenkte Care-Paket bereits fünf Minuten nach dem Auspacken vergessen hat. Ich bin der Überzeugung, dass der deutschen Regierung ganz glasklar ist: Was man am anderen verurteilt, kann man nicht selbst praktizieren. So verkneift man sich, aller Empörung über das abgehörte Kanzler-Handy zum Trotz, allzu scharfen Protest, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu geraten, wenn man mit den eigenen Bürgern ganz genau dasselbe macht. Gelernt hat man von den Besten. Das mit den Skrupeln kriegen wir auch noch in den Griff.

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Montag, 4. November 2013
Glücksfall
Mehr und mehr betrachte ich mein Ausscheiden aus meiner alten Firma als einen Glücksfall. Der Gatte berichtet mir Tag für Tag vom Wahnsinn, der dort stattfindet. Wobei Wahnsinn noch ein Euphemismus ist.

Sie wollten mich wieder zurück, weil sie festgestellt haben, dass das Arbeitsaufkommen so nicht zu bewältigen ist. Halbtags, oder in geringfügiger Beschäftigung. Oder vielleicht auch von zuhause aus. Oder unter der Hand, irgendwie neben, hinter, unter, zusätzlich zu meinem Arbeitslosengeld. Taten sich schwer damit, zu akzeptieren, dass ich andere Optionen habe und prüfe.

Ich will was mit Perspektive, und dann bitte Vollzeit, und ohne dass ich mich als Fußabtreter behandeln lassen muss. Jetzt suchen sie anderweitig. Äußerten aber, man nehme an, die Einarbeitung in mein altes Tätigkeitsfeld würde wohl nicht allzu lange dauern und sei für manche Personen doch wohl eher eine Unterforderung. Wieder mal wird deutlich, dass mein früherer Betrieb überhaupt nicht wusste, was ich wirklich gemacht habe. Obwohl der Boss seinen Hermann unter mein Arbeitszeugnis gesetzt hat, in dem sauber aufgeschlüsselt stand, was ich machte. Nun ja, ich ging auch nicht davon aus, dass er es gelesen hat. Nicht er.

Die täglichen Berichte des Gatten und meines Ex-Vorgesetzten zeigen mir, dass es richtig war, zu gehen, auch wenn ich mich nicht aktiv dafür entschieden habe. Dort wieder einzutreten, käme dem puren Masochismus gleich. Inzwischen hat man sich nämlich auch noch an anderen Mitarbeitern auf unschöne Art die Füße abgetreten. Andere gingen freiwillig, und ich verstehe sie. Gift wabert in der Luft, und selbst sehr entspannte Menschen haben inzwischen ihren Kaffee auf. Man hört und sieht ja einiges. Auch zwischen Zeilen.

Die innere Kündigung haben sie mir abgenommen. Glücksfall. Danke dafür!

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Donnerstag, 31. Oktober 2013
Reproduktionsdruck
Eine Mitschülerin aus meiner Niederländisch-Klasse, geschätzt vielleicht Mitte vierzig, besucht mich neulich überraschend zu hause. Da stellt sie dann irgendwann auch die Frage, ob mein Mann und ich Kinder hätten. Sobald ich diese Frage wie gehabt mit "nein" beantworte, bekommt ihr Blick etwas leicht Mitleidiges, also schiebe ich direkt hinterher, dass wir keine wollen. Der Tonfall des Schweigens wechselt von betreten zu massiv unangenehm.

Ich hasse es, deswegen dauernd in der Rechtfertigungsecke zu stehen. Plötzlich ist mein Alter wichtig. Ich bin 37. "Da musst du dich dann auch ranhalten, wenn du noch welche willst!", sagt sie. Und ich möchte schreien. Ich! Will! Keine! Kinder! Verdammt noch mal! Aber ich tue es nicht, denn ich bin ja sozialverträglich und nett und druckse lieber herum, dass das ja nicht bedeute, dass ich kinderfeindlich sei, aber dass ich eben nie den Wunsch danach verspürt habe. Ich bin eine feige Sau. Ich sollte deutlicher werden, aber ich lasse es.

"Kann ja noch kommen. Eine Freundin von mir hat mit Anfang vierzig plötzlich...!" Ich bin nicht deutlich genug.

Es ist ein ganz blödes Gefühl, immer wieder so nachdrücklich vor Augen geführt zu bekommen, dass man sich außerhalb der gesellschaftlichen Norm bewegt. Dabei ist offen geäußerte Ablehnung oder gar Hass eher die Ausnahme. Grundsätzlich herrscht eher diese leicht skeptische Haltung vor, ob man als Frau mit funktionierenden Reproduktionsorganen und im fruchtbaren Alter wohl ganz richtig im Kopf sei, wenn man sich nicht vermehrt. Einfach so akzeptieren können viele diese Haltung nicht. Da wird einem dann mal kurzerhand ein Psychoknacks angedichtet, die eigenen Eltern betrauern ihre nie geboren werdenden Enkel. Freiwillig kinderlosen Frauen spricht man die eigene Entscheidungsfähigkeit ab, weil sie ja garantiert nur dem Mann nachplappern, mit dem sie zusammen sind. Ihnen wird unterstellt, ihre weibliche Identität zu verleugnen, weil die nun einmal das Muttersein mit einschließe.

Dergleichen Vorurteile wabern durch den Raum, und bei aller Kritik, die an klassischen Familienkonstellationen auch öffentlich geäußert wird, gilt es dennoch nach wie vor spürbar als "normal", dass sich Frauen Kinder zu wünschen haben. Wenn eine Frau keine Kinder hat, dann lässt sich das mit allem möglichen entschuldigen: nicht zu können, nicht den "richtigen" Mann gefunden zu haben, erst eine Ausbildung abzuschließen, die finanzielle Belastung zu scheuen, keine Betreuungsmöglichkeiten zu haben - womit auch immer. Aber nicht damit, nicht zu wollen. Argumentiert wird, der Kinderwunsch sei doch ganz natürlich. Es wird der Trugschluss bemüht, dass das, was natürlich ist, auch gut sei, und das für alle Menschen gleichermaßen. (Wobei - mit Verlaub - auch überhaupt erst einmal definiert gehört, was insbesondere im psychischen Bereich natürlich zu bedeuten haben soll.)

Den Blödsinn bin ich wirklich Leid. Sobald ich sage, ich will nicht, werde ich nicht mehr für voll genommen. Das hängt mir zum Hals heraus. Ich bin keine Rahel, die mit großen, feuchten Kulleraugen ihren Mann ansieht und sagt: "Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich!" Schnell ist gesagt, dass sich Kinderlose vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung drücken, aber ich sehe es genau umgekehrt. Bewusst keine Kinder zu bekommen zeugt von Verantwortung. Der Druck, der gesellschaftlich in dieser Sache ausgeübt wird, ist nicht zu unterschätzen. Menschen, die dennoch nicht klein beigeben und die Reproduktion allen blöden Unkenrufen zum Trotz verweigern, die entscheiden sich bei vollem Verstand. Es wäre wahrlich keine gute Grundlage für eine Entscheidung, sagte man: "Das machen aber alle so!"

Ich kann gut damit leben, dass man mir mitunter das Wort verbietet, wenn es in Diskussionen um Kindererziehung und Elternschaft geht. Ich habe verstanden, dass Menschen der Meinung sein können, die Tatsache, dass ich meine Gebärmutter niemals benutzt habe und benutzen werde, disqualifiziere mich in diesen Fragen. Schließlich habe ich meine Meinung zu diesen Dingen lediglich aus einer Geisteshaltung heraus entwickelt, nicht aufgrund der Erfahrung, schon mal Mutter gewesen zu sein. Das ist natürlich ein Totschlagargument. Ich kann dann die Beine hochlegen und mir die Hand vor den Mund halten beim Gähnen, weil dieses Argument so ausgelutscht ist, und weil ich weiß, dass sich weitere Diskussionen ohnehin erübrigen, weil es gar nicht um Austausch geht. So weit, so gut.

Pampig werde ich, wenn sich jemand anderes die Deutungshoheit über mein Leben oder meinen Charakter anmaßt, nur weil ich mich entschieden habe, keine Kinder zu bekommen. Fehlerhaft, egoistisch, ein Sozialschmarotzer, ein karrieregeiles Mannweib, eine Neurotikerin, keine richtige Frau - das sind ja nur ein paar der Etiketten, die man auf die Stirn gepappt bekommt.

Ich genieße mein Leben so, wie es ist. Ich wüsste nicht, warum Kinder in meinem Leben eine Rolle spielen sollten. Es mag sein, das eigene Kinder etwas Wunderbares sein können, aber es gibt keinen zwingenden Grund, warum sie das für alle Menschen gleichermaßen sein sollten. Es mag sein, dass eine Frau über die Potenz verfügt, zu gebären, aber wir sind zum Glück aus den Zeiten heraus, in denen es zwangsläufig irgendwann dazu kommen muss. Ich gebe zu, ich genieße meine Freiheit. Ich genieße es, kein Kindergeschrei um mich herum zu haben. Ich genieße es, dass nicht dauernd jemand etwas von mir will. Ich genieße es, Raum zur Verfügung zu haben, der von niemandem okkupiert werden kann, wenn ich es nicht will. Ich genieße es, nicht die enorme Verantwortung zu tragen, die Kindererziehung bedeutet. Ich breche nicht in "Oh, wie süß!"-Schwärmereien aus, wenn man mir einen Säugling vor die Nase hält, auch wenn ich dem Umgang mit Kindern durchaus etwas abgewinnen kann (und sie übrigens auch dem Umgang mit mir).

Mein Leben ist ausreichend reich, und mein Leben ist ausreichend kompliziert. Ich muss es nicht komplettieren, vervollständigen, es gibt keine Löcher zu stopfen, keine Defizite zu füllen, Kinder fehlen mir nicht. Ich besitze keinen Muttertrieb - aber auch das lässt sich wieder nur als Defizit formulieren, als etwas, das mir abgeht. Das ist nicht so. Ich fühle mich frei. Deswegen mag ich auch die englische Bezeichnung childfree, die die ganze Angelegenheit der Kinderlosigkeit endlich einmal so formuliert, dass nicht ein Mangel im Vordergrund steht. Würde man aber sagen, dass man kinderfrei sei, dann wäre einem der Shitstorm hierzulande sicher.

Ich bin froh, dass es in meinem Freundeskreis viele kinderfreie Menschen gibt, sie sind zahlreicher als die Eltern. Das bedeutet nicht, dass ich ein Problem mit Kindern oder mit Eltern generell habe (und es ist auch ätzend, das wieder extra betonen zu müssen). Es ist einfach angenehm, Mitmenschen zu haben, denen gegenüber man sich eben nicht erklären muss. Sie sind selbst zu einer ähnlichen Entscheidung gelangt und erwarten daher keine Rechtfertigung, sondern sie verstehen. Akzeptanz ist das Gegenteil von Vorverurteilung und das einzig wirksame Mittel dagegen. Ebenfalls ist es angenehm, Menschen zu kennen, in deren Gegenwart man Eltern kritisieren kann, ohne dass das sofort einem Affront gleichkommt, weil sich Leute mit Kindern davon auf den Schlips getreten fühlen. Es tut gut, in einer Atmosphäre zu diskutieren, in der einem eben nicht die Erlaubnis entzogen wird, sich über das Verhalten von Eltern und ihren manchmal wirklich unmöglich erzogenen Kindern zu äußern, nur weil man selbst keine Kinder großzieht.

Diese Freunde sehen mich nicht als hartherziges, verkniffenes, karrieregeiles und sozial unfähiges Biest. Sie machen den Charakter nicht fest an der Reproduktionsquote. Und sie kommen auch nicht mit solch blöden Sätzen. "Ja, ja, wart nur ab, du wirst dir irgendwann auch noch mal wünschen, Kinder gekriegt zu haben!"

Wäre ich allein mit meiner Entscheidung zur Kinderlosigkeit, dann wäre die Lage ganz entspannt. Aber leider ist es so sehr Norm, in meinem Alter Kinder zu haben oder voller Panik die biologische Uhr ticken zu hören, dass ich mich immer wieder daran reiben muss. Das fängt bei solchen Gesprächen wie dem mit meiner Mitschülerin an und hört leider bei politischen Debatten um die finanzielle Mehrbelastung der Kinderlosen nicht auf. Man stößt sich den Kopf auf an so platten Parolen wie "Kinder sind unsere Zukunft!", weil einem damit unterstellt wird, kein Interesse an der Zukunft zu haben. Das geht so weit, dass auch mir manchmal der Arsch auf Grundeis geht. Nicht etwa, weil ich tatsächlich an meiner Entscheidung gegen eigene Kinder zweifle. Ich fühle mich rundum wohl mit ihr und weiß, dass es so für mich passt. Das Problem ist, dass man gesellschaftlichen Druck nicht ignorieren kann. "Die Gesellschaft" als solche ist natürlich ein reichlich diffuser Begriff, aber das macht die Kategorisierung in "normal" und "unnormal" nicht weniger spürbar. Man braucht bisweilen schon ein recht kräftiges Kreuz, um mit der Tatsache umzugehen, dass man als unnormal gilt. Da bleiben manchmal Gelassenheit und Souveränität auf der Strecke, und das nicht etwa zum Schaden der anderen, sondern immer zum eigenen.

Die Normen über Bord zu werfen und einfach zu leben, wie man es selbst will und für richtig hält, ist ein hehres Ziel, das man der Ressentiments anderer wegen nicht über Bord werfen sollte. Ich würde mir nur wünschen, dass diese ermüdende Mühle mal stillstünde und die Notwendigkeit entfiele, in dieser Angelegenheit immer bloß der herrschenden Meinung die Stirn zu bieten.

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Samstag, 19. Oktober 2013
Gender-Chips
jetzt wieder an der Kasse lösen
Das ist so dermaßen blöd, dass man sich schon beinahe gar nicht mehr so richtig drüber aufregen kann. Die ganze Sache mit der Frauen- und Männerbratwurst zur Grillsaison war schon stumpf genug, aber gerade beim Einkauf rieb ich mir dann doch die Augen. Ein Chipshersteller vertreibt jetzt auch noch "Mädelsabend"- und "Männerabend"-Chips. "Mädelsabend" hat die Geschmacksnote "Creamy Paprika" und kommt in der pinken Tüte (worin auch sonst), "Männerabend" hingegen (auch eine echte Überraschung) mit dem Geschmack von rauchigem Fleisch. Damit es auch jeder noch so bräsige Kunde kapiert, sind außerdem auf den Tüten Symbole aufgebracht, auf denen jeweils eine durchgestrichene Frauen- oder Männerfigur zu sehen ist.

Chio wirbt mit dem Slogan "Chio weiß, was Frauen lieben und Männer wollen!" Ah ja. Frauen lieben, Männer wollen. Und Frauen sind zudem auch noch Mädels, während die Männer eben echte Kerle sind.

Ich stand einige Sekunden wie vom Donner gerührt vor dem im Supermarkt hübsch arrangierten Display und klatschte mir dann mit der flachen Hand deutlich hörbar vor die Stirn, was mir den irritierten Blick eines Herrn im gesetzten Alter eintrug, der gerade seinen Einkaufswagen an mir vorbeischob.

Mal sehen, wie viele Hersteller sich an der Idee noch abarbeiten, bis das alles den Biss verloren hat. Bleibt halt nur der Abnutzungseffekt, auf die Intelligenz der Verbraucher kann man ja gemeinhin eher nicht zählen. Ist schließlich alles genetisch, Natur, weil Steinzeit und so.

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