Sturmflut
Donnerstag, 27. September 2012
Das Ei des Anstoßes
Verehrter Herr Martenstein.

Jüngst veröffentlichten Sie in Ihrer Kolumne "Harald Martenstein" im Zeit-Magazin eine kleine Abhandlung über das neue Überraschungsei für Mädchen, das die Firma Fererro sich ausgedacht hat. Sehr zutreffend stellten Sie fest, dass die Aufregung um das pinke Glitzer-Ei sicher mit einkalkuliert gewesen sei und dass das in der Presse sicher viel mehr Aufmerksamkeit erregt hat, als dies der Fall gewesen wäre, hätte man sich schön brav halbwegs geschlechtsneutral verhalten wie bisher. Bad news are so much better than no news. Schon klar.

Aber Sie merkten an, dies sei ja nun wirklich auch alles nicht so wild. Schließlich wisse man ja, dass Kinder sich in einer bestimmten Phase ihres Lebens einfach ganz genau dem Geschlechter-Klischee entsprechend verhielten, und zu Schaden sei deshalb noch keine zarte Kinderpsyche gekommen. Sie schreiben: "Mädchen und Jungen möchten einfach ihre Identität finden. Wenn man der Natur ihren Lauf lässt, kommen am Ende verschiedene Geschlechter heraus, die sich, trotz vieler Gemeinsamkeiten, in ein paar Punkten unterschiedlich verhalten.

Damit mögen Sie sogar Recht haben, aber hat das rosa Ei tatsächlich irgend etwas mit der Natur zu tun, der man ihren Lauf lassen muss? Sie wittern in den Reihen der Kritiker die ach so bösen "Genderisten", die Gleichmacher, die Jungens das Spielen mit Puppen per Dekret verordnen möchten. Sie wittern die Entstehung von "Mauen" und "Frännern", wie sie das so fürchterlich wortoriginell in ihrem Artikel kundtun - nein sowas! Sie sehen die Menschen von morgen als schleimige, geschlechtslose Schnecken. Bis zum letzten Atemzug wollen Sie dagegen kämpfen, dass es so weit kommt.

Oha, und das alles als Ergebnis von Erziehung - von der sie aber zwei Absätze später behaupten, sie sei gar nicht dazu in der Lage, Menschen in andere Menschen zu verwandeln. Warum also all die Furcht? Der "Genderismus" kann demnach ja gar niemanden zur Schnecke machen.

Ihre "private Enthüllung" (Obacht!), dass Ihre Oma Ihnen Puppen zum Spielen gab, macht Ihre Argumentation auch nicht profunder. Denn schließlich ist die Ideologie, aus der heraus ihre Frau Großmutter dies tat, absolut zweitrangig. Fest steht, dass Sie trotz allem ein ganzer Mann wurden. Oder etwa nicht? Ein "Frann" oder gar eine Schnecke ist aus Ihnen, so man das aus der Distanz beurteilen kann, jedenfalls nicht geworden. Dass sie das allerdings für eine Enthüllung von Gewicht halten und dies auch betonen, zeigt wohl, dass Ihnen angesichts des Puppenspiels noch eine gewisse Restscham und Peinlichkeit geblieben ist. Schließlich machen echte Jungs sowas ja nicht. Oder?

Nun, zurück in die wunderbare rosafarbene Mädchenwelt. Bisweilen wundere ich mich darüber, dass mir überhaupt Brüste gewachsen sind, trug ich doch als Mädchen niemals Rosa, sondern die meiste Zeit braune oder blaue Latz- oder Kordhosen, buntes Selbstgenähtes und später Jeans. Ist Rosa nun tatsächlich etwas, das von selbst auf den Plan tritt, wenn wir der Natur ihren Lauf lassen, wie Sie das fordern? Wohl kaum.

Meine Identität als Frau hat auch nicht darunter gelitten, dass im Spiel mit meinem besten Kindergartenfreund ich grundsätzlich immer der wilde Pirat war und er das kleine Mädchen, das ich aus der Seenot rettete. Mein bester Kindergartenfreund wurde davon auch nicht schwul, jämmerlich, weibisch oder fing sich irgendwelche anderen vermeintlichen, an seiner männlichen Identität sägenden Makel. Er kriegte nicht mal einen Komplex. Wir waren wohl ganz ungewollt der Traum jedes "Genderisten", ganz freiwillig und ohne Druck. Das mag daran gelegen haben, dass wir in jenem glückseligen Zeitreservat der Siebziger und Achtziger aufwuchsen, als man nicht mehr sagte "Ein Mädchen/Junge macht das nicht!", aber noch nicht "So ist ein Mädchen, so ist ein Junge!" Wir waren einfach Kinder, und wir fanden unsere Identität, ohne dafür phasenweise Klischees leben zu müssen.

Ein Klischee ist nun aber wirklich nichts Natürliches, Herr Martenstein. Nicht, dass wer genauer hinsähe, auch diesen Farb-Alptraum für natürlich halten könnte. Wirklich nicht. Rosa ist der Geschlechterknast, in den die Mädchen gesperrt werden und die zarte Ausdrucksmöglichkeit, die den Jungen vehement verwehrt wird. Die heute allgegenwärtige Kennzeichnung der Spielzeuge und Kleider als "für Mädchen" und "für Jungen" war zwischenzeitlich mal beinahe verschwunden und wird nun bis zum totalen Überdruss reanimiert. Vielleicht, weil wir das Vage nicht mehr ertragen können, weil wir in all den Unsicherheiten das soziale Geschlecht als Rankhilfe benötigen, um für uns selbst klarzukriegen, wer wir sein sollen. Für Wollen ist bei dem ganzen Heckmeck allerdings kaum Platz.

Erheblich gelassener als Sie sah es vor mehr als 110 Jahren die Ärztin Anna Fischer-Dückelmann, der die folgende Erkenntnis aus der Feder floss:

"Die größeren Kinder, die mit mehr Verständnis spielen, lasse man recht oft im Freien sich ergötzen; an einem Bach, im Wald, auf einer Wiese, wo sie recht viel für ihren forschenden Geist, für ihre Tatkraft, ihre kindliche Phantasie finden, und an ein paar Käfern, an einem Maulwurfshügel, an dem schäumenden Wasser des Baches an einem Steinhaufen oder altem Holz unendlich viel Interessantes entdecken. Man sehe nur zu, wie glückselig oder tiefversunken sie dort spielen! Das ist gesund für Leib und Seele! Dort, in der freien Natur wächst ihr Können und ihre Erkenntnis, dort sind sie glücklich. Weit mehr als es geschieht, sollte auch kleinen Mädchen zu solchem Spiel Gelegenheit gegeben werden, statt ihren suchenden Geist im vorzeitigen Puppenspiel zu ersticken, das, wie es heute betrieben wird, vielmehr die Putzsucht und albernste Eitelkeit entwickelt, statt schlummernde mütterliche Gefühle zu wecken. Entschieden und kräftig spiele das Mädchen mit den Knaben, forsche, versuche, arbeite, streite und kämpfe mit ihnen; zur Pflege der Mütterlichkeit ist es noch Zeit. Zuerst muss doch auch das Mädchen ein voller, ganzer Mensch werden, bevor es an seine weiblichen Aufgaben denken soll. Dann werden uns andere Jungfrauen erblühen und kräftigere Mütter aus ihnen entstehen."

Haben Sie keine Angst vor Schnecken, Herr Martenstein. Wir Menschen werden immer Männer und Frauen bleiben. Ganz ohne dass man den Nachwuchs durch farbliche Markierung darauf konditionieren muss.

Quelle: Anna Fischer-Dückelmann, Die Frau als Hausärztin, Erstausgabe 1910. Hervorhebungen im Original.

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Montag, 17. September 2012
Imaginierte Instanzen, tote Propheten
Zur Zeit packt mich das kalte Entsetzen, wenn ich den Fernseher einschalte, um die Nachrichten anzusehen. Mir kocht die Wut bis in die Kehle und zugleich greift kalte Angst nach mir.

Was ist hier denn eigentlich los? Der religiöse Eifer wird immer fanatischer. Auf der einen Seite sind es durchgeknallte, radikal-fundamentalistische Christen und auf der anderen wütende, flaggenverbrennende Muslime. Alle Seiten fühlen sich gleichermaßen verachtet, verkannt, missbraucht, beleidigt, gedemütigt.

Wenn der Christ in seinem stillen Stübchen an unbefleckte Empfängnis glauben möchte und der Muslim an die unumstößlichen Worte seines Propheten, so ist das deren Bier. Sollen sie machen, können sie machen. Auch, wenn sie sich gegenseitig die Köpfe darüber heiß redeten, wer von ihnen denn nun im Recht sei, wer sich von wem beleidigt fühlen dürfe und in wessen Buch nun die einzige Wahrheit verzeichnet stehe - bittesehr. Natürlich muss sich über blaue Augen nicht wundern, wer sich auf des Fanatikers Parkett begibt.

Was mir wirklich Angst einjagt ist, dass vor diesem Hintergrund nun leider auch aus dem Munde meines (nicht von mir gewählten!) Staatsoberhauptes verlautet, die Meinungsfreiheit habe ihre Grenzen. Während Frau Rodham Clinton vollkommen nachvollziehbar argumentiert, es läge in der Natur eines freiheitlich-demokratischen Landes, dass jeder eben auch Geschmacklosigkeiten äußern dürfe, ohne dafür vor den Kadi gezerrt zu werden, stößt mir Frau Merkels widerliches Angebieder heftigst sauer auf. Die Dame hat nicht die Grenzen meiner Meinungsfreiheit zugunsten religiöser Eiferer zu verschieben.

Es gibt Rechte, um deren Unantastbarkeit wir uns immer und immer wieder bemühen müssen, und das der Meinungsfreiheit gehört genau so dazu wie das der körperlichen und seelischen Unversehrtheit und das der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ich habe schon mal an anderer Stelle geschrieben, dass meines Erachtens nach diese Rechte über dem der Religionsfreiheit stehen müssen, und zwar unverrückbar.

Jetzt werden diese Rechte schleichend aufgeweicht aus Furcht vor den Gewaltausbrüchen derer, die sich beleidigt fühlen. Es mag sein, dass ich da paranoid bin - ich habe aber zugleich den Eindruck, wir sind alle dahingehend nicht paranoid genug. Aus religiöser Toleranz - vielzitiertes Schlagwort dieser Tage, beinahe wie dereinst "Multikulti" - wird jetzt auf anderes verzichtet. Alles unter dem Schlagwort Religionsfreiheit.

Aber es ist ja auch so wichtig. Religiosität, die heilige Kuh, ist natürlich über jede Kritik erhaben. Wem seine Religion sagt, Frauen seien weniger wert als Männer, der muss das ja schließlich auch praktizieren dürfen - Freiheit der Religion! Wem seine Religion sagt, ein alter Mann im weißen Kittel und über ihm lediglich noch eine imaginierte Gottheit seien die einzigen Instanzen, vor denen er sich zu rechtfertigen habe, für den gelten eben keine irdischen Gesetze, und dessen Unrechtstaten brauchen vor keinem weltlichen Gericht gehört zu werden - Freiheit der Religion! Wer Menschen anderer Weltanschauungen in ihrem Wort beschneiden möchte, sollte das auch dürfen - Freiheit der Religion! Wer seinen seit Jahrhunderten längst begrabenen Propheten beleidigt fühlen möchte, sollte in dessen Namen auch Menschen töten dürfen. Was soll's - Freiheit der Religion!

Mir verbietet niemand im Namen einer solchen Religionsfreiheit das Wort, auch nicht "meine" Kanzlerin!! Ich käme zwar niemals auf die Idee, anderer Leute Propheten als Kinderschänder zu "verunglimpfen" oder gar darüber Filme zu drehen - ich finde das peinlich und unterbelichtet, aber dennoch: Würde ich es wollen, dann sollte ich es dürfen.

Denn als nächstes würde mir sonst verboten, mich auf jegliche (auch differenzierte!) Art mit den Religionen anderer auseinanderzusetzen. Als nächstes würde mir verboten, die Praktiken der katholischen Kirche zu kritisieren oder die Scheinheiligkeit in den Reihen der evangelischen. Als nächstes würde mir verboten zu äußern, dass ich Schleier und Kopftuch für Symbole der Unterdrückung halte. Als nächstes würde mir verboten, deutlich zu machen, dass ich das Kastenwesen der Hindus für menschenverachtend halte. Denn es könnte ja jemand das als eine Beleidigung empfinden.

Überhaupt: Beleidigung! In unserem Land muss sich niemand wüst beleidigen lassen - er kann sich deshalb an ein Gericht wenden und klagen. Für den Straftatbestand einer Beleidigung gibt es Eckpunkte, die hinreichend erfüllt sein müssen. Sie beziehen sich auf eine lebende und fühlende Person, deren soziale Kontakte, deren Ruf geschädigt werden können.

Aber Eure Propheten sind tot und begraben. Eure Schriften sind bloß Buchstaben auf Papier. Eure göttlichen Instanzen sind, da Ihr selbst sie nicht als imaginär betrachtet, in Euren Augen unantastbar. Was dort verletzt wird, sind doch gar nicht Eure Götter. Was Ihr verletzt seht, sind Euer Wertgefüge, Eure Lebenswelt, Euer Anspruch auf Wahrheit und Weisheit, Kontrolle und Macht.

Es muss erlaubt sein, diese nicht zu teilen, nicht übereinzustimmen, nicht Eurer Meinung zu sein. Scheich Hassan Nasrallah hat gefordert, der Prophet Mohammed und der Koran müssten auf der ganzen Welt respektiert werden. Falsch! Niemand muss Eure Götter respektieren, niemand muss Eure toten Propheten, niemand muss Eure Schriften respektieren.

Ihr könnt das unveräußerliche Menschenrecht verlangen, dass man Euch als Person respektiert. Dass Euch niemand einfach so ein Loch in den Kopf schießt, Euch niemand verbietet, hinzugehen, wo ihr wollt, dass niemand Euer Haus anzündet oder Euch ein blaues Auge schlägt, und dass niemand Euch vorschreibt, was Ihr zu sagen, zu singen, zu malen oder zu filmen habt, wie Ihr Euch kleiden und was Ihr essen sollt.

Wie groß muss Eure Verunsicherung sein, wenn Ihr so laut aufheult wegen eines Stückchens Zelluloid. Wie zart Eure Seelen, wenn ein schlecht gemachter Film ausreicht, um Euch aus der Bahn zu werfen. Wie gering mag wohl Euer eigener Glaube sein, wenn Ihr es nötig habt, die Schriften anderer zu verbrennen oder auf sie zu pinkeln, um Euch sicher zu fühlen. Wie klein ist selber, wer für andere nur Spott und Häme übrig hat und sich bewusst wunde Punkte sucht. Wie erwachsen seid Ihr denn eigentlich?

Niemandes Glauben darf über das Ausmaß der Freiheit der Menschen entscheiden und darüber, wie sie sich ausdrücken, worüber sie lachen und weinen, was sie zum Thema machen, was sie diskutieren. Schon gar nicht darüber, wer leben darf und wer sterben muss. Religionsfreiheit sollte die Freiheit des anderen von Eurer Religion sein.

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Mittwoch, 22. August 2012
Eine "rechtmäßige Vergewaltigung"
Dieser "Lebensschützer"-Haufen war mir schon immer suspekt. Das Phänomen für ein amerikanisches Problem zu halten, ist ein schwerer Fehler. Auch hierzulande werfen Abtreibungsgegner, viele von ihnen religiöse Fundamentalisten, mit Parolen um sich, dass es schäumt. Die harmloseste, beinahe schon charitymäßig daherkommende ist vielleicht "Mein Bauch gehört dir!" des Projektes 1000plus/pro femina, das auf seiner Internet-Seite den Besucher mit Idyllfotos von süßen Babys und schwangeren Bäuchen bombardiert und somit natürlich garantiert wertfrei informiert. Die wohl haarsträubendste ist die vom "Babycaust", die Abtreibende (Ärzte, Helfer und die Frauen selbst) als Schlächter bezeichnet, die eine Blutspur hinter sich herziehen. Der implizite Vergleich mit dem Holocaust ist natürlich sehr bewusst gewählt, und die radikaleren unter den "Lebensschützern" scheuen auch nicht die Behauptung, Abtreibung sei noch weitaus schlimmer als sämtliche von Hitlers Untaten zusammengenommen. Dass es bei solchen Vergleichen zwangsläufig knallen muss, ist klar und von den "Lebensschützern" durchaus auch so gewollt.

Dem Sittenverfall und dem völligen Mangel an Werten, den die "Lebensschützer" Abtreibenden attestieren, wird das Modell einer heilen, glücklichen, konservativen Familien-Lebenswelt entgegengestellt. Wer sich nach diesem Modell (und somit stets moralisch einwandfrei) verhält, kommt natürlich gar nicht erst in ungemütliche Situationen. Wer keusch bleibt bis zur Ehe, der braucht nicht zu Verhütungsmitteln zu greifen, und schon gar nicht zum Mittel der Abtreibung. Wer Gottes Gebot, sich zu mehren, ernst nimmt, braucht auch in der Ehe desgleichen Teufelszeug nicht. Wenn die Frau sich ganz dem traditionellen Rollenbild unterordnet, dann kann ihr nichts passieren, das den Zorn der "Lebensschützer" auf sich zöge. Die Maxime lautet also: "Werde selig nach meiner Façon, oder du bist eine Verbrecherin!"

In diese aus dem Ei gepellte Sauberwelt passt dann manchem auch nicht, dass es Umstände gibt, in denen für eine Frau das Austragen eines Kindes unzumutbar ist. Todd Akin, seines Zeichens republikanischer Abgeordneter aus Missouri, schoss den Vogel in Sachen Abtreibungsgegnerschaft endgültig ab. Er behauptete: Wenn eine Vergewaltigung eine "rechtmäßige Vergewaltigung" (legitimate rape) sei, dann weigere sich der Körper der Frau ohnehin stressbedingt, schwanger zu werden - die Frau habe also sozusagen eine eingebaute Sicherung. Mal abgesehen davon, dass das hanebüchener Unsinn ist, strotzt diese Behauptung nur so vor finsterster, widerlichster Menschenverachtung. Denn damit schubladisiert Akin alle Frauen, die nach einer Vergewaltigung abtreiben möchten, als Nicht-Opfer, als Betrügerinnen, als leichte Mädchen, die vermutlich nur die eigenen Fehltritte verschleiern und deren Folgen rückgängig machen wollen. Wenn rückschrittliche Idioten Opfern erklären wollen, wann sie Opfer sind und wann nicht, dann ist das Realitätsbeugung erster Güte, eine erneute Vergewaltigung und damit obendrein eine riesengroße Schweinerei.

Das Idealbild der Frau ist in solchen Kreisen immer das einer ihr Leid tapfer ertragenden heiligen Madonna, die alles, wirklich alles auf sich nimmt, um das Leben zu bewahren. Mehr und mehr schwant mir, dass es gerade in radikal-religiösen, erzkonservativen Kreisen besonders um Ressourcenkontrolle in Sachen Fortpflanzung geht. Das bedeutet, man muss die Frauen kontrollieren. So ist natürlich den Vertretern solcher Strömungen jegliches von ihren kruden Heiligenidealen abweichende Denken, Handeln und Fühlen der Frauen unheimlich, ja bedrohlich. Mütterlichkeit wird propagiert, Treue, Aufopferung und Unterordnung. Es soll tatsächlich Frauen geben, die sich in dieser Rolle wohl und sich dadurch geadelt fühlen. Ob das tatsächlich eine freie Entscheidung ist, steht auf einem anderen Blatt und soll hier jetzt nicht breitgetreten werden.

Das Feindbild der Konservativen ist inzwischen der Feminismus, der den Frauen den Floh ins Ohr gesetzt hat, für sich selbst bestimmen zu wollen. Umschrieben wird die Lage dann mit überzeichneten, vollkommen romantisierten Begrifflichkeiten. "Der Mütterlichkeit entfremdet" sind sie, die Frauen, mehrheitlich fehlt ihnen die "Wärme und selbstlose Liebe" und sie leugnen ihre "natürliche Bestimmung". Solches Geschwafel erzeugt mir Brechreiz. Alle Frauen, die die "edle Aufgabe", nur für andere zu leben, ablehnen, sind demnach gefühlskalt, egoistisch und eigentlich keine richtigen Frauen. Diese Aufgabe geht dann sogar so weit, das eigene Wohlergehen trotz Vergewaltigung zugunsten eines Embryos zurückzustellen.

In der ganzen Abtreibungsdebatte wird der Verzweiflung der Frauen überhaupt nicht Rechnung getragen. Sie werden nicht als fühlende, atmende Menschen begriffen, sondern als Funktionsträger, die gefälligst der Aufrechterhaltung althergebrachter Verhältnisse dienen sollen. Mir fällt besonders auf, dass in den genannten Kreisen extrem viel verurteilt, verängstigt, eingeschüchtert, moralisiert, gedroht und unter Druck gesetzt wird - mit subtilen und weniger subtilen Mitteln. Mal ist eine abtreibende Frau eine, die all das Potential, das ein Kind in sich trägt, regelrecht das Klo herunterspült und damit künftige Künstler, Kanzler, Genies, Primaballerinas und Mütter(!) am Leben hindert. Ein anderes Mal wird sie schlicht als kaltblütige und gewissenlose Mörderin abgestempelt, als eine, die es sich bequem macht und nur an sich denkt. Im schlimmsten, aber leider nicht seltenen Fall werden die Abtreibungsgegner sogar massiv gewaltätig und führen damit überdies ihre eigenen Forderungen ad absurdum, die ja angeblich den Respekt vor der Unversehrtheit und dem Leben anderer zum Inhalt haben sollen.

Wann immer diese Diskussion auflebt, ist sicher auch jemand mit von der Partie, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der immer wieder schwanger wird und Abtreibungen locker, flockig und entspannt vornimmt wie am Fließband. Mal davon abgesehen, dass ich das für so etwas wie eine urbane Legende halte, glaube ich ehrlich gesagt auch nicht, dass es sich die Mehrheit der Frauen so leicht macht mit Abtreibungen. Wer grundsätzlich Respekt für Menschen und ihre Gefühle aufbringt, zieht auch in Betracht, dass Scham und Schuldgefühle Menschen ebenso daran hindern, über eine Abtreibung zu reden wie die totale Verdrängung jeglichen Schmerzes, sei er nun seelischer oder körperlicher Natur. Das setzt aber eben voraus, dass man auch abtreibende Frauen als Menschen betrachtet, was den "Lebensschützern" insgesamt schwer zu fallen scheint.

Anstatt wirklich zu fragen, wie die Umstände für Frauen sein müssen, damit sie ihre Kinder trotz aller Widrigkeiten behalten, wird eine Schreckenskulisse aufgefahren, die vor Hass und Verachtung nur so sprüht. Die viel zu groß (zu alt) dimensionierten Plastik-Embryo-Puppen, die "Lebensschützer" immer wieder als Mittel verwenden, um das "Unrecht" zu verdeutlichen, sind nur ein Beispiel. Die "Lösungsvorschläge" der "Lebensschützer" orientieren sich nicht an der Lebensrealität der Frauen, sondern schlagen - moralinsauer und arrogant - immer wieder nur das eine, einzige, wirklich wahre und richtige Lebensmodell als Lösung vor. Das eigene. Sei keusch! Sei brav! Heirate und vermehre dich dann! Mach es, wie wir es sagen, nicht, wie du es willst!

Dagegen halte ich ein entwickeltes, starkes weibliches Selbstbewusstsein, das den Konservativen so ein Schreckensbild ist, für das einzige probate Mittel, um Abtreibungen wirklich vorzubeugen.

Den "Lebensschützern" geht es nicht wirklich um den Schutz von Leben. Es geht ihnen um die totale Kontrolle über den weiblichen Körper, über die Ressourcen der Frau und darum, sie für ihre Zwecke einzusetzen. Der Einsatz von Verhütungsmitteln und die gründliche Kenntnis über ihre Wirkweise beispielsweise wird nicht ausdrücklich befürwortet, oft aber sogar rundheraus abgelehnt, obwohl - nomen est omen - diese Mittel dazu taugen, ungewollte Schwangerschaften und damit auch Abtreibungen(!) zu verhüten. Sie haben aber den unangenehmen Nebeneffekt, dass sie der Frau die Angst nehmen, sie in ihrem sexuellen Handeln freier machen, dass sie althergebrachte Konventionen zerschlagen und Lust abgetrennt von Reproduktion ermöglichen. Ja, wo kommen wir denn hin, wenn die Frauen plötzlich tun, was sie wollen?

Akin fasst sich selbst als tapferer Widerstandskämpfer à la "Braveheart" auf, der seine Bastion bis zum letzten Blutstropfen verteidigt. Dabei verteidigt er nicht, er greift an. Errungenschaften, die 40 Jahre alt sind, werden wieder in Frage gestellt, und mit solchen Positionen erreicht er offenbar auch breite Bevölkerungsschichten. Obwohl Mitt Romney Akin für diese Aussage rügte und seinen Rücktritt von der Senatskandidatur fordert, habe ich doch nicht den geringsten Zweifel daran, wes Geistes Kinder die Republikaner eigentlich sind. In Deutschland haben die "Lebensschützer" und Abtreibungsgegner nicht ganz so viel politischen Einfluss, aber sie sind durchaus präsent. Problematisch dabei ist die Stigmatisierung ausgerechnet derjenigen Frauen, die sich ohnehin schon in einer Ausnahmelage befinden und seelisch wie körperlich viel zu verarbeiten haben, ganz gleich, ob sie abtreiben oder schwanger bleiben. Schleichend entsteht so eine Atmosphäre, die geprägt ist von Druck auf die Frauen, konservativen Rollenvorstellungen zu entsprechen. Medienwirksame Auftritte der "Lebensschützer" wie beispielsweise die "Gebetsprozession 1000 Kreuze für das Leben", die mit martialischen Symbolen den Schwangerschaftszwang propagiert, sind an widerlicher, moraltriefender Polemik kaum noch zu überbieten. Nicht umsonst heftet sich übrigens auch gern immer wieder die politische Rechte an die Fersen solcher Leute.

Wir bewegen uns zurück in Verhältnisse, in denen über die Frauen entschieden wird. Das degradiert sie zu Menschen zweiter Klasse. Das hatten wir schon mal und haben uns gerade erst mühsam da herausgestrampelt. Zudem ist das allzeit hochgehaltene Ziel "mehr Kinder" weitgehend unhinterfragt. Ohne das - so "wissen" wir ja schließlich alle - gehen unsere Renten den Bach runter, unsere Zukunft sieht düster aus, die Familie als "Keimzelle" der Gesellschaft löst sich auf, letztere verwildert und wirft ihre Werte über Bord und wir "überfremden" schließlich durch die Einwanderung von Menschen, die sich noch freiwillig zahlreich vermehren (das schlimmste Schreckgespenst von allen!). Was bleibt also, als die Frauen wieder zum Kinderkriegen zu zwingen?

Wie praktisch und bequem ist es doch, wenn man einfach den Frauen die Bürde der Verantwortung für den gesellschaftlichen Wandel aufdrücken kann. Dann braucht man sich den eigenen Defiziten nicht zu stellen. All der unverhüllte Hass und die Vehemenz, mit der Akin, "ProLife", die CDL und andere Konsorten in den Feldzug gegen die Abtreibung ziehen, sind ein Spiegel ihrer Verunsicherung und Angst angesichts der schwierigen Veränderungen und Herausforderungen der Gegenwart. Dass sie damit nicht anders umzugehen wissen, ist ein Zeichen ihrer Armseligkeit.

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Freitag, 17. August 2012
Zur Interpretation freigegeben
Die Bundeswehr darf jetzt auch im Inland, sagt das BVG.

"Bei einem Einsatz seien aber strikte Voraussetzungen zu beachten. Ein Einsatz zur Gefahrenabwehr sei nur zulässig bei "Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes". Insbesondere sei ein Einsatz nicht wegen Gefahren erlaubt, "die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen". Der Einsatz der Streitkräfte wie auch der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel sei zudem stets nur als letztes Mittel zulässig."

Es ist nun also in diesem Land erlaubt, es als Auslegungssache zu betrachten, was eine Ausnahmesituation, was katastophische Ausmaße, was Abwehr ist und was demonstrierende Menschenmengen sind. Vor allem aber, wann alle anderen Mittel ausgeschöpft sind und man zum "letzten Mittel" greifen darf. Dass man das darf, das an sich ist schon eine Katastrophe.

Wozu ist das Militär gut? Richtig, zum Töten. Das ist es, was das Militär vom THW unterscheidet und von der Feuerwehr: Die Waffe in der Hand. Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn Bundis Sandsäcke füllen oder Leute evakuieren. Die "militärischen Mittel" sind das Problem. In welchem Ausnahmefall darf nun geschossen werden, und auf wen? Welche Katastrophe rechtfertigt es, dass Militärs die Waffe gegen Angehörige ihres eigenen Landes wenden?

Dass der Finger am Abzug locker sitzt, besonders dann, wenn die Stimmung aufgeheizt ist und der Typ mit der Waffe sich diffus bedroht fühlt, das weiß man aus den Beispielen anderer Länder. Was, wenn es nun inlands zu einer "asymmetrischen Bedrohungslage" kommt? Doch plötzlich mal jemand seine Kanone als letztes Mittel auffasst?

Da wird im Ausnahmefall über Leben und Tod entschieden. Eine solche Entscheidung sollte nicht Interpretationssache sein dürfen, schließlich ist sie irreversibel.

Quelle: dpa

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Montag, 13. August 2012
Mitten ins Gesicht
Die allgegenwärtige mediale Dauerberieselung bringt zwangsläufig auch immer eine Menge Schund mit sich. Das ist der Grund, warum ich den Fernseher nur zum gezielten Anschauen öffentlich-rechtlicher Programme, Spielfilme und Serien von DVD oder Bluray nutze. Das minimiert immerhin den Einfluss von Werbung und Schwachsinn. Im Internet arbeitet für mich ein Adblocker, der dafür sorgt, dass ich nicht alle Naselang von irgendwelchen zappelnden Bildern angesprungen werde. Trotz dieser Maßnahmen passiert es aber sehr oft, dass ich doch eins in die Fresse kriege.

Seit April bin ich beispielsweise im Fitness-Studio angemeldet und besuche selbiges auch regelmäßig. Dort läuft auf mehreren Bildschirmen ein Programm mit Musikvideos. Während ich mich mittels Kopfhörer auf dem Crosstrainer gegen das unsägliche R'n'B-Gedudel (Bay-beeh, ohohoho, yeahahah, gotta love ya!) akustisch abschotten kann, ist das visuell leider nicht möglich. Ich habe die ganze Zeit zwei flimmernde Schirme im Blick. Mir springt der Sex regelrecht und unvermeidlich direkt ins Gesicht. Ich sehe Ärsche und Titten und rotgeschminkte Münder, die vor mir auf und ab tanzen, als führten sie ein Eigenleben. Frauen ausschnittweise. Die Röckchen verdienen nicht einmal mehr die Bezeichnung "Gürtel", man kann den Damen fast bis ins Innere ihrer Reproduktionsorgane gucken, prall gefüllte Dekolletés überlassen nichts der Phantasie. Da marschieren, stöckeln, tanzen, wackeln und schütteln sie, unbeirrbar und instinktfreundlich auf dem Silbertablett serviert. Jeden Montag und jeden Donnerstag dasselbe.

Ähnlich ist es mit der Werbung auf der Startseite unseres Blogger-Dorfes. Wo mir hier zuhause mein Rechner derartiges erspart und einen blogger.de-grünen Balken zeigt, kriege ich im Büro Werbung für Klamotten zu sehen (was mich nicht weiter stresst, weil ich meinen Konsum ganz gut kontrollieren kann) oder Werbung für Singles. Die ist offensichtlich ausgelegt auf ein bestimmtes Beuteschema. Auf sämtlichen Bildern sind die Brüste der präsentierten Damen so dermaßen groß, dass man schon bei dem Anblick zu ersticken glaubt. Gesichter treten, nicht zuletzt durch geschickten Aufnahme-Blickwinkel, in den Hintergrund. Ganz ähnlich verhält es sich auf meinem Mailportal, bei dem immer wieder dieselbe in ein tief ausgeschnittenes hellblaues T-Shirt gekleidete Blondine für eine Single-Börse wirbt, lasziv dahingestreckt und mit Rehaugenblick von schräg unten.

Ich will nicht missverstanden werden: Erstens mache ich mir nicht die geringsten Illusionen über die Zielgruppe, die hier angesprochen werden soll und weiß, dass ich definitiv nicht dazu gehöre. Zweitens habe ich nichts gegen den Anblick schöner Frauen. Ich bin eine Ästhetin und schaue gern hübsche Körper an, männliche wie weibliche. Was mich ankotzt ist, dass sich alles nur noch auf den reinen Sex reduziert. Dass das einem so dermaßen um die Ohren gehauen wird, als sei man ein sabberndes Viech, das auf nichts anderes mehr anspricht. Hintern. Schnitt. Brüste. Schnitt. Mund mit lippenleckender Zunge. Schnitt. Brüste. Schnitt. Close up von Brüsten. Schnitt. Wackelnde Brüste. Schnitt. Close up vom Hintern. Schnitt. Bamm! Bamm! Bamm!!

Was für die Darstellerinnen dabei herausspringt, lasse ich jetzt einmal beiseite - sie werden ihren Nutzen davon haben, in solchen Musikvideos und Kampagnen mitzuwirken, und sei er auch nur monetär. Mich bringt die Fragmentierung der dargestellten Frauen aus der Fassung. Eine Aneinanderreihung von isoliert und möglichst detailliert dargestellten Einzelteilen weiblicher Körper, in Szene gesetzt wie appetitlich angerichtete Speisen für ein Kochbuch. Es ist nicht einmal Pornografie. Die wäre ja zumindest noch zielführend. Es ist einfach nur Marketing. Und Frauenteile sind die Ware. Verkauft wird die Illusion vom perfekten Objekt, von der immer verfügbaren, optimalen Frau.

Neulich brachte das Zeit-Magazin eine Betrachtung zu männlicher Nacktheit und deren Unterrepräsentation in den Medien. Stimmt, abgesehen von einzelnen Beckhams oder Ronaldos, die mal hier und da ein Höschen bewerben und dafür den Körper sehen lassen, ist es nicht weit her mit nackten Männern. Es könnte ja auch was wegzugucken geben. Oder zu bewerten. Wie lang isser? Wie stark isser? Nackt sein macht halt auch verletzlich. Das vermeidet man(n) doch dann lieber. Statt dessen gibt man sich cool und unantastbar, erfolgreich und uniformiert.

Blöd nur, dass Frauen das Verletzlichsein, die Verfügbarkeit und Fremdbewertung tragen wie eine zweite Haut. In einer Talkshow hörte ich neulich, eine Studie sei zu dem Ergebnis gekommen, Frauen hätten auf andere Frauen genau diesen Blick in Einzelteilen. Auch sie nähmen einander wahr als Komposition von Augen, Lippen, Brüsten und Pobacken. Männer hingegen würden als ganze Menschen gesehen, ihnen werde zuerst ins Gesicht geschaut. Ein Fazit zu dieser Beobachtung wurde nicht kundgetan. Meine persönliche Vermutung ist, dass Frauen sich in diesem Fall dazu verleiten lassen, in die Konkurrenz zu gehen, und zu vergleichen beginnen. Sind ihre Körbchen größer als meine? Ihre Taille schlanker, ihre Lippen voller? Derartiges Konkurrieren entspringt nichts anderem als einer ausgeprägten Gefallsucht auf einer ziemlich niederen Ebene. Auf das der Blick des anderen mich durch Begehren adeln werde. Ein solches Gebaren ist eines selbstbewussten Menschen unwürdig.

So wird alle Körperlichkeit sexuell. Aber wenngleich es uns nicht ohne unser Geschlecht gibt, sind wir doch nicht nur Geschlechtsmerkmale, wir sind nicht nur Funktion und Rolle. Wir sind Menschen. Die fühlen, zittern, frieren, atmen, nach sich selbst duften, asymmetrisch gebaut sind, denen sich die Haare sträuben, denen die Füße kribbeln, die kotzen und weinen und sich am Küchenmesser schneiden, denen Pickel wachsen und Bartstoppeln, die Narben tragen und Brillen auf der Nase.

Gegen ein bisschen mehr Nacktheit der Männer wäre nichts einzuwenden, aber auch nichts gegen etwas mehr Angezogenheit der Frauen. Die Furcht davor, dann unsichtbar zu werden, ist bei Frauen offenbar genau so ausgeprägt wie bei Männern die Furcht, sichtbar zu werden. Nicht bei allen natürlich. Es gibt Menschen beiderlei Geschlechts, die total schmerz- und schambefreit sind, was die Präsentation des eigenen Körpers betrifft - möglicherweise, weil sie nicht oder nicht mehr am Marktgeschehen um Verfügung und Verfügbarkeit teilnehmen. Ich glaube aber, der größere Teil der Menschen ist im Umgang mit sich verkrampft und scheitert verzweifelt an den Kriterien, wie die Ware beschaffen zu sein hat. Es reicht nicht, zu sein, wer man ist, man muss einen hohen Wert zum Markt tragen. Es kommt zur Normierung und Übertreibung sexuell relevanter Attribute, hier wird ein bisschen gekürzt, da ein bisschen aufgeblasen. Das Credo so zugerichteter Frauen lautet: "Kauf mich!" Das Credo der Männer in diesem Spiel lautet: "Ich kann mir dich leisten!"

Ich kenne persönlich wenige Menschen, die auf den ersten Blick in dieses Schema passen, und doch glaube ich, dass wir alle ein Stück weit unbewusst von dieser Warenlogik beherrscht werden. Sie entmenschlicht uns und hindert uns daran, uns gegenseitig in unserer Ganzheit wahrzunehmen. Wenn's nicht gefällt, wird es umgetauscht. Wo sind die freien Geister der Menschen, die Tiefen, die Originalität und Kreativität, wo ist das Selbst? Wir sind so viel mehr. Wir sind auch sexuell. Aber wir sind mehr als Püppies in Regalen und geifernde Tiere.

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Donnerstag, 9. August 2012
Bei Fuß, Jack!
Irgendwie haben unheimlich viele Leute in unserer Gegend seit geraumer Zeit Jack Russell Terrier als Haustiere (und ich wette, mindestens die Hälfte von ihnen sind originellerweise auf den Namen "Jack" getauft). Mein Ding sind Hunde unter Kniehöhe ja nicht, diese kleinen, aggressiven Wadenbeißer, die in neurotisches Kläffen ausbrechen, wenn man sich ihnen auf weniger als fünf Meter nähert. Aber gut, Geschmacksache. Ist halt "typisch Terrier", das "freche" Verhalten.

Was mich total nervt ist, dass die meisten Hundebesitzer in unserer Ecke morgens ihre Viecher an der Teleskopleine spazieren führen. Das bedeutet dann in den meisten Fällen, Frauchen oder Herrchen geht immerhin noch brav auf dem Fußgängerweg, während "Jack" am anderen Ende der langen Leine im gegenüberliegenden Gebüsch kramt. Wenn man Glück hat, sieht man "Jack". Die Leine sieht man als Radfahrer in den seltensten Fällen. Es ist unbedingt erforderlich, sich schon bei "Jack"-Verdacht durch Betätigen der Fahrradklingel bemerkbar zu machen. Die meisten Hundebesitzer erschrecken sich erstmal gehörig. Dann drücken sie hektisch auf das Knöpfchen an der Leine und spulen ihren Terrier, der sich bisweilen energisch dagegen wehrt und seine krummen Beine tapfer in den Radweg stemmt, in ihren Fußraum zurück. Ich habe aber auch schon in letzter Sekunde wilde Haken schlagen müssen, um dem Fallstrick zu entgehen.

Die Viecher begreifen überhaupt nicht, dass sie angeleint sind, und sind so gut wie unkontrollierbar. Ich hoffe einfach, es geht noch eine Weile gut. Dass Herrchen oder Frauchen Vernunft annehmen und sich eine ordentliche Leine zulegen, darauf baue ich nicht mehr.

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Freitag, 3. August 2012
Ganz schön hoch, das Ross.
Der "Zeit" liegt regelmäßig das evangelische Magazin "chrismon" bei, das bei uns, wie viele andere Beilagen auch, lediglich kurz überblättert wird und dann meistens im Altpapier landet. Ich warf heute einen Blick in die gestrige Ausgabe und stieß auf einen Artikel in der Rubrik "im vertrauen", der mir nun doch ein paar Worte mehr wert ist als üblich.

Eine distinguiert wirkende Dame im roten Leinenblazer schaut in die Kamera, randlose Brille, gepflegter Kurzhaarschnitt, um den Hals ein Collier. Darunter die Bildunterschrift: "Was ist eigentlich Stress? Die Theologin Susanne Breit-Keßler antwortet auf Fragen, die uns bewegen." Klingt ja eigentlich recht vielversprechend. Auch wenn ich weiß, dass keine medizinische Definition des Begriffes "Stress" folgen wird, sondern vermutlich eher eine philosophisch-theologische Abhandlung. Schließlich halte ich hier "chrismon" in den Händen.

Was folgt, ist aber weder das eine noch das andere. Frau Breit-Keßler beginnt den kurzen Artikel mit den Worten "Ich haste an einem Nagelstudio vorbei." Sie hastet. So etwas kommt mal vor, aber diese Aussage wird sich angesichts des gehässigen Charakters des Artikels als vielsagend erweisen. Breit-Keßler schildert nämlich im Anschluss, was sie als an diesem Nagelstudio Vorbeihastende alles so in Kürze auffängt: Eine Frau lackiert der anderen die Nägel. Die Kundin beschwert sich über all den Stress, den sie hat. Und Breit-Keßler zieht aus diesem kurzen Einblick in das Leben anderer ihre ganz eigenen Schlüsse.

Die lauten in der Summe etwa so: Sie unterstellt, weder Kundin noch Nail Artiste hätten wirklichen Stress, sondern gehörten zu dem Typ Frauen, die Partys und Prosecco-Trinken für Stress hielten und den Friseurbesuch ihrer Hündchen und das Schneiden ihrer Rosen. Luxusweibchen also in den Augen der Verfasserin, die im Grunde überhaupt kein Recht hätten, sich zu beschweren. Und sie fügt wie beiläufig noch hinzu, dass sie selbst ohnehin ihre Nägel immer praktisch kurz halte.

Im selben Atemzug mit dieser Brachial(vor)verurteilung schreibt die Theologin:

"Man darf eigentlich nicht von außen beurteilen, wie andere Belastungen erleben, was ihnen zu viel wird und was nicht. Welcher Maßstab könnte der richtige sein? Nicht jeder, jede kann gleich viel leisten - warum auch? Talente, Kraft und Energie sind unterschiedlich verteilt, manchmal in einer einzigen Person."

Stimmt ganz genau, Frau Breit-Keßler. Aber warum tun Sie es dann? Und zugleich auch noch mit einer solchen Abscheu vor den Menschen, die nicht in Ihr Schema der Welt, wie sie sein müsste, passen?

Das Urteil, das sie selbst hier zunächst scheinbar so klar ablehnt, fällt Breit-Keßler dann doch. Es ist offensichtlich ein bestimmter Typus Mensch, der ihr gegen den Strich geht. Es sind diejenigen Frauen, die viel Freizeit haben, die auf der Suche sind nach etwas, das ihre innere Leere füllt und die diese Suche als Stress empfinden. Diese Empfindung stellt die Verfasserin als grundsätzlich verkehrt in Frage. Sie urteilt eben doch von außen, kategorisiert in richtigen und falschen Stress. Sie teilt ein in fleißige, gute Menschen, die es sich verdient haben, sich auch einmal um sich selbst zu kümmern, und in solche, die ihre Privilegien nicht zu erkennen vermögen und deshalb vollkommen zu Unrecht vor sich hin jammern und deren Sorge um sich selbst der reine Egoismus ist. So einfach ist ihre Welt.

Wen sie als diese Bessermenschen, ja sogar als "Engel" auffasst, listet sie sorgfältig auf. "Ich denke an Frauen im Polizeidienst, Frauen, die als Erzieherinnen in Kindertagesstätten oder als Mütter zuhause arbeiten, die sich in der Gastronomie oder als Verkäuferinnen die Beine in den Bauch stehen. Mir fallen die ein, die im Krankenhaus tätig sind - Schwestern, Ärztinnen, Seelsorgerinnen. Rufbereitschaft auch in Zeiten, in denen sie gerade mal mit Freunden zusammensitzen. (...) Vor solchem Einsatz habe ich höchsten Respekt."

Selbstverständlich verdienen all diese Menschen den Respekt auch. Nicht nur den von Frau Breit-Keßler, sondern unseren. Was sie aber besonders heraushebt, so Breit-Keßler, sei, dass sie sich nicht beklagten. Dann sei natürlich auch nichts dagegen einzuwenden, dass sie sich die Nägel feuerrot lackierten und gern Prosecco tränken.

Selten habe ich in wenigen Sätzen ein derart haarsträubendes Maß an Arroganz verzeichnet. Frau Breit-Keßler kann in der Tat, wie sie selbst ja auch richtig festgestellt hat, nichts wissen über den Stress der Menschen und die Berechtigung ihrer Klagen. Sie kann den Menschen im Vorbeigehen an der offenen Türe des Nagelstudios oder während belangloser Plaudereien nicht hinter die Stirne und schon gar nicht in die Seele schauen. Aber obwohl sie eigentlich um diese Unfähigkeit weiß, maßt sie sich an, die Frauen, die ihr begegnen, einzuteilen in Engel und verwöhnte Zicken. Mit welchem Recht tut sie das eigentlich? Sie besitzt keine Kenntnis der Persönlichkeiten, die ihr da begegnen. Sie weiß nicht, was die Dame erlebt hat, die sich am Ende eines Tages im Nagelstudio ihre Nägel machen lässt, sie hat keine Ahnung, wie groß deren äußerer oder innerer Stress nun tatsächlich war und was sie eigentlich so gestresst hat. Vielleicht hat die Kundin einen aufreibenden Bürojob, vielleicht hat sie aber auch einfach einen traurigen Tag. Vielleicht war es aber auch ein Tag in einer endlosen Folge von Tagen, an denen die Nagelstudio-Kundin mit Unzufriedenheit, innerer Leere, Schmerzen, Schuldgefühlen oder anderen seelischen Problemen zu kämpfen hatte. Anhand einer Äußerlichkeit beurteilen zu wollen, welches Recht ein Mensch hat, Stress zu empfinden, ist über die Maßen arrogant.

Für Breit-Keßler gibt es augenscheinlich den guten, ehrlichen und echten Stress, der dem aufgesetzten, vorgespiegelten Stress der French-Nails-Fraktion diametral entgegensteht. So fragt sie denn auch am Ende ihres Artikels die Leserin: "Sind sie auch so eine Frau? Eine, die nicht lange fackelt, sondern alles macht, was anderen dient?" Dieses Verhalten ist in ihren Augen offenbar die einzige Legitimation dafür, auch einmal etwas für sich zu tun. Immer noch geistert das Bild der selbstlosen, aufopferungsvollen Engels-Frau durch die Weltgeschichte. Noch immer ist eine Person mit diesen Eigenschaften das anzustrebende Ideal, der man getrost auf die Schulter klopfen und zugestehen kann, die "...Flügel ruhig einmal hängen zu lassen..." (Breit-Keßler). "Solche Frauen richten ihr Augenmerk auf die Bedürfnisse anderer. Sie haben nicht den Nerv, mit Stress zu kokettieren." Alles, was von diesem Ideal abweicht, verdient die Auszeit für sich selbst anscheinend nicht.

Weder interessiert sie das unbekannte Innenleben derer Frauen, die sie da so heftig verurteilt, noch die offensichtlichen Schwierigkeiten, die auch diejenigen Menschen haben können, die nicht in denen von ihr genannten Engel-Berufen tätig sind. Mit ätzender Ironie schreibt sie: "Wahrscheinlich bin ich ungerecht, ich habe keine Ahnung davon, wie mühsam es ist, French Manicure zu machen oder pinkfarbenen Lack mit Strass zu verzieren." Ich möchte gegen dieses Klischee setzen, was ich wahrnehme, wenn ich draußen am Nagelstudio vorbeigehe: Ich rieche bis vor die Tür den beißenden Geruch von Aceton und Lösungsmitteln, und im Inneren des fensterlosen Ladens weiß ich ständigen feinen Hornstaub, gegen den auch ein papierner Mundschutz sicher nicht immer hilft. Vom Lohn der zierlichen Asiatinnen, die dort arbeiten, wage ich mal gar nicht zu sprechen. Der Tunnelblick Breit-Keßlers auf die Welt, wie sie sich ihr darstellt, blendet ganz bewusst aus, was nicht in ihre Kategorien von guten und schlechten Menschen passt.

"Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet" steht in dem Buch, auf das sich auch Breit-Keßler in ihrer Eigenschaft als Theologin wohl häufig beziehen dürfte. Natürlich ist keiner gefeit vor Vorurteil, das würde ich auch von mir nicht behaupten. Ich habe auch nicht allzu viel übrig für bestimmte Typen und habe mich schon manches mal aufgeregt über Damen, die bestimmten Klischees wie Abziehbildchen entsprachen. Ich hege bisweilen heftige Abneigungen und inzwischen nicht mehr den Anspruch, jeden Menschen gleichermaßen mögen zu wollen. Ich denke, solche Gefühle sind Teil unseres Menschseins.

Allerdings bin ich der Ansicht, dass man genau dieses Menschsein anderen auch zuerkennen sollte. Da hapert's gewaltig bei Breit-Keßler. Sie postuliert zwischen den Zeilen ihres Artikelchens: Das Recht, sich gestresst zu fühlen und darunter zu leiden muss man sich nach bestimmten Maßstäben verdienen. Darüber hinaus zeichnen sich diejenigen besonders aus, die sich aufopfern und nicht klagen. Welcher Gruppe sie sich selbst zurechnet, hat sie ja schon mit dem Eingangssatz ihres Artikels verdeutlicht: "Ich haste an einem Nagelstudio vorbei." Sie hastet, während andere sich dreist das Recht herausnehmen, zu schlendern und ganz egoistisch etwas für sich selbst zu tun.

Sicher gibt es viele, die sich beim Lesen von Breit-Keßlers Zeilen wiederfinden. Für die die Welt auch besteht aus rechtschaffenen, herzensguten Menschen, zu denen sie sich selbst zählen, und verwöhnten Tussis mit Luxusproblemchen, denen man mal kurzerhand jegliche echte menschliche Regung absprechen darf. Mir dreht sich bei solcher Herablassung gewaltig der Magen um.

Dass ausgerechnet diese Dame auch ein Buch über "Burn Out" verfasst hat, wundert mich eigentlich nicht. Man möchte bloß hoffen, dass sie in diesem Werk Erschöpfte nicht auch so rigoros einteilt in Jammerer und wirklich Gestresste wie in ihrem "chrismon"-Artikel. Der Satz "Reiß dich mal zusammen, eigentlich hast du es doch gut!" hat schließlich schon so manchen in abgrundtiefe Verzweiflung getrieben. Breit-Keßler sollte sich dem wirklich schwierigen Part eines christlichen Nächstenliebe-Anspruchs stellen und erst einmal damit anfangen, ihr Mitgefühl auf diejenigen auszudehnen, die ihr selbst eben nicht ähnlich sind.

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Donnerstag, 2. August 2012
Lästereien
Was für ein Knüller! Ausgerechnet die Institution, die wirkliche Verstöße gegen geltendes Recht in ihren eigenen Reihen verheimlicht, Täter lediglich hinter verschlossenen Türen verschwinden lässt und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse kurzerhand mal intern regelt, maßt sich doch tatsächlich an, einen Straftatbestand der "Gotteslästerung" in unserem Land zu fordern.

Dass die mit Ironie und Satire nicht umgehen können, habe ich schon irgendwie geahnt. Aber was soll das eigentlich sein, "heilige Personen, heilige Schriften, Gottesdienste und Gebete sowie heilige Gegenstände und Geräte aller Religionen"? Richtig - Auslegungssache! Im Grunde wird also ein Blanko-Straftatbestand gefordert, und was "heilig" ist, entscheidet der Beleidigte nach Bedarf selbst. Fügen wir dem doch einfach auch noch einen eigenen Absatz zum Thema "Ehre" hinzu. Und "Anstand". Und "Moral". Und... Lang lebe die Meinungsfreiheit!

Ob die "Titanic" den Gag auf Teufel komm' raus hätte bringen müssen, ist fraglich. Aber wenn sich die katholische Kirche durch die Geschmacklosigkeiten der "Titanic" beleidigen lässt, zeigt sie sich damit ebenso weinerlich und empfindlich wie diejenigen, die nach Erscheinen der Mohammed-Karrikaturen mit dem Hasspredigen anfingen. Ich entscheide, wer mich beleidigt - das gilt auch hier, und eine solche Reaktion sagt mehr über den Beleidigten aus als über den Beleidiger. Über Geschmack lässt sich streiten, und das kann und sollte man auch.

In dieser Angelegenheit nach dem Gesetz zu rufen, finde ich schlichtweg infantil. Dieses Kind hält seinen Sandkasten immer noch für das ganze Universum. Und wehe, einer wirft mit Sand!

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Donnerstag, 19. Juli 2012
Beschnittenes Menschenrecht
Seit Tagen geht mir die Sache mit der Beschneidung durch den Kopf. Allenthalben ist etwas darüber zu lesen - von Gegnern wie Befürwortern dieser Praktik gleichermaßen, von denen, die die Religionsfreiheit in diesem Land gefährdet sehen und hinter der Kritik (wie üblich) Anti-Islamismus Schrägstrich Antisemitismus wittern ebenso wie von kopflosen Xenophobikern. Wirklich Kluges habe ich dazu noch nicht gelesen. Bis ich mal wieder in der Flohbude vorbeischaute.

Herr Flohbude stellt eine in meinen Augen wichtige Frage zu diesem Thema:

Wird mit der Entfernung der Vorhaut eine Modifikation hin zu einem gewünschten Sozialverhalten erreicht? Erzeugt der Schnitt einen charakterlich qualifizierten Menschen?

Unter dem Gesichtspunkt der Vernunft und menschlicher Erziehungsziele kann man diese Frage ganz deutlich verneinen, was Herr Flohbude auch konsequent tut. Ich bin da mit ihm einer Meinung. Voraussetzung für diesen Konsens ist natürlich, dass man unter den Begriffen "erwünschtes Sozialverhalten" und "charakterlich qualifiziert" dasselbe versteht.

Ganz ähnlich wie die unsägliche Menschenrechtsverletzung, die die Beschneidung von Mädchen darstellt, ist auch die Beschneidung der Jungen ein massiver Eingriff in die Intimsphäre und körperliche Integrität eines Kindes. Nicht zuletzt (was meines Erachtens nicht hoch genug bewertet werden kann) ist das eine einschneidende Verletzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Eltern und Kind. Necla Kelek schildert in ihrem Buch "Die verlorenen Söhne" eindringlich, wie die Beschneidung ihrer Neffen vonstatten ging und wie verwirrend und schmerzlich diese Prozedur für die beiden Jungen gewesen ist. Ob dieses Beispiel representativ für sämtliche Beschneidungen im Islam ist, ist ein Streitpunkt, der immer wieder von neuem aufgegriffen wird und den ich zunächst einmal dahingestellt sein lassen will.

Die Frage nach dem wahren Zweck dieses Rituals beschäftigt mich viel mehr. Mir fällt (nicht zum ersten Mal) auf, dass Maßnahmen und Verhältnisse, die uns bei emotionsloser Betrachtung absurd erscheinen und die nicht durch Vernunft begründet werden können, religiösen Ursprungs sind. Das impliziert, dass hinter dem jeweiligen Ritual oder Umstand eine Art hehres Ziel steht. Es verleiht dem Ganzen eine erhabene Aura, etwas Geheimnisvolles, in das Laien (zu denen die Kritiker selbstverständlich immer deklariert werden) keinen Einblick haben und auch nicht haben können. Die religiöse Begründung ist gleichzusetzen mit einem autoritären "Das ist so. Darüber diskutiere ich nicht!".

Herr Flohbude fragt:
Welchen Grund außer der Tradition der Religion existiert also, der diesen Akt rechtfertigen kann? Das "Wir machen das schon immer so!" ist ein historisches, das "Gott hat es uns anbefohlen!" ein Autoritätsargument. Beide sind für Philosophen unbefriedigend, weil sie sich nicht selbst tragen, sondern immer Rückgriffe auf zumindest fragwürdige Elemente brauchen.

Rückgriffe auf fragwürdige Elemente - das trifft den Nagel auf den Kopf. Die Fragwürdigkeit wird religiös bemäntelt oder gar im Unbewussten gehalten, damit man sich ihr nicht zu stellen braucht.

Der Grund für die Beschneidung der Mädchen liegt für unseren Blick relativ offen zutage: Der Eingriff verhindert ein lustvolles, eigenständiges Sexualleben der Frauen und damit auch rigoros die Möglichkeit, dass ein Mann möglicherweise ein anderes als sein eigenes Kind großzieht. Es geht um die Verfügungsgewalt über die Reproduktionsressource Frau, ganz ähnlich wie auch beim Verschleierungszwang, beim Einsperren der Frau ins Haus, beim "Kein Sex vor der Ehe"-Gelaber in manchen christlichen Kreisen. Zwar wird hier fußnotenmäßig immer wieder auch angefügt, das Gebot, sich nicht aufreizend anzuziehen und keusch und enthaltsam zu bleiben gelte auch für Männer, aber wir wissen, die Praxis sieht da anders aus.

Der Zweck der Beschneidung von Jungen ist ein wenig subtiler, aber nicht weniger weltlich. Das dicke Fest, das die kleinen Jungen wie Prinzen feiert (ich spreche hier jetzt gerade nicht von der jüdischen Beschneidungstradition), hebt sie deutlich von den Mädchen ab, für die es nichts Vergleichbares gibt (und die man statt dessen teilweise schon im Kindesalter unter das Kopftuch zwingt). Das Ritual dient also einer vollkommen unnatürlichen und schädlichen Geschlechtersegregation und entfremdet die Geschlechter einander extrem früh. Aber es wertet die Jungen nicht allein auf. Es trennt sie auch radikal aus ihrer Kindheit heraus. Sie werden "zum Mann gemacht", ihre Geschlechtlichkeit wird betont, und zugleich dürfen die Frauen bei der Angelegenheit nicht anwesend sein, nicht eingreifen und nur am Rand stehen.

Ich unterstelle, dass dies nicht zufällig in einem Alter geschieht, in dem die Kinder ihre Rolle und Position bereits wahrnehmen können und in dem sie das Bewusstsein über ihr eigenes Geschlecht besitzen. Heulen und Angsthaben ist bei dieser Sache übrigens auch nicht sehr en vogue. Mit der Verleugnung oder Abstrafung von Angst, Schmerz, Scham und Traurigkeit beginnt die Trennung männlicher Kinder von ihren Gefühlen und ihre Reduktion auf für Jungen und Männer erwünschte Verhaltensweisen und Emotionen. Hier wird zum ersten Mal vor allen anderen Stärke bewiesen und über den Schmerz hinweggegangen, Trösten wird unterbunden, allenfalls wird abgelenkt. Vor dem breiten Publikum, das bei der Inszenierung solcher Feste zugegen ist, ist die offene Entblößung und Verletzung zugleich eine Demütigung ersten Ranges. Das Kind erhält eine paradoxe Botschaft: "Dir wird weh getan werden, aber du musst dich darüber freuen!"

Dass dies zum Wohl eines Kindes geschehen soll, weigere ich mich zu glauben. Es ist nicht allein die Verfügung über ein Stück Haut, es ist ein bewusstes Überschreiten der Schamgrenze der Jungen, ein Brechen ihrer natürlichen Verhaltensweisen, eine Bloßstellung, die sie dazu zwingen soll, in das von ihnen erwartete Rollenschema aus vermeintlicher Stärke und Macht hineinzuwachsen. So etwas gehört aus denselben Gründen verboten wie Prügel und andere seelische und physische Gewaltmaßnahmen in der Erziehung. Es ist absolut keine Einmischung des Staates in Erziehungsbelange und eine Einschränkung der Religionsfreiheit, wenn der Staat solche schädlichen und überflüssigen Rituale unterbindet. Im Gegenteil: Die Einmischung des Staates macht ganz deutlich, dass der Schutz und die Würde des Menschen Achtung verdienen. Erst recht, wenn es sich dabei um Kinder handelt.

Diese Idee von Würde und Achtung des Einzelnen darf in diesem Land nicht einfach über Bord geworfen werden, schon gar nicht durch religiös kaschierte Bestrebungen, das Individuum mit Gewalt in überkommene Strukturen zu pressen, die seinen seelischen und körperlichen Bedürfnissen nicht nur nicht Rechnung tragen, sondern sie bewusst mit Füßen treten.

Ich möchte das Schlusswort in dieser Sache Herrn Flohbude überlassen:

Kein Mensch gehört jemandem. Keinem Menschen steht es zu, über andere zu entscheiden, sie zu instrumentalisieren, sie zum Mittel eines eigenen oder fremden Zweckes zu machen, in ihre Integrität einzugreifen, sei es körperlich oder geistig. (...) Das Kind gehört nicht den Eltern, die Frau nicht dem Mann, der Schüler nicht dem Lehrer, der Bürger nicht dem Staat, der Arme nicht dem Reichen, der Dumme nicht dem Klugen, der Machtlose nicht dem König. Ganz im Gegenteil: Der Starke, Wissende, Mächtige ist verantwortlich für den Schwachen, Dummen, Machtlosen! In deren Sinne muss er nämlich handeln, auf dass dieser selbst stark, klug und mündig wird, ist er doch in dieser Beziehung der weitsichtigere, eben weil er schon viel gesehen und erreicht hat; er besitzt die Mittel, die dem anderen unter Umständen fehlen. Jede Entscheidungen die einen Anderen betrifft muss, und sei es nur im Geiste, mit einem plausiblen Begründungssatz einhergehen. Das weil, welches diese Nebensätze anführt, ist unser einziger Schutz gegen die Willkür, die höchstens einem Tier verziehen werden kann, einem Menschen im 21. Jahrhundert jedoch nicht angemessen ist.

Flohbudes ganzer Beitrag ist hier zu lesen.

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Dienstag, 12. Juni 2012
Grantig!
In meine Vorfreude mischt sich allmählich massiver Ärger. Wenn ich bedenke, dass S. diejenige war, die den Vorschlag für diesen Trip gemacht hat, dann verwundert es mich nicht nur, es stört mich auch und macht mich wütend, dass sie nun so gar nichts zur Planung und Organisation beiträgt.

Ich verstehe, dass S. mit ihren Kräften haushalten muss. Sie hatte nicht umsonst diesen Burn Out. Sie ist zudem auf der Suche nach Arbeit. Diese Dinge können schon mal Kräfte binden - sowohl seelisch-geistige als auch physische. Heute bat ich sie dann aber per Mail, dass sie sich doch vielleicht um die Buchung der restlichen Unterkünfte kümmern möchte. Da bekam ich von ihr zur Antwort, sie fände es toll, dass ich die entsprechenden Mailadressen schon rausgesucht habe, und wenn es mir nichts ausmachen würde, kümmerte sie sich nächste Woche darum. Denn sie sei sehr müde.

Nächste Woche ist dann die letzte Woche vor unserer Tour. Nächste Woche hätte ich gern schon längst alles unter Dach und Fach gehabt. Deshalb habe ich geschrieben, dass mir das zu knapp wird und ich mich selbst telefonisch kümmern werde. Da merkte der Gatte an, dass er es für sinnvoll halte, wenn ich mit S. darüber reden würde.

Ich weiß nicht so recht, wie ich das anstellen soll. Sie ist so wenig fassbar. Sie sagt nicht, was sie möchte, sie sagt nicht, was sie braucht, sondern sie sagt nur, dass sie mir dankbar ist für all die Planung. Das bringt mir nur leider auch kein Kissen unter den Kopf.

Ja, ich bin verärgert, ich bin verdammt grantig. Sie hätte vor einem oder anderthalb Monaten sagen können: "Du, so und so ist das okay für mich, aber ich kann mich leider nicht besonders aktiv an der Planung beteiligen, bitte mach Du das doch." Hat sie aber nicht.

Zudem wundert es mich nicht, dass sie müde ist. Auch, wenn sie Gegenteiliges behauptet, hat sie ihr Burn Out nicht gelehrt, auf sich zu achten. Sie musste unbedingt noch Englischkurse buchen vor unserer Fahrt und schiebt jetzt noch etliche Termine in die Wochen, macht sich alles unglaublich eng, dazu gibt es noch Familienfeiern, und zu irgendwelchen Vorträgen fährt sie auch noch durch die halbe Republik. Das ist dann eine schräge Prioritätensetzung auf meine Kosten.

Ich bin nicht böse darüber, gemacht zu haben, was ich gemacht habe. Wie ich ja schon angemerkt habe, mag ich das Planen und das damit verbundene Vorfreuen, und ich habe gern die Kontrolle. Aber es ist ja nicht so, dass ich zur Zeit nichts zu tun habe. Da sind all die ganzen normalen Dinge, die ich im Gegensatz zu ihr auch noch mache: Arbeit (verbunden mit so viel Neuem, das ich gerade zu lernen habe), der Sport, der mir als Ausgleich unglaublich wichtig ist, die Besorgungen und die Organisation, die ich unabhängig von ihr für mich selbst in dieser Sache machen muss und dazu auch noch der ganze alltägliche Rummel. Da könnte ich jetzt ihre Hilfe wirklich mal brauchen, bitte sie darum, und dann will sie das verschieben auf den letzten Drücker!

Der Gatte hat Recht - es wäre nicht gut, das mit auf die Tour zu nehmen. Wir sollten darüber reden. Und vielleicht sollte ich das auch machen, so lange ich noch wütend bin, und nicht eine Nacht darüber schlafen. Denn so geht es einfach nicht, das ist nicht, was ich von einer Freundin erwarte. Ich bin von ihr enttäuscht.

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