Sturmflut
Samstag, 26. Mai 2012
Entschieden.
Jetzt haben wir also die "Entscheidungslösung" in Sachen Organspende.

Verbunden mit (auch moralisiertem) Entscheidungsdruck, einseitiger und zweckorientierter Aufklärung, zweifelhaftem Datenschutz (wenn das öffentliche Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens die schützenswerten Interessen der betroffenen Person überwiegt), sogenannten Transplantationsbeauftragten in den Kliniken und einem privaten Lobbyverein als Koordinator des Ganzen.

Ich frage mich, was wohl passierte, wenn ich die Speicherung meiner (lang gefassten) Entscheidung auf der neuen Gesundheitskarte verweigerte.

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Sonntag, 20. Mai 2012
Verdrehte Welt
Folgt man den Aussagen diverser Politiker beinahe jeder Richtung in den Medien, wie denn die Wirtschaftskrise bzw. europäische Schuldenkrise (oder welchen Titel man ihr denn auch immer sonst noch so verleihen mag) in den Griff zu bekommen sei, dann fällt bei aller Unterschiedlichkeit eines auf: Die Menschen, um die es im Endeffekt gehen sollte, stehen nicht im Fokus, sie kommen lediglich als Wirtschaftsfaktoren vor. Das ist eigentlich nur konsequent, wenn es um die innere Logik des Kapitalismus geht, und dennoch ist es tragisch.

Während die einen einen "knallharten Sparkurs" und "Haushaltskonsolidierung" von allen möglichen Staaten (z.T. auch im eigenen) fordern, hätten die anderen gern, dass man die Volkswirtschaften nicht "kaputtspart", sondern im Gegenteil doch bitte durch Investitionen noch Anreize zum Wirtschaftswachstum setzt. Richtig, beim "Kaputtsparen" fallen die Schwächsten durchs Netz, denn gestrichen wird gern vor allem im sozialen Sektor. Junge Arbeitslose, kranke und alte Menschen leiden als erste darunter. Andererseits: Anreize zum Wirtschaftswachstum? Woher, wie, und vor allem, warum? Noch mehr Wachstum ist doch bald nicht mehr machbar, und mit dieser Forderung werden Grenzen ignoriert.

Der Mensch in der ganzen Maschinerie taugt nur noch in seiner Funktion als Konsument und Produzent. Das stößt mir immer wieder sauer auf. Wir fragen uns in all dem Kuddelmuddel nicht mehr, wie wir leben wollen, sondern nur noch, wie wieder mehr Konsum, wieder mehr Produktion, wieder mehr Vertrauen der Märkte, wieder mehr Wachstum zu machen sei. Wohlstand, Wachstum und Konsum als Bedingungen für die Glückseligkeit in einem Land stehen wie eherne Gesetzmäßigkeiten fest gemauert in der Erden. Ist doch klar, dass wir alle immer, immer mehr haben wollen müssen sollen, denn dann geht es uns ja schließlich allen besser, oder nicht?

Immer wieder stehe ich mit einem gewissen Entsetzen in Läden und vor Schaufenstern und frage mich bei so manchem Produkt: Wer braucht eigentlich so ein Ding? Denn für manches fällt einem nicht einmal mehr ein Name ein. Gut, das Streben nach Umsatz und Gewinn ist eine kräftige Triebfeder für den Fortschritt, für die Entwicklung der Technik. Nicht zu unterschätzen. Und was dabei herauskommt, wenn beispielsweise ein Staat versucht, festzulegen und zu verordnen, was der Mensch eigentlich zu brauchen hat, haben wir auch gesehen. Das geht nach hinten los. Aber mal ehrlich, wie haben wir es nur geschafft, unsere Äpfel in Achtelchen zu schneiden, bevor es diesen unglaublich praktischen Entkerner-Stückeschneider gab? Wie haben nur all die Generationen von Kindern Greifen und Fühlen gelernt ohne Greif- und Fühlspielzeug? Wie kriegte man einen Grill angeheizt ganz ohne einen elektrischen Grillanzünder? Eine Menge von dem Schnickschnack, der heute produziert wird, deckt nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen, sondern weckt sie erst, raffiniert und manchmal subtil, manchmal holzhammermäßig angeheizt von der Werbung. Manches Produkt kommt so originell daher, dass man es unbedingt haben muss, dass man seinen Mangel an praktischem oder gar auch nur ästhetischen Nutzen gar nicht bemerkt. Reihen um Reihen zahlloser Shampoos für zahllose Bedürfnisse glänzen uns an. Der Verbraucher wird ausgetrickst und beschummelt, hier kommt noch ein bisschen Erdöl dazu für das "samtweiche Hautgefühl", da ein bisschen Silikon für den Glanz, und wieder ist der Konsument geködert. Fernseher gehen kaputt, weil bewusst schlechtere Bauteile verwendet werden, damit bald wieder nachgekauft werden muss.

In dem ganzen Konzept steckt ein Dreher, der uns meistens nicht einmal bewusst ist: Der Mensch in seiner Eigenschaft als Verbraucher und Konsument befeuert die Maschinerie, die nicht mehr für ihn da ist. Er ist für die Maschinerie da. Er ist Zielgruppe und selbst Ware, ist als "human ressource" ein Posten in der Rechnung und doch als Bestandteil der diffus bleibenden "Märkte" psychisch unberechenbar, ein Rad im Getriebe und dabei selbst ausschlaggebend, nur längst nicht mehr so sehr Herr seiner selbst wie er meint. Der Mensch wird gebraucht und verbraucht. Und so ist in dieser ganzen Krisenrechnerei, in der sich gestritten wird um Sparkurs oder Wachstum, der Mensch ebenfalls nicht im Mittelpunkt. Es wird nicht gefragt, was geschehen muss, damit es den Menschen wieder besser geht. Der Staat erfüllt nicht seinen Auftrag, unter Zuhilfenahme eines Regelkonsens sich dem Wohl seiner Bürger bestmöglich zu nähern, was auch einen Wandel des Begriffs "Wohl" mit einschließen müsste. Statt dessen verbeißt er sich in die Maxime, Wohlstand sei mit Wohl gleichzusetzen und fürchtet nichts so sehr als einen Mangel desselben. Im Grunde ist das ewiggestrig, denn die Verwurstung des Menschen als Arbeitstier, Stimmvieh und Konsument geht schon längst an menschlichen Bedürfnissen vorbei. Dennoch fürchtet die Politik nichts so sehr wie das Misstrauen der Märkte, das Abwandern von Betrieben ins Ausland, die Stagnation oder gar Rezession.

Ich bin ehrlich, ich weiß keine Lösung. Mir fällt nur auf, dass man wesentliche Fragen nicht mehr stellt. Was braucht ein Mensch, um sich seelisch, geistig, körperlich entwickeln und entfalten zu können? Was braucht es zu gelungener sozialer Interaktion? Wie möchten Menschen miteinander wohnen und leben? Wie müsste ein Lebensumfeld gestaltet sein, damit es für Menschen lebenswert ist? Was ist an den Bedürfnissen alter Menschen anders als an denen junger? Was brauchen Männer und Frauen als Menschen, gemeinsam? Was brauchen wir alle, und wie lässt sich bewerkstelligen, dass niemand unter Existenznöten leiden muss? Letztere Frage ist besonders im Hinblick darauf wichtig, dass zungunsten unseres Wohlstands (nicht unseres Wohls - was die Sache erst recht sinnlos macht!) andere Menschen solche Nöte erleiden müssen und nicht selten sogar mit ihrem Leben bezahlen.

Alles, was wir betrachten, unterliegt inzwischen dem Diktat des Monetären. Umweltschäden werden monetär beziffert, weil es uns nicht gelingt, einen Verlust anders als in Ziffern zu begreifen. Bildung wird darauf ausgerichtet, wie gut sich die Bildungskonsumenten nach ihrem Abschluss in das Arbeitsleben einfügen können, und auch die sogenannten "soft skills" oder "social skills" dienen letztlich der Anpassung an ein Arbeitsumfeld, das größtmögliche Produktivität erreichen soll. Sozialwohnungen werden als unangemessen groß für die Bedürfnisse der sie bewohnenden Menschen erachtet, weil auch der arbeitsmäßig nutzlose Mensch in erster Linie einen Kostenfaktor darstellt - schließlich muss er essen und schlafen. Nahtlos passt sich in diesen Zusammengang Herr Röslers Aufforderung an die "Schlecker-Frauen" ein, sich um eine "Anschlussverwendung" zu bemühen (gefunden übrigens bei "Neusprech" - vielen Dank!!). Darin verbalisiert sich die ganze Menschenverachtung eines Systems, das Menschen allein nur noch benutzt.

Ein Problem ist, dass wir das Undenkbare nicht mehr denken können. Alles führt uns schließlich immer wieder zurück zu Kosten und Nutzen, Plus oder Minus unterm Strich. Ich fühle mich hilflos angesichts dieser Entwicklungen. Die Umstände sind wenig ermutigend. Ich mag trotzdem nicht aufhören, mich daran zu stoßen. Ich schäme mich manchmal angesichts der Tatsache, die perfekte Tomate aus der Kiste gesucht, den zwanzigsten Nagellack gekauft und die Maschine weiter angekurbelt zu haben. Aber immerhin, da ist noch ein Gefühl. Was geht anders? Ich hoffe, ich höre nicht auf, mich das zu fragen. Es wäre so verführerisch bequem.

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Dienstag, 15. Mai 2012
Blankes Entsetzen,
gezogen von zwei Haflingern
Allerhand Feiertage fallen in diesem Jahr ganz köstlich, so dass man zwischendurch noch einen Brückentag nehmen kann und dann unversehens richtig lange frei hat, beinahe sogar schon Urlaub. Der Arbeitnehmer nimmt in der Tat, und zwar bezahlte freie Zeit. Ich hatte in diesem Sinne das verlängerte Wochenende um den 1. Mai gerade verdaut und fand es sehr entspannend, da dräut bereits Himmelfahrt am Horizont, auch "Vatertag" genannt. Wenn der so ähnlich ausfällt wie der Muttertag, dann wird das lustig.

Wir waren schon letztes Jahr zur Muttertags-Kutschfahrt geladen, und zwar von Schwiegermama, die das als Anlass sah, ein Gefährt zu mieten, das den Namen "Kutsche" nicht wirklich verdient. Es ist schon eher ein Planwagen, und er fasst auf zwei langen Bänken die gesamte Familie: Schwiegers senior und junior samt zwei Nichten und einem Neffen sowie deren andere Großeltern, Tante, Onkel, Cousinen und Cousins. In diesem Jahr passten auch wir mit rein (nachdem wir uns letztes Jahr geschickt entzogen hatten), und zusätzlich noch etliche Kühlbehältnisse mit Bier, Radler und vor allem viel, viel Sekt. Zwischen den beiden sich gegenüberliegenden Bänken ist ein Tischchen installiert, das mit runden Aussparungen in Bierflaschengröße versehen ist und so ein verlustfreies Trinkvergnügen garantieren soll.

Unsere Gegend ist schön jetzt im Mai. Gegen ein gemütliches Dahinzockeln in guter Gesellschaft durch die ergrünte Landschaft wäre eigentlich also nichts einzuwenden gewesen, und ich sträubte mich innerlich auch nicht so sehr dagegen wie der Herr Gemahl. Kaum hatte uns der Planwagenführer samt seiner zwei Planwagenponies und Planwagen allerdings vor der Tür der Schwiegereltern eingesammelt, mehrten sich die Hinweise darauf, wie das mal wieder enden würde (nicht, dass ich es nicht ohnehin geahnt, vielleicht sogar befürchtet hätte). Der lange Flaschenhalter in der Mitte war nur der Anfang. Das Innere des Wagens war kreativ ausgestattet mit rechteckigen Schildchen, auf denen markige Sprüche standen wie "Dein Gesicht und mein Hintern könnten Zwillinge sein!", "Lieber Sekt saufen und rumbumsen als abwarten und Tee trinken!" und "Lieber einen Bauch vom Saufen als einen Buckel vom Arbeiten!". Und kaum hatten die Pferdchen ihre Hufe in Bewegung gesetzt, erschallte aus den vorn und hinten im Wagen angebrachten Lautsprechern – ja, was eigentlich? Musik mag ich's nicht nennen. Es war akustische Körperverletzung.

Von der Planwagendecke baumelte ein aus mehreren Klarsichthüllen zusammengeheftetes Büchlein mit Musiktiteln, aus denen die Passagiere sich etwas aussuchen konnten. Was sie auch taten, und zwar mit besonderem Engagement die Frau Schwiegermama und ihr Pendant von der anderen Seite der Familie. So kam es, dass wir über weite Wegstrecken mit Gröle-Liedern beschallt wurden, und das nicht nur aus den Lautsprecherboxen. Die Stimmbänder wurden verstärkend hinzugezogen und mit noch mehr Sekt geölt.

Es ist etwas vollkommen anderes, nur um die Existenz Niveaulosigkeiten zu wissen, als sie am eigenen Leib zu erleben. Die Namen derer, die diese Machwerke verzapft haben, kenne ich bis auf ein paar kleine Ausnahmen nicht und möchte sie auch nicht kennen. Der Gemahl hatte den Posten der humorlosen Spaßbremse inne und mein aufrichtiges Mitgefühl, denn er konnte sich diesem Overload nicht entziehen. Ich selbst fand das alles ebenfalls überhaupt nicht amüsant. Es war angesichts dieser Pampe nicht möglich, sich wenigstens zur Ablenkung noch zu unterhalten. Der Gatte nahm schließlich eine Geräuschprobe mit seinem Smartphone und sandte diese an seinen besten Freund mit dem Kommentar: "Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte!"

Zwischenzeitlich hatten wir uns ins Ausland begeben, was für mein persönliches Empfinden unseren Auftritt noch peinlicher machte. Der Kutscher, mit der Erfüllung von Musikwünschen befasst, achtete dabei bisweilen nicht so recht auf den restlichen Verkehr und es stauten sich hinter uns Autos und Radfahrer. Ein knappes Drittel der Fahrt verbrachte ich im Delirium, weil ich mich unterwegs nicht mit den anderen Frauen in die Büsche unseres Nachbarlandes schlagen und dort durchfeuchtete Tempotaschentücher hinterlassen wollte, quasi als Krönung der Sauftour. Ich dachte bloß noch ununterbrochen an eine ordentliche Porzellanabteilung, was allerdings den Vorteil hatte, dass die "Musik" meine Aufmerksamkeit nicht mehr so sehr fesselte.

Irgendwann hatte der Höllentrip ein Ende, die Ponies wurden vor dem Haus der Schwägerinmutter zum Halten gebracht, der Planwagen entladen, die Spirituosen wurden hinters Haus auf die Terrasse getragen, und ich konnte endlich. Die Stimmung stieg schlagartig, als es uns möglich war, Schwieger- und Schwägerinmutter aneinandergelehnt am Rande des Rasens zu parken und die stundenlang ertragene räumliche Enge durch ein Fußballspiel mit den Kindern auf dem Rasen zu kompensieren. Es wurde sogar noch richtig warm.

Trotzdem: Wenn's doch nur einmal ohne die Sauferei ginge. Kein Familienfest ohne "... noch ein Sektchen!"

Nie wieder Muttertag. Nicht so. Nichtmal aus Höflichkeit. Nächstes Jahr haben wir wieder eine Ausrede.

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Donnerstag, 10. Mai 2012
Ein Wort zur Hausarbeit
Neulich las ich doch irgendwo im Netz, wie eine Supermom betonte, nicht den ganzen Tag etwa nichts gemacht zu haben (wovon sie chronisch meint, dass ihr das immer unterstellt würde), sondern vier (!) Waschmaschinen durchgewaschen, die Wäsche getrocknet und zusammengenommen zu haben. Und das neben der ganzen anderen Hausarbeit. Wow, Supermom! Vier Waschmaschinen, der helle Wahnsinn.

Hausarbeit ist das, was gemacht werden muss, will man nicht verwildern. Der eine verwildert mehr als der andere, und was Schinken-auf-dem-Fußboden-schneide-Fanatiker schon als gammelig betrachten, gehört für Mittelmaßmenschen zum normalen Lebensumfelds-Erscheinungsbild, während es natürlich auch Leute ohne jeglichen Sinn für Ordnung und Sauberkeit geben mag, die inmitten von Pfandflaschen, Angebranntem in Töpfen und randvollen Aschenbechern leben können. Fest steht jedenfalls, dass eigentlich immer Hausarbeit anfällt, und das sogar ganz unabhängig davon, ob man Kinder hat oder nicht. Mit Kindern ist es natürlich mehr, was aber nicht den Umkehrschluss erlaubt, Kinderlose oder Singles müssten sich niemals die Finger schmutzig machen und lebten nur in weitläufigen Lofts mit Putzfrau.

Die Hausarbeit wurde in der Vergangenheit hauptsächlich den Frauen zugewiesen, und an dieser Zweiteilung (Mann, Lohnarbeit, außer Haus - Frau, Hausarbeit, Kindererziehung) halten sich so manche bis heute fest und glauben gar, diese Zuordnung sei "natürlich". Es sind bemerkenswerterweise nicht allein die Männer, die das tun (die Entscheidungsgewalt des Mannes darüber, ob seine Frau arbeiten geht oder nicht, wurde ohnehin bereits 1977 aufgehoben). Es gibt allerhand Frauen, die sich freiwillig entscheiden, es so zu machen und diese Freiwilligkeit auch betonen. Andererseits fordern aber genau diese Frauen häufig "mehr Anerkennung" für die Hausarbeit, die sie erledigen.

Eine Frage, die sich mir da aufdrängt, ist: Anerkennung von wem? Irgend etwas veranlasst diese Frauen dazu, sich vernachlässigt, missachtet und ungenügend gewürdigt zu fühlen in ihrem Tun. Ist da etwa die Anerkennung der ganzen Gesellschaft nötig, um dieses Gefühl zu kompensieren? Und auf welche Weise soll das geschehen? Sollen wir alle jetzt den Betreffenden jeden Tag Fleißkärtchen in die Briefkästen werfen?

Verehrte Frau (beliebigen Namen einsetzen), ich drücke Ihnen meine Hochachtung dafür aus, dass Sie heute

() die Karottenflecken aus Juniors Strampelanzug entfernt
() ihrem Mann das Hemd gebügelt
() das Katzenklo gesäubert
() den klebrigen Küchenfußboden aufgewischt
() die Urinspritzer rund um die Toilette beseitigt
() die dreckigen Socken aufgelesen
() ihrem Mann ein ausgewogenes und schmackhaftes Lunchpaket gepackt
() die Spinnweben in der Zimmerecke weggemacht
() viermal die Waschmaschine betätigt
() sonstiges

haben.

(Zutreffendes ankreuzen, Mehrfachnennungen sind möglich und vor allem hochwillkommen).

Freundliche Grüße, ein(e) dankbare(r) anonyme(r) Mitbürger(in).


Ach, Moment. Wenn ich's recht bedenke, macht sie da doch die Flecken weg, die sie und ihre Familie verursacht haben. Sie packt ihrem Mann das Essen ein, nicht meinem. Warum also sollte die gesamte Gesellschaft für diese letztlich doch eigennützigen Tätigkeiten ihre Anerkennung ausdrücken? Wieso sollte permanent das gesamte Umfeld betonen, wie toll die betreffende Frau das macht, wenn sie es doch für sich und die ihren tut, während alle anderen (abgesehen von solchen Ausnahmefällen, die Personal dafür beschäftigen) genau dasselbe auch für sich erledigen?

Ich finde es vermessen, von der Gesellschaft oder gar vom Staat für die Haushalts- und auch Erziehungstätigkeiten Anerkennung zu fordern. Denn die betreffende Person erhält schon entsprechende Anerkennung, und zwar in der Form, dass sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen muss, sondern von jemand anderem versorgt wird. Sie muss sich ihr Essen nicht verdienen, sondern es nur zubereiten. Sie muss die Heizung nicht bezahlen, sondern nur aufdrehen. Sie hat sich für eine Arbeitsteilung entschieden, von der sie durchaus auch profitiert. Denn auch Berufstätige haben einen Haushalt zu versorgen und tun dies gleichzeitig zu ihrer Arbeit, und ich möchte behaupten, sie machen es nicht unbedingt schlechter.

Den nur-arbeitenden Mann allerdings, der im Haushalt keinen Finger krumm macht und die entsprechende Arbeit aus den Händen anderer auch nicht zu würdigen weiß, haben sich betreffende Damen zum Teil selbst gezüchtet und sind somit Mit-Urheberinnen ihrer eigenen "Misere". Zur Rechtfertigung, dass er sich nicht um den Haushalt kümmert, führen gerade diese Personen häufig an: "Na, er geht ja auch arbeiten!" Na also. Entweder man lässt sich auf die Rechnung ein und ist dann damit auch zufrieden, oder man ändert es. Herumjammern hilft da wenig. So lange betreffende Frau nicht bereit ist, ihrem Versorger-Mann jeden Tag zu sagen "Ach, Schatz, ich bin Dir so dankbar, dass Du mich durchfütterst!", kann sie meines Erachtens auch nicht erwarten, dass er ihr jeden Tag sagt "Ach Mausi, schön hast Du wieder gestaubsaugt!" Sie haben dieses Abkommen nun einmal so getroffen.

Ich habe das Glück, mit einem Mann zusammenzuleben, der sich jahrelang allein um seine Wohnung gekümmert hat, während wir eine Wochenendbeziehung führten. Er weiß, dass es ekelhaft sein kann, Toiletten zu putzen, weil er das selbst gelernt und gemacht hat (und zählt daher auch nicht zu der Gruppe Männer, die man erst zum Sitzpinkeln überreden muss). Er weiß, dass er staubsaugen muss, wenn er nicht will, dass sich irgendwelche Krümel festtreten, und dass es sinnvoll ist, Töpfe abzuwaschen, wenn man irgendwann mal wieder kochen will. Für problematisch in der ganzen Sache halte ich ganz besonders diejenigen Männer, die von ihren Müttern übergangslos an Ehefrauen weitergereicht werden, ohne jemals irgendeine Form der selbständigen Versorgung und Haushaltsführung gelernt zu haben. Auf diese Weise tradieren sich Rollenzuschreibungen, und weshalb auch sollte der liebe Ehegatte Dankbarkeit oder Engagement zeigen, wenn er es gewohnt ist, dass vor allem oder ganz und gar die Frau sich um die Hausarbeit zu kümmern hat? An elterlichen Vorbildern und Anforderungen kann er es ja nicht gelernt haben.

Engagement und Teilhabe an der Hausarbeit ist allerdings das einzige, was ich für ein probates Mittel halte, Anerkennung auszudrücken bzw. diese Form der Arbeit "aufzuwerten". Indem ein Mann sich ebenfalls wie selbstverständlich im Haushalt betätigt, zeigt er, dass er sich nicht zu fein dafür ist und sie, wenn auch manchmal für unangenehm, nicht für minderwertig hält. Dasselbe gilt auch für Kindererziehung. Im Gegenzug wäre es natürlich angebracht, wenn sich Frauen auch mit Erwerbsarbeit auseinandersetzten, denn die ist beileibe auch nicht immer angenehm, und Verantwortung für die Finanzen zu tragen kann eine erhebliche Bürde sein. Sie hat allerdings den Vorteil, dass man sie an den eigenen Neigungen und Fähigkeiten ausrichten kann, was in Sachen Haushalt eben nicht immer der Fall ist.

Mein Mann hilft nicht nur im Haushalt. Wir betrachten das als eine gemeinsame Aufgabe, die sicherstellt, dass wir uns in unserem Lebensumfeld wohlfühlen. Der Gatte spült das dreckige Geschirr und hält die Küche sauber, was ich hasse wie die Pest. Ich wasche und bügle, was er wiederum nicht besonders leiden kann. Zum Staubsauger greifen wir beide. Die Klos putzen wir auch beide. Er bringt den Müll raus. Ich gieße die Blumen. Er mäht den Rasen. Ich schneide die Hecke. Etcetera, etcetera. Natürlich tut auch mal einer mehr als der andere. Oder der andere mehr als der eine. Fest steht, dass ihm niemals einfallen würde zu sagen: "Putz Du das Klo, das ist Deine Aufgabe, Du bist eine Frau!"

Für mich ist dieses Verhältnis in der Arbeitsteilung eine Selbstverständlichkeit, und ich wäre absolut nicht bereit, irgend etwas anderes zu akzeptieren. Meine Freundin I., die wegen chronischer Krankheit voll und ganz auf das Gehalt ihres Mannes angewiesen ist und schlicht nicht arbeiten kann, sagt mir, dass sie sich für den Haushalt zuständig fühlt und dort so viel machen möchte, wie es ihre Kräfte zulassen. Zum Teil aus Dankbarkeit ihrem Mann gegenüber, der selten mault und viel anpackt, zum Teil auch aus Pflichtgefühl und aus dem Wunsch heraus, etwas beizutragen. Auch das finde ich nachvollziehbar. Sie beschwert sich über diese Rollenverteilung allerdings auch nie, selbst wenn sie in ihrer misslichen Lage, einfach nicht so viel zu können, wie sie gern würde, durchaus wirklichen Grund zu Kummer hätte.

Ich verstehe einfach diejenigen nicht, die finden, es sollte ein Erziehungsgehalt, Betreuungsgeld, Hausfrauengehalt oder wie immer man es nun nennen möchte, vom Staat geben. Es ist der Versuch, den Unterschied zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit aufzuheben und auch die Reproduktionsarbeit (insbesondere die Erziehung von Kindern, die oft als uneigennützige und gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet wird) in den monetären Sektor zu "heben". Das ist aber eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Lohnarbeit, die mit der Schaffung von Mehrwert durch den Einsatz menschlicher Arbeitskraft einhergeht, ist nicht mit Haus- und Erziehungsarbeit gleichzusetzen, da nichts produziert wird, was gegen Geld konsumiert werden kann. Unser Problem dabei ist nicht, dass Hausarbeit keinen Wert hätte, sondern dass wir nur jene Verrichtungen und Arbeiten wirklich anerkennen wollen, die bezahlt werden und dass Geld das einzige ist, dem wir einen Wert zuschreiben. Die vermeintlich simple Lösung, Hausarbeit monetär zu werten und in der Konsequenz auch zu bezahlen, geht nicht auf und basiert auf dem unzulässigen Umkehrschluss, dass was bezahlt würde dadurch auch einen Wert erhalte. Ein Hausfrauengehalt bezahlte die gesamte Gesellschaft von ihren Reserven, für die vorher fröhlich wertgeschöpft werden muss durch Lohnarbeit. Bekanntermaßen wird aber gar nicht so viel wertgeschöpft, sondern eher hoch verschuldet. Das alles zur Bezahlung einer Arbeit, die sich nicht in einen Wert-Zusammenhang stellen lässt und sich der monetären Berechnung entzieht. Trocken betrachtet ist das eine Verlustrechnung.

Dennoch klammern sich viele vor allem konservative Frauen an diese Idee und werten jegliche (natürlich gerade wieder aktuelle) Kritik am Betreuungsgeld als Minderbewertung ihres eigenen Lebensentwurfes. Von Zuschreibungen wie "dummes Hausmuttchen" spreche ich in diesem Kontext mal nicht, weil jede für sich selbst wissen muss, ob sie sich durch die Verrichtung geistig nicht sonderlich anspruchsvoller und redundanter Tätigkeiten herausgefordert und erfüllt fühlt oder nicht und ob sie es bevorzugt, sich über ihre Rolle und Funktion als Hausfrau und Mutter zu definieren oder lieber ihren Fähigkeiten Raum gibt (wobei es natürlich auch Frauen geben soll, die tatsächlich nichts anderes können). Das ist immer auch eine persönliche Entscheidung. Aber wenn ebenjene gebetsmühlenartig wiederholen, sie seien total happy mit dieser Wahl und gingen darin auf, dann widerspricht dies der penetranten Forderung nach der Anerkennung ihrer Tätigkeiten (auch finanzieller Art). Dann lässt sich aus der reinen Haus- und Erziehungsarbeit offenbar doch nicht genügend Selbstwertgefühl schöpfen, als dass nicht doch ein Hungergefühl nach dauernder Belobigung von außen verbliebe.

Dieser Widerspruch gibt mir zu denken und deckt sich mit meiner Annahme, dass vielleicht hinter den Kulissen des Hausfrauendaseins doch nicht so eitel Sonnenschein herrscht, wie manche dieser Frauen vorgeben. An der Frustration, die die Beschränkung auf die Hausfrauenrolle und der vollkommene Bezug auf andere mit sich bringt, werden aber auch 150 Euro Betreuungsgeld nichts ändern. Das ist, als schöpfe man seinen Dispokredit aus, ließe sich die Kohle in Scheinen auszahlen und verbrennte diese dann im Kamin. Es wird nie genug sein, es ist ein Fass ohne Boden. Denn die Wertschätzung, die sich so manche Hausfrau und Mutter erhofft, steigert sich nicht durch Bezahlung. Natürlich ist jeder Mensch auf Anerkennung für das, was er tut, angewiesen. Ganz ohne geht es nicht, auch nicht in der Lohnarbeit (wie zahllose frustrierte Arbeitnehmer belegen). Während aber Frust über den Job durchaus Ausdruck finden darf und gestresste Arbeitnehmer abends mit einem "Puh!" aufs Sofa fallen dürfen, ist dieses Verhalten für Vollzeithausfrauen und -mütter inakzeptabel. Es gehört zum Selbstbild bestimmter Frauen, vollkommenes Glück in diesen Tätigkeiten finden zu wollen und das auch permanent nach außen zu demonstrieren, obwohl sie (und das schließt die Erziehung der Kinder mit ein) bisweilen verdammt anstrengend, fordernd, öde und nervig sein können. Anstatt das aber zuzugeben, projizieren sie ihre Unzufriedenheit nach außen und jammern darüber, diese Arbeiten würden nicht anerkannt. Es ist schließlich doch wichtiger, die Rollenerwartungen zu erfüllen und von sich zu sagen "Ich bin eine gute Mutter!", "Ich mache meinen Haushalt gern!", "Ich bin immer für meinen Mann und meine Kinder da!", "Ich habe alles im Griff!", als den Tatsachen in die Augen zu sehen, sich selbst mehr gerecht zu werden und dann Dinge anders zu machen und andere Wege zu finden. Schuld an der eigenen Unterbewertung sind dann immer die anderen.

Es ist, als würden solche Frauen durch das Gebrauchtwerden geadelt, und deshalb können sie diese Rolle auch nicht loslassen. Allerdings haben bereits Generationen vor uns Gebrauchtwerden mit Achtung und Liebe verwechselt und sind daran unglücklich geworden. "Guck doch, was ich alles für Dich tue!" erzeugt keine Dankbarkeit, sondern ein schlechtes Gewissen. Die Frage ist bloß, wie lange wir dieses unsinnige und widersprüchliche Frauenbild noch weiter züchten wollen (und mit ihm übrigens auch ein verqueres Männerbild). Ich finde die Forderung nach dem Hausfrauengehalt unverschämt, weil damit der Gesamtheit ungerechtfertigt eine Last aufgebürdet wird, nur weil ein Teil der Bevölkerung es nicht hinbekommt, in Frage zu stellen, was ihm seit Jahrzehnten und Jahrhunderten vorgekaut wurde. Es wird Zeit, die gloriose, aufopferungsvolle Frau und Mutter zu ermorden und sich mit dem fehlbaren Menschen anzufreunden. Dann braucht man sich auch nicht einzureden, "Familienmanagerin" zu sein (auch diese Begrifflichkeit ist ein Versuch, Reproduktionstätigkeiten in den wertigeren Bereich der Lohnarbeit zu liften) und beleidigt zu sein, wenn jemand diesen Status in Frage stellt.

Hausarbeit ist nicht immer schön und angenehm. Andere Arbeit auch nicht. Das Leben ist kein Ponyhof. Allerdings ist Hausarbeit auch längst nicht immer so fürchterlich, wie manche Frau betont. Das Gejammere über das, was nun einmal getan werden muss, ist in Wahrheit ein Gejammere über überkommene Rollen, die man sich nicht zu hinterfragen traut (genau so wie übrigens manche Frauen bis zum Erbrechen wiederholen, wie sie ihre Kinder unter unsäglichen Schmerzen geboren haben). Im Übrigen macht es die ganze Angelegenheit leichter und vor allem auch würdiger, wenn man die anfallende Arbeit partnerschaftlich teilt, anstatt sich in spezielle, angeblich natürliche Nischen zurückzuziehen und an der einseitigen Belastung schließlich innerlich zugrunde zu gehen.

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Dienstag, 10. April 2012
Das Recht auf Sterben
Auf dem Titelblatt der ADAC-Motorwelt (zugegebenermaßen nicht unbedingt bekannt für hochklassigen, qualifizierten Journalismus, aber dafür umso mehr Menschen zugänglich) sind in diesem Monat mal keine schnittigen Autos zu sehen. Statt dessen sieben in die Kamera strahlende, auf den ersten Blick ganz normal wirkende Leute. Darunter prangt dick in roter Schrift die Schlagzeile: "Danke, wir leben noch!"

Es ist soweit. In Deutschland sollen jetzt die Menschen von ihren Krankenversicherungen nach ihrer Bereitschaft zur Organspende befragt werden. Also ist das Thema auch wieder in den Medien präsent. Mir fällt aber auf, dass es nicht um eine ausgewogene Berichterstattung geht und das Für und Wider der Organspende sachlich dargestellt werden soll. Es geht schlicht und ergreifend darum, mehr Menschen zur Spende zu bewegen. Das Thema ist hochemotional, und es wird weiter emotionalisiert, weil man die Menschen nun einmal am besten bei ihren Gefühlen packen kann.

Das ADAC-Heftchen ist dabei nur ein Beispiel für den kritiklosen und tendenziösen Umgang mit dem Thema. Stellvertretend kann man auch jedes Krankenkassenmagazin oder die Bild-Zeitung aufschlagen. Wie es die Bäckerblume derzeit hält, weiß ich nicht.

"Danke, wir leben noch!" Die sieben Personen auf dem Cover des Auto-Hefts findet man auch im Innenteil wieder. Sie sind allesamt Transplantierte, und in kleinen Textblöcken steht neben ihren nunmehr ernst blickenden Gesichtern geschrieben, wie das so ist, das Leben nach der Transplantation. Die kleine Sophia, 9, liebt Ballett und reitet. Die Psychologin Carmen wollte für ihre beiden Kinder weiterleben. Emeran studiert jetzt und hat bei den Weltmeisterschaften für Transplantierte im Schwimmen zwei Goldmedaillen gewonnen. Katharina fährt in den Urlaub an die Adria. Und der 69jährige Helmut lässt vor lauter Dankbarkeit für den Spender jedes Jahr am Tage seiner Transplantation eine Messe lesen. Amen.

Es ist schön, dass diese Menschen leben. Im Artikel wird ein weiteres Schicksal beschrieben, auch hier ist es ein junger Mensch, dem das Leben gerettet wird, der jetzt eine Zukunftsperspektive hat, sich ins volle Leben stürzen kann. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wirbt: "Organspende schenkt Leben". Alles könnte so wunderbar sein, würden doch nur mehr Menschen Organe spenden. Das ist der Tenor der derzeit veröffentlichten Artikel. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie gut eine Organspende ist und wie viele Menschen noch gerettet werden könnten, würden wir nur alle mal unsere Hemmungen überwinden und unsere Spendebereitschaft dokumentieren.

Ich bin im Besitz eines Organspendeausweises. Nun ist es nicht so, dass mich das zu einem besseren Menschen macht, denn auf meinem Ausweis widerspreche ich der Entnahme von Organen nach meinem Tod. Ich bin keine, die Leben schenkt. Ich bin unmoralisch und egoistisch. Das ist doch das Fazit, das man aus der derzeitigen Berichterstattung ziehen könnte, oder nicht? Wenn die Organspende so eine tolle Sache ist, und ich keine von denen bin, die anderen Menschen auf diesem Wege ein neues Leben schenken möchte, dann bin ich einfach nur herzlos. Oh, pardon, ich habe meines ja noch.

Ich habe Einwände. Ich bin damit offensichtlich auch nicht die einzige. Der Transplantationsmediziner Meiser, fürs ADAC-Magazin ernst dreinblickend im weißen Kittel neben einem Ultraschallgerät posierend, gibt in einem separaten kleinen Interview seine persönliche Ansicht zu etwaigen Bedenken und Gegenargumenten zum Besten:

Frage: "Gegner von Organspenden behaupten, der Mensch verkomme nach dem Tod zum Ersatzteillager."
Meiser: "Wenn Sie so wollen, bin ich lieber ein Ersatzteillager als Madenfutter. Denn was wäre die Alternative? Ich sterbe, komme in die Grube, wo ich verwese. Dann ist es mir lieber, dass meine Organe das Leben anderer Menschen retten."

Ja, so einfach ist das. Auf diese für einen Prof. Dr. bemerkenswert stumpfe Aussage reduziert Meiser berechtigte Bedenken und ist dabei so routiniert, als habe er, einem Call-Center-Agent gleich, ein Protokoll zur Einwandbehandlung vor sich liegen, von dem er abläse. Aber schau an! Der Mann ist Präsident und Vorstandsmitglied von Eurotransplant und nicht einfach nur, wie die Autozeitschrift schreibt, Leiter des Transplantationszentrums München. Neutraler Gesprächspartner? Gewiss nicht. Auch den Rest dieses Interviews gestaltet er offenbar bewusst vage, spricht von "sehr guten Prognosen" für Transplantierte und dem Trost, den die Organspende auch für die Angehörigen des Spenders darstellen könne. Nun darf man aber sicher zu Recht annehmen, dass Herr Prof. Dr. Meiser die Risiken, Prognosen und Statistiken genauer kennt und weiß, dass im Klinikalltag längst nicht alles so rosig ist, wie die glücklichen Gesichter der Transplantierten in diesem Artikel glauben machen wollen.

Es stimmt. Ich sterbe und komme in die Grube und verwese (ich meinerseits in den Ofen und verbrenne). Keine Illusionen, keine Verklärungen. Ich kann damit umgehen. Das, was Herr Meiser da allerdings auf Nachfrage dem Leser um die Ohren haut, ist eine schonungslose und schroffe Antwort auf sehr menschliche Befürchtungen und sehr stichhaltige Argumente. Er spricht nicht von sich, sondern sagt eigentlich: "Ach, stell Dich doch nicht so an, Du beißt eh ins Gras. Wirf Deine ethischen, moralischen und persönlichen Bedenken über Bord und stelle Deinen Körper zur Verfügung, denn alles andere ist reine Ressourcenverschwendung!"

Auf meinem Organspendeausweis steht:
"Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben zur Transplantation in Frage kommt, erkläre ich (...)" (Hervorhebung im Original).

Und da fängt das Problem an. Es gibt selbstverständlich Richtlinien zur Definition des Hirntods. Auf der von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung betriebenen Webseite www.organspende-info.de wird unter der Fragestellung "Wann ist ein Mensch tot?" konstatiert, der Hirntod sei ein sicheres Todeszeichen. Weiter heißt es: "Er ist nach weltweit anerkanntem naturwissenschaftlich-medizinischem Erkenntnisstand ein sicheres Todeszeichen des Menschen. Denn mit dem Ausfall der Gesamtfunktion des Gehirns ist die leiblich-seelische/körperlich-geistige/physisch-metaphysische Einheit unwiederbringlich beendet, die jeder Mensch darstellt."

Das jedoch ist eine Anmaßung. Irreversibel mag er sein, der Tod des Gehirns. Fraglich ist zumindest, ob das gesamte Gehirn tot ist. Inwieweit dieser Zustand aber gleichzusetzen ist mit dem Ende des Bewusstseins, der Aktivität verschiedenster Zellen im Körper und der des Lebens eines Menschen schlechthin, das wissen wir einfach nicht. Alles, was wir wissen ist, wie es aussieht, wenn ein EEG eine Nulllinie zeigt.

In der "Zeit" gab es einen lesenswerten Artikel über unterschiedliche Definitionen des Todes und des Hirntod-Begriffs und die damit verbundenen ethischen Fragestellungen. Darin ist zu lesen:

"Das Gehirn, die zentrale Steuerungseinheit für den Organismus, sei die Verkörperung des humanen Prinzips, meinen die Hirntod-Befürworter und argumentieren wie folgt: Ohne Gehirn sei Atmung nicht möglich. Der hirntote Mensch sei zwar physisches Dasein auf zellulärer Ebene, jedoch ohne Verstandestätigkeit und soziale Interaktion – und das sei Vegetieren, nicht Leben. "Der Mensch als einzigartiges Geschöpf existiert nicht mehr, wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert", sagt Walter Haupt, Universitätsprofessor und leitender Oberarzt an der Universität Köln. Ein von außen künstlich aufrechterhaltener Körper mit totem Gehirn ist nach Haupts Auffassung kein Individuum mehr. Schalte man den Respirator ab, breche der Kreislauf in kürzester Zeit zusammen, das Herz stehe still. In dieser Logik wird das Menschenleben gleichgesetzt mit körperlicher und geistiger Autonomie des Individuums."

Man könne den Menschen aber auch anders begreifen, als "(...) holistisches System also, das erst in totaler Desintegration ende."

Ließe man es allerdings zu dieser Desintegration kommen, dann wäre es aus mit der Entnahme transplantationsfähiger Organe. Dann könnten nicht, wie es die ADAC-Motorwelt so schön vereinfacht schreibt, acht Menschenleben gerettet werden. Denn nach der "Feststellung" des Hirntods beginnen allerhand Rädchen, sich zu drehen, um die Organe transplantierbar zu halten. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation listet die Maßnahmen unter dem Stichwort "Organprotektive Intensivtherapie" säuberlich auf. Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutzucker und noch viele weitere Parameter werden penibel genau eingestellt. Es wird Leben simuliert, denn sonst stürbe, was per definitionem angeblich schon tot ist.

Stimmt, ein Hirntoter wird nicht von allein wieder beginnen zu atmen. Nach Abschalten der Maschinen geschähe, was ganz natürlich ist. Er stirbt. Alles von ihm stirbt, wenn man es lässt. Irgendwann auch die letzte Zelle. Und all die bunten, glänzenden Dinge, die ein Brustkorb, eine Bauchhöhle bergen und die viele süße kleine Sophies, die so gern Ballett machen und reiten, so gut brauchen könnten, sterben mit diesem Menschen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es in unserem Grundgesetz geschrieben. Ich bin der Auffassung, das hat auch für sterbende Menschen zu gelten. Sterben ist ein Prozess, in dem der Mensch ein Anrecht auf seine Würde hat. Selbst dann, wenn ich menschliches Gemüse bin und auch nicht die geringste Aussicht darauf besteht, dass ich qua Spontanheilung aus meinem Bett hüpfe, selbst dann, wenn Mediziner keine wie auch immer gearteten Therapien mehr an mir probieren würden und mich aufgäben, selbst dann habe ich ein Recht auf meine Würde und meinen Sterbeprozess.

Herr Meiser hat nicht verstanden, dass der Unterschied zwischen Madenfutter und Ersatzteillager in der Würde des Sterbevorgangs begründet liegt. Wenn ich Madenfutter bin, dann bin ich tot. Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich noch als Ersatzteillager für andere Menschen dienen kann, bin ich noch am Leben. Was in diesem Zustand alles noch möglich ist, bis hin zum erfolgreichen Austragen eines Kindes, ist der modernen Medizin geschuldet. Was gemacht werden kann, wird gemacht werden.

In diesem Land braucht es dazu zur Zeit noch, was man "informed consent" nennt – die informierte Zustimmung des Betroffenen oder seiner engsten Angehörigen. Was "informiert" bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Mir scheint, für engagierte Transplantationsmediziner bedeutet "informiert" vor allem "meiner Meinung". Die Festsetzung eines Todeszeitpunktes nach Kriterien, die es ermöglichen, jemanden als "kein Individuum" mehr zu bezeichnen und zugleich Zugriff zu erhalten auf lebensfähige Organe, ist kein Zufall.

Aber selbstverständlich geht keiner dieser engagierten Mediziner hin und sagt den potentiellen Spendern deutlich: "Wir wissen nicht genau, wie Sterben eigentlich vor sich geht!" Lieber betont man, die Spender seien schmerzfrei, Zuckungen auf dem OP-Tisch seien nur dem Rückenmark zuzuschreiben, und Bewusstsein sei ohnehin keines mehr da. Aber noch viel lieber hält man der Menschheit das Bild einer kleinen, ballettanzenden Sophie vor die Nase und erzählt, dass die Kleine längst nicht mehr so schön tanzen würde, wenn sie kein Spenderorgan erhalten hätte.

Informierte Zustimmung ist etwas anderes. Ganz offen wird kommuniziert, dass man mehr Menschen dazu bewegen möchte, Organspender zu werden. Bei der Erreichung dieses hehren Ziels ist der Einsatz einseitiger Berichterstattung ein erlaubtes und probates Mittel. Verschwiegen wird, was unbequem ist. Man spricht kaum über Abstoßungsreaktionen und Überlebensraten, und wirklich umfängliche und detaillierte Zahlen hierzu habe ich auch noch nirgends gefunden.

Der "Zeit"-Artikel fragt:
"Ist der Prozess des Sterbens ein Teil des Lebens? (…) Ein neuer Todesbegriff würde sich erst dann herausbilden, wenn sich der Geist der Zeit umkehrt. Der ist aber nach Lage der Dinge auf ein glückseliges, schmerzfreies, stets reparables Leben ausgerichtet – im Sinne eines pragmatischen Materialismus (…)."

Pragmatischer Materialismus. So lange es darum geht, zu machen, was gemacht werden kann, ist in der Tat das Recht auf das eigene Sterben sekundär, und das einzige anerkannte Verständnis von Leben und Tod ist dasjenige, das dieser Mentalität entgegenkommt.

So bleibt mir nur, meine Meinung deutlich auf einer Karte mit mir herumzutragen, um sicherzugehen, dass ich in Ruhe den Löffel abgeben kann. Dass mich das stigmatisiert als Menschen ohne jeglichen Sinn für Nächstenliebe, das werte ich denn auch als Ausdruck von Zeitgeist und hoffe, es kommen einmal bessere Zeiten.

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Donnerstag, 5. April 2012
Dammbruch
Da stehen sie jetzt, mit Schildern, auf denen steht:

"Es tut uns Leid!"
"Ihr seid herzlich willkommen!"

Kollektivem Hass folgt jetzt das kollektive schlechte Gewissen.

Mit knapp 52.000 Einwohnern ist Emden ein Kaff, in dem sich Leute kennen und wissen, wer wo wohnt, wie wer heißt, wie wessen Geschwister, Eltern und Freunde heißen, woher jemand kommt und wohin jemand geht. Damit unterscheidet sich Emden wahrscheinlich nicht von anderen Städten in Deutschland. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass es sich sonst groß unterscheidet.

Ich glaube, in jeder Stadt gäbe es Leute, die zur Lynchjustiz aufriefen, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu böte. Ich mache mir keine Illusionen darüber, wie die Menschen ticken. Sobald jemand kommt, der die passenden Worte wählt und die Wut in den Leuten weckt, schürt und schließlich legitimiert, greift man sich die sprichwörtliche Heugabel und geht Häuser anzünden.

Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich schon wieder einen Beitrag über den Volkszorn verfassen will. Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber es bewegt mich immer wieder aufs Neue, was in den Menschen wohl vorgehen mag, dass sie derart den Verstand verlieren. Das Thema trieb mich bereits um, seit das Mädchen tot aufgefunden wurde, weil ich wusste, dass es wieder einmal zu "Schwanz ab"-Schreien kommen würde. Dazu braucht man auch kein Prophet zu sein.

Der Gemahl und ich sprachen darüber, morgens im Bad, oder auf dem Weg zum Auto. Ich musste an Trayvon Martin denken, der auch jemandem verdächtig vorkam und deshalb erschossen wurde. Der Junge war 17, und er wollte sich nur von der Tankstelle etwas zu Knabbern und Trinken holen. Aber in Amerika gilt der Black Male Code – will heißen, jeder, der schwarz und männlich ist, läuft Gefahr, von irgendwem für verdächtig gehalten zu werden. Da greift der Ami gern schon mal zur Waffe.

"Kennst Du die Geschichte von Jesse Washington?", fragt mich der Gatte, und er erzählt sie mir. Später am Tag mache ich dann den Fehler und benutze die Google-Bildersuche, und schließlich ist mir beinahe schlecht, und tiefstes Entsetzen ergreift mich angesichts der puren, unverschleierten Boshaftigkeit, die der Mensch in sich trägt. "This is the Barbecue we had last night..."

Aber, ach, das hat ja alles nichts mit Emden zu tun. Das war Amerika, das Land, in dem sich jeder mit der Waffe "verteidigen" darf. Sowas passiert bei uns ja nicht...

Das Netz macht's möglich, dass ein jeder schreibt. Das ist ja auch gut so. Das Netz bietet schließlich auch mir die Möglichkeit, meine Gedanken an die große Glocke zu hängen. Ich bin der Auffassung, dass es nicht das Netz selbst ist, das irgendwelche Abscheulichkeiten in den Menschen zutage fördert. Aber seine Meinung an jede Ecke pinkeln zu können und dafür mehr oder weniger garantiert auch eine Leserschaft zu finden, macht manch einen hemmungslos, und so bricht auf wie ein Geschwür, was in den Menschen schwärt. Wann immer irgendwo ein Kind zu Tode gebracht oder ein Sexualverbrechen begangen wird, sind diejenigen nicht weit, die verbal die Keule schwingen. Das Netz bietet eine Plattform, alles das zu äußern, was im realen Leben möglicherweise noch durch das soziale Umfeld sanktioniert und abgeschwächt würde. Unverhüllt zeigt sich dann, dass der Mensch dem Menschen doch ein Wolf ist, und man wähnt sich im plötzlich doch beinahe im Texas des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts.

Schauen Sie sich die Postkarte vom Lynchmord an Jesse Washington genau an. Nicht den verbrannten, verstümmelten Leichnam des 17jährigen Jungen, der da hängt, sondern die Gesichter der Umstehenden. Die Standhaftigkeit in ihren Gesichtern, die festen Blicke, die zu sagen scheinen: "Schaut uns an. Wir haben für Ordnung gesorgt. Die Sache in die Hand genommen!" Das ist die felsenfeste Überzeugung von der eigenen Rechtschaffenheit, das ist Genugtuung, das ist beinahe schon Stolz.

Ganz genau diese Einstellung, die sich da in den Augen der Bewohner von Waco spiegelt, findet sich in jedem dieser Netz-Kommentare deutlich spürbar wieder, mehr als 110 Jahre später, in einer anderen Welt, einem anderen Land. Sie ist es, die mir Angst macht. Angesichts einer solchen Auffassung von Recht und Ordnung, von Gut und Böse, Schwarz und Weiß wird die Wirklichkeit nichtig. So spielen Schuld und Unschuld, Gesetz und Gericht, Strafe und Entschädigung nicht die geringste Rolle mehr. Es gibt angesichts dieser inneren Realität der Menschen kein Maß mehr als das eigene, keinen gesellschaftlichen Konsens, keine Regeln. Es gibt kein Gefühl mehr als den eigenen Hass, der sich auf den anderen entlädt, gleich, wer er ist.

Ich lasse mir gern nachsagen, in dieser Angelegenheit zu sensibel zu sein, und ich werde es bleiben. Die Bürger von Emden werden ihren zu Unrecht Verdächtigten nicht wieder zurückbekommen, und wenn sie noch so viele Plakate vor die Fernsehkameras halten, denn was sie eigentlich gern zurück hätten – ihre Unschuld – werden sie vergeblich suchen.

Wer nicht denkt, bevor er schreit, hat es nicht besser verdient.

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Samstag, 31. März 2012
Ein eigenes Zimmer
Wenn ich bei Herrn Damals drüben etwas lese über Doppelverdienerpärchen und Kleinfamilien und die Unterschiede in deren Lebensverhältnissen, dann weiß ich durchaus, wie ich das zu nehmen habe. Ich weiß, dass der, der dort schreibt, ein nachdenklicher Mensch ist, der keine Pauschalverurteilungen vornimmt.

Im Allgemeinen scheint es allerdings so zu sein, dass sich sehr viele Menschen weniger über das definieren, was sie leben und haben, sondern darüber, wie viel sie dafür investieren müssen, wie sehr sie leiden und was sie entbehren oder aufwenden müssen. Dieses Verhalten beobachte ich immer wieder insbesondere bei Familien. Mir begegnen Mütter, die sich (natürlich aber immer nur indirekt und durch die Blume) über ihren Mangel an Freiheiten beschweren und darüber, ständig verfügbar sein zu müssen. Gleichzeitig betonen sie, dass sie es für die Kinder, für die Familie selbstverständlich gern tun. Ebenso die Väter, die sich in ihrem Job aufreiben, damit den Kindern der Flötenunterricht bezahlt werden kann (oder vielleicht auch einfach nur Kleidung, Essen, Obdach – je nach Verdienstniveau) und der Frau das Privileg, zuhause zu bleiben und sich voll und ganz dem Wohle der Familie zu widmen. Und gleichzeitig betonen sie, dass sie es für die Kinder, für die Familie selbstverständlich gern tun. Oder beide arbeiten und haben dann natürlich noch viel mehr Stress, betonen aber, dass sie es für die Kinder, für die Familie selbstverständlich gern tun.

Herr Damals schrieb nun: “(...) man kommt zu leicht in so Neidgedanken rein, die keinen Sinn ergeben.“ Das finde ich zum Teil sogar nachvollziehbar, investiert doch ein Familienvater das sauer Verdiente anders als jemand, der keine Kinder hat. Klar kann man da neidisch sein, dass andere Menschen mehr Freizeit haben, nicht jeden Pfennig umdrehen müssen, anders konsumieren, anders mit Raum und Zeit umgehen können.

Was mich stört, ist diese Mentalität, die heute ein Bild von Kinderlosen als rücksichtslosen Karriereschweinen zeichnet, die fünfmal im Jahr in den Urlaub fahren, sich überteuerte Wohnungen leisten und auch sonst ziemlich konsumfixiert sind, allerdings überhaupt nicht bereit, sozial zu denken und zu handeln. Ich bin mir bewusst, dass das ein Dauerthema bei mir ist – das aber nicht zu Unrecht. Es stößt mir einfach sauer auf und ich möchte betonen, dass mir die selbstgerechte Larmoyanz mancher Eltern und Familien gewaltig auf den Geist geht. Ich finde sie einfach nur anstrengend und auch deshalb unfair, weil sie die Bevölkerung anhand von sehr fragwürdigen Kriterien in einen guten, zunkunftsorientierten und sozialen Teil (Eltern) und einen kalten, rücksichtslosen und gierigen Teil (DINKs, gewollt Kinderlose) spaltet.

Fragwürdig finde ich daran, dass es in der Hauptsache nicht darum zu gehen scheint, wie jemand tatsächlich lebt, sondern was er für seinen Lebensstandard an Energie, Zeit und Geld aufwenden muss. Niemand sagt, dass es einfach ist, eine Familie sowohl emotional als auch materiell zu versorgen, aber was manche Eltern betreiben, gleicht inzwischen mehr einem Leidenswettbewerb als einer aufrichtigen Bejahung ihres Lebensmodells. Im Gegenzug sollen dann die, die es leichter haben, sich gefälligst dafür schämen.

Ja, ich habe ein Zimmer für mich. Im Woolfschen Sinne ist das unabdingbar, und so empfinde ich es auch. Meine Schwägerin beneidete mich schon oft um dieses Zimmer, das ein lichtdurchfluteter, ruhiger Rückzugsraum unter dem Dach ist – mein unangetastetes Refugium, das ich einfach nötig habe, weil Privatsphäre nun einmal so wichtig ist wie die Luft zum Atmen (auch, wenn aus mir deshalb nicht zwangsläufig eine erfolgreiche Autorin wird...). Ich verstehe diesbezüglich den Neid meiner Schwägerin, denn es ist ein sauberer, wenig bitterer Neid, ähnlich wie der von Herrn Damals, den ich ihm auch nicht übel nehme. Aber soll ich mich meines eigenen Zimmers wegen schämen? Soll ich jetzt in einen Wettbewerb eintreten, in dem es darum geht, wie viel ich für dieses Zimmer getan habe, sprich, für den Umstand, dass mein Mann und ich zusammen in einem Haus leben können, das uns diese Möglichkeit des Rückzugs bietet? Ich denke ja gar nicht daran. Was soll das für eine merkwürdige Art sein, dieses Herausstellen der Tatsache, dass man das, was man besitzt, auch wirklich verdient hat und dass man es trotz aller Privilegien schwer hatte?

Da freue ich mich doch lieber über das, was mir gegeben ist. Das ist in meinen Augen definitiv die bessere Art, sich dem Leben gegenüber dankbar zu erweisen.

Es ist dieses Hadern vieler Familienväter und -mütter, das mich gallig macht. Es wirkt, als seien Kinder das größte Übel, das ihnen je zugestoßen sei, weil deren Existenz ihre Lebensumstände so derart schwierig macht, dass sie sich ständig benachteiligt fühlen. Es wird gejammert über Wäscheberge, die man zu bewältigen hat und über Kita-Erzieherinnen, die eigentlich von den wirklichen Bedürfnissen der Kinder keinen Schimmer haben (den hat natürlich nur eine leibliche Mutter), über die Leute, die sich an einer Supermarktkasse darüber aufregen, dass ihnen der Kinderwagen in die Hacken geschoben wird oder darüber, dass die Kinder laut sind. Manche Menschen gehen mit ihrer Elternschaft um, als sei diese per se schon ein Verdienst, eine Investition, die sie dazu berechtigt, sich anderweitig rücksichtslos zu verhalten. Und damit verhalten sie sich exakt so, wie sie es Menschen unterstellen, die dafür kein Verständnis aufbringen.

Es fällt mir schon auf, dass die sogenannten DINKs im Bezug auf die Dinge, die sie entbehren, viel weniger lamentieren als Familienmenschen. Nur selten hört man Jammern darüber, wie freudlos beispielsweise das eigene Leben doch sei ohne Kinder und wie wenig lebendig, wie sinn- oder ziellos, wie still das eigene Heim ohne das Getrappel kleiner Füße. Liegt es daran, dass Menschen ohne Kinder tatsächlich das asoziale, reiche, privilegierte Pack sind, als das sie hingestellt werden? Dass sie tatsächlich weniger investieren, weniger leiden, weniger entbehren? Ich glaube kaum. Ich glaube, dass es eine ganze Menge ganz normaler Leute gibt, die ihren Alltag auf vollkommen selbstverständliche Art bewältigen und einfach tun, was zu tun ist. Die wissen, dass sie Geld verdienen müssen, um zu leben, dass sie ihre Wäsche waschen müssen, um morgens etwas Sauberes zum Anziehen zu haben und dass sie Steuern zahlen müssen (und bisweilen nicht zu knapp), um ein Gesellschaftssystem mitzutragen, das auf dem Solidarprinzip beruht.

Die Yuppies, die DINKs, die Bessergestellten sind ein Klischee, auf das man halt gern mal zurückgreift, wenn man sich selbst vom Leben benachteiligt fühlt und damit nicht umgehen kann. Die riesigen Loftwohnungen, die teuren Loungemöbel, die klinische Reinheit, das Penthouse mit Panoramascheiben und Blick auf Elbe oder Rhein, vollgestopft mit edler HiFi-Technik, Rauchglastischen und dicken Teppichen, die schicken Flitzer (für Kindersitz und Kekskrümel ungeeignet) und die alle zwei Tage tätig werdende Reinemachfrau sind ein vollkommenes Zerrbild. Natürlich gibt es solche Menschen, und es mag nachvollziehbar sein, dass man sie beneidet – aus welchen Gründen auch immer. Aber einen repräsentativen Durchschnitt aller doppelt verdienenden, kinderlosen Arbeitnehmer dieses Landes und dieser Welt stellen diese Typen sicher nicht dar.

Warum also ist der Neid so groß und nachhaltig? Was hat man davon, sich ewig schlechter gestellt zu fühlen, wenn man Kinder hat? Zumal man doch irgendwie nach außen das Bild pflegt, dass sich für die glänzenden Kinderaugen, für die strahlende Zukunft, für diese Bereicherung des eigenen Lebens alle, alle Mühe lohnt?
Vielleicht, weil auch dieses Idealbild nicht der Realität entspricht. Vielleicht deshalb, weil man selbst an der Rolle der guten Mutter, des sorgenden Familienvaters bisweilen auch scheitert. Weil einem Kinder auf den Keks gehen können, weil man die redundanten Tätigkeiten Leid ist, weil man sich Privatsphäre wünscht oder mal drei Wochen Urlaub ohne die Kids, weil man Geschrei und immer wiederkehrende Unordnung nicht mehr erträgt, weil man sich auch manchmal fragt, wofür man das alles tut, obwohl man Kinder hat. Vielleicht deshalb, weil Kinder noch lange kein Garant für Sinnfindung im eigenen Leben sind. Vielleicht deshalb, weil längst nicht immer alles so ist wie in der Fruchtzwerge-Werbung. Vielleicht, weil man sich selbst ein Stück verliert und sich selbst gern wiederfände, aber nicht weiß, wie man's anstellen soll.

All das sind Regungen, die ich sehr menschlich finde. Unmenschlich finde ich es allerdings, die eigenen Defizite und Probleme in eine Projektion auf ein äußeres Feindbild umzuwandeln. Das Feindbild ist dann der Mensch, der anscheinend für all die Leiden und Entbehrungen, die man selbst um der Kinder Willen auf sich nimmt, kein Verständnis aufbringt und auch selbst augenscheinlich nicht leidet - welch ein Affront! Aber sind wir nicht im Endeffekt alle erwachsene, mündige Menschen, die mit ihren Entscheidungen umgehen und zu ihnen stehen können sollten, anstatt stumpf die Verantwortung für den eigenen, zugegebenermaßen oft auch schweren, Rucksack anderswohin zu schieben?

Vielleicht lässt die Gesellschaft, in der wir leben, die ganze Wahrheit einfach nicht zu. Vielleicht wird von Vätern und insbesondere Müttern immer noch implizit erwartet, dass sie in ihrer Rolle voll aufgehen und sie toll und erfüllend finden, auch wenn sie das – wie alles auf dieser Welt – eben längst nicht immer ist. Die Grundannahme „Ich leide, aber ich tu's gern!“ und der damit verbundene gehässige Neid auf alle, die nicht leiden und es auch nicht gern tun, erwächst möglicherweise aus dem Druck, immerzu perfekt zu sein und voll und ganz aufzugehen in der Rollenaufgabe. Dahinter steht der Mensch zurück, der tatsächlich auch ganz gern noch ein eigenes Leben hätte und sich nicht dauernd nur an den Erwartungen anderer ausrichten möchte, sondern ein Bedürfnis danach hat, als Person und nicht als Rolle gesehen zu werden, selbst wenn er es selbst nicht zulässt, dieses Bedürfnis zu spüren.

(Zwischenbemerkung am Rande: Man sollte sich im Übrigen fragen, was für Kinder dieses Theaterspiel erzeugt!)

Ich wünsche meiner Schwägerin, die Mutter dreier Kinder ist, von Herzen ein eigenes Zimmer. Den Raum dazu hätte sie, aber sie ist nicht in der Lage, das Bedürfnis weiterzuverfolgen (wenngleich sie es erkannt hat) und es umzusetzen. Möglicherweise schimpft es dann in ihrem Inneren, sie sei egoistisch und habe nicht das Recht, einen Platz für sich einzufordern oder gar Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Stimmen sind es, die uns diese Schwierigkeiten eigentlich bescheren. Sie sind Relikte aus einer anderen Zeit, Gerüste, an die wir meinen uns klammern zu müssen, obwohl sie uns umklammern und uns die Luft zum atmen nehmen. Diese Gerüste sind es auch, die dafür sorgen, dass wir alle Menschen mit einem alternativen Lebensentwurf pauschal verurteilen, obwohl uns die Alternative durchaus manchmal lebenswert erscheint. Sie hindern uns daran, andere Wege zu denken und vor allem umzusetzen, und sie verbittern schließlich unser aller Leben.

Wer in seiner Lebenswirklichkeit zuhause ist, hat es nicht nötig, andere permanent zu beneiden und seine eigenen Leiden und Aufopferungen herauszustreichen, weil er sieht, was er bekommt, und das auch zu schätzen weiß. Ganz gleich, ob nun ich das bin, die sich über einen Abend mit Freunden vor dem Flachbildfernseher freut, oder ob das ein Vater ist, dem das Herz überläuft, weil seine Tochter ihm mit wehenden Haaren und strahlenden Augen zur Begrüßung entgegenfliegt.

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Samstag, 24. März 2012
Reality sucks...!?
Es wird Frühling. Wenn ich draußen auf dem moosverfilzten Rasen unseres Grundstückes stehe, kann ich die Veränderung in der Luft riechen, ich kann die Sonne auf der Haut spüren, ich kann sehen, wie die grünen Spitzen der Iris jeden Tag ein bisschen weiter aus der Erde schauen und sich der Frauenmantel langsam entfaltet. Ich nehme mein Bedürfnis nach mehr Bewegung und nach helleren Farben wahr und spüre ein sanftes Prickeln in der Magengrube. Das ist in diesen Augenblicken meine Realität. Ich kann es fühlen, greifen, atmen.

Andererseits umgeben mich allerhand Umstände, Erlebnisse und Erfahrungen, die lediglich mittelbar sind, virtuell, artifiziell. Ich beuge mich dem künstlichen Rhythmus meiner Arbeit, sitze vor einem Monitor, der mir aus Einsen und Nullen errechnete Bilder entgegenstrahlt. Hinter den weißen Lamellen der Bürofenstervorhänge sind die Menschen unterwegs, die sich gerade im wirklichen Leben befinden, während ich mir anvertraute Daten verarbeite und zwischendurch verstohlen ab und an einen Blick in meine Mailbox werfe oder ins Blog. Kommentare lese, die andere Menschen an anderen Bildschirmen und Tastaturen an anderen Orten in ihre Rechner getippt haben, Mails, die mir von automatischen Versendern geschickt wurden und mich auf die Möglichkeit hinweisen, in virtuellen Geschäften echte Kleider zu erwerben, die dann auf wundersame Weise via Paketdienst in meiner Welt materialisieren.

Die Leute hinter den weißen Lamellen biegen auch irgendwann ab in die virtuelle Welt, steigen aus, setzen sich vor die Automaten des Spielsalons nebenan oder zuhause vor die Glotze, oder sie verschwinden ins Netz, zu Fratzenbuch und Co. und pflegen ihre 437 virtuellen Freundschaften oder ihre Blogs, schreiben Forenbeiträge, stellen Fragen und suchen Antworten.

Ich weiß nicht, ob früher weniger Realitätsferne war. Man unterstellte einst auch eifrigen Bücherlesern, sich vor der Welt zu verkriechen. Ich frage mich, ob man überhaupt unterscheiden kann zwischen der Realität und einer virtuellen Welt, so lange das, was wir hier und dort erleben, gleichermaßen Gefühle in uns erzeugt und uns beeinflusst. Ist mein Lachen weniger echt, wenn ich über eine kluge Pointe oder eine treffend formulierte Beobachtung lache, die jemand am anderen Ende der Welt niedergeschrieben hat? Sind die Schauer, die mir über die Arme laufen, weniger wahr, weil es das Erleben einer Romanfigur ist, das diese Saite in mir zum Klingen bringt? Ich denke nicht. Eine gut erzählte Geschichte, ein spannender Film oder ein mitreißender, authentisch geschriebener Blogeintrag können mich ebenso bewegen wie meine Begegnungen in der "wirklichen" Welt, und das macht sie real.

Aber das Virtuelle, Fiktive und Künstliche könnte in mir vermutlich keine Resonanz erzeugen, wenn ich nicht zuvor im wirklichen Leben, in meiner ganz eigenen Realität, etwas erlebt hätte, das einen unsichtbaren Faden knüpft und einen Anklang schafft. Ich habe immer wieder erlebt, dass es Dinge gibt, die mich vollkommen kalt lassen, weil diese Verknüpfung nicht gegeben ist. Ich schätze mich glücklich, einer Generation anzugehören, die die Möglichkeit unverstellter "Real Life"-Kindheitserlebnisse noch hatte. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, dann schaue ich in eine Zeit, in der das Fernsehen noch eine nachrangige Rolle spielte und mein Leben und Empfinden nur wenig beeinflusst hat. Ich schaue in eine Zeit, in der Videospiele, PCs und der eigene Fernseher im Kinderzimmer noch weitestgehend die Ausnahme waren. Es waren Prä-Fernbedienungs- und Nur-drei-Programme-Zeiten, und nur einige Sonderlinge hatten einen Brotkasten oder Amiga. Umstände, die jeden (und nicht nur Jugendliche) heute vermutlich verzweifeln lassen würden. Ich war in meiner Kindheit noch nicht reduziert auf visuelle und akustische Eindrücke, die ich lediglich passiv rezipiert habe. Ich hatte Dreck unter den Fingernägeln, aufgeschürfte Knie, Winkelhaken in den Hosen und Brennnesselquaddeln an den Waden. Das sind im Gegensatz zu Play-Station und KiKa sehr unmittelbare Erfahrungen.

Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, dann staune ich, wie vielen Menschen ich begegne, die vollkommen gebannt auf das Smartphone in ihrer Hand starren, ohne irgend etwas anderes zu tun oder wahrzunehmen. Ich will mich nicht auf altbackene Art darüber ereifern, ich kann dieses Verhalten nur überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man mal außer Acht lässt, dass es das Verkehrsgeschehen äußerst negativ beeinflusst, treibt mich doch darüber hinaus vor allem die Frage um, was zum Henker denn so Spannendes auf den kleinen Geräten geschieht, die die Bezeichnung "Telefon" ohnehin kaum noch verdienen. Ich habe selbst auch ein Handy. Meistens ist der Akku leer, weil ich es in meiner Tasche vergesse. Es kommt vor, dass ich es wochenlang überhaupt nicht benutze. Das Gebaren der Smartphone-Nutzer kommt mir befremdlich vor. Es wirkt auf mich wie eine symbiotische Verschmelzung mit dem Gerät, die den Benutzer von seiner Umgebung beinahe schon hermetisch abschirmt (auch wenn mir das durch meine Fahrradklingel erzeugte Erschrecken mancher radfahrenden und gleichzeitig displaystarrenden Teenies bisweilen ein gehässiges Grinsen ins Gesicht treibt – man möchte fast einen Sport daraus machen...).

Ist das, was medial gefesselte Menschen erleben, noch Realität? Oder ist es Virtualität pur, frei von jeglichem Bezug zum Hier und Jetzt? Manchmal erlebe ich das sogar beim Herrn Gemahl, der – nur schwer ansprechbar – auf seinem Smartphone mit seinem besten Freund Nachrichten austauscht, während dieser drei Meter neben ihm in der anderen Ecke des Sofas sitzt. Das erinnert mich dann an die wunderbar treffend inszenierte "Friendface"-Folge der britischen Comedy-Serie "The IT Crowd", in der die gesamte Belegschaft der IT-Abteilung über ihre Laptops gebeugt miteinander via Internet "kommuniziert", obwohl sie alle im selben Raum sitzen. "Oh my God, I feel so social!" - mit diesem Satz, den die Macher der Serie der weiblichen Hauptperson Jen in dieser Szene feinsinnig-ironisch in den Mund legen, ist dazu eigentlich alles gesagt.

(Wobei ich mich gerade dabei ertappe, dass ich zur Illustration eines von mir real empfundenen Umstands auf eine Fernsehserie zurückgreife. Das aber nur am Rande.)

Unter sozialer Interaktion verstehe ich selbst immer einen äußerst komplexen, auf Begegnungen und Beziehungen basierenden Umgang von Individuen miteinander. Dabei spielt noch vieles mehr eine Rolle als lediglich die Worte, die man einander sagt. Das Phänomen der „Social Media“ empfinde ich nun so gar nicht als sozial im eigentlichen Sinne. Der Postillon persifliert die Selbstverständlichkeit dieses Phänomens auf ganz hinreißende Weise und trifft damit mein Empfinden ziemlich genau. Man fühlt sich heute "sozial" (oder vielleicht eher "social"?), wenn man möglichst viele sogenannte Freunde in der virtuellen Welt hat, wenn man jemanden "kennt", der jemanden "kennt", wenn man viele "friend requests" bekommt, zu allem seine Meinung via "Daumen hoch" bekunden kann... Mich erschreckt allerdings die Verflachung, die das mit sich bringt. Analog zur Reduktion der Wahrnehmung auf das Visuelle und noch maximal Akustische reduziert sich auch Meinung ("gefällt mir" oder "gefällt mir nicht"), und wenn mir mal jemand im virtuellen Universum nicht mehr „gefällt“, dann wartet ja an der nächsten Ecke jemand anders, der sich über eine "Freundschaftsanfrage" freut. Man muss nicht mehr investieren, Freunden und Freundinnen heulend oder grantig gegenübersitzen, man muss keine Konflikte mehr austragen, sich nicht mehr in sozialer Interaktion erproben und dabei neu geboren werden, man muss sich nicht mehr entwickeln, nicht mehr aneinander wachsen. Der virtuelle "Freund" wird zum austauschbaren Objekt, das ich konsumiere, wenn ich wieder einmal Anerkennung oder die Illusion von Kontakt brauche.

Ich nutze das Internet gern zur Kommunikation mit Freunden. Ohne dieses Mittel wäre es für mich erheblich schwieriger, Kontakt zu halten zu einigen Menschen, die teils auch im Ausland leben, und manchen lieben Menschen hätte ich ohne das Netz nicht kennengelernt. Aber die Mails, die wir schreiben, sind meist lang und ein wenig wie die Briefe, die wir als Schülerinnen noch handschriftlich verfassten und in Umschläge steckten. Und manchmal tun wir das auch noch immer. Heute überraschte mich eine Postkarte, die ich in meinem realen Briefkasten fand. Sie stammte von meiner Tai Chi Kursleiterin, und sie fragte an, ob es mir gesundheitlich gutginge, denn ich war zu den letzten zwei Kursstunden des Semesters nicht mehr gekommen. Ob ich nicht Lust hätte, wieder mitzumachen. Ganz analog, ganz handschriftlich, und gekrönt von einer farbenfrohen Tulpenwiese auf der Vorderseite. Ich bezweifle, dass ich mich über eine Mail von ihr so gefreut hätte.

Meine ganz persönliche virtuelle Welt braucht diese Unterfütterung aus Realität, sonst würde ich verarmen und verflachen. Wesentliches transportiert sich nicht via Twitter oder SMS, so wie Wesentliches auch nicht bei Twitter oder auf dem Handy stattfindet. Das Wesentliche, Unmittelbare ist um mich herum, und alles, was ich tun muss, ist, die Augen zu öffnen und jeden Tag wieder neu sehen zu lernen. Nur auf diese Weise entstehen die Geschichten, die mich wirklich interessieren und die ich dann, egal ob sie mir virtuell oder auf Papier gedruckt oder durch die Stimme einer Freundin oder eines Freundes erzählt werden, in mich hineinlassen kann und die in mir Resonanz und Gefühle erzeugen. Das Wesentliche ist in einem Blick, in einer Begebenheit oder Begegnung, in einem Detail, das man beobachtet, im Ausdruck anderer. Es lebt in aufgeregten, fruchtbaren Diskussionen oder einfachen Berührungen. Das ist Leben und Realität.

Auf einem Laternenpfahl in meiner Universitätsstadt sah ich mal einen Spuckzettel mit der Aufschrift "Glotze aus! Nachdenken!" Ich halte das für eine gute Idee (und möchte es gern ergänzen um "Nachfühlen!"), und ich frage mich doch dabei: Retten wir uns eigentlich vor der fiesen Realität auf das Sofa vor den Fernseher, ins Netz oder in eine Spielewelt? Brauchen wir das alles, um die Umstände erträglicher zu machen? Oder schaffen wir mit diesem Verhalten erst eine Welt, die uns die eigene Realität als unerträglich empfinden lässt? Was tut so weh daran, aufzutauchen und kalte Luft zu atmen? Kommen wir mit der Komplexität der Wirklichkeit, mit ihren aufgeschürften Knien und Seelen und mit unseren eigenen grauen Gesichtern im Spiegel nicht mehr klar? Oder wollen wir's eventuell gar nicht mehr, da es doch so viel einfacher ist, jemand anders zu sein, (wo)anders zu leben?

Meine Gedanken kreisen um einen großen Stromausfall.

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Dienstag, 28. Februar 2012
Style und Stil
Neulich saß ich halbwach im Linienbus zur Arbeit. Das Schaufenster eines Schuhgeschäfts glitt an mir vorbei, darin ein riesengroßes Plakat mit einer (was auch sonst) lächelnden, blonden Frau darauf und dem Halbsatz "Genau mein Style!".

Mal davon abgesehen, dass ich diese Verdenglishungen (auch dies - was für ein beklopptes Wort!) nicht leiden kann, fragte ich mich, was das wohl sei, Style. Zuerst kam mir natürlich die Frage in den Sinn: Wieso verwenden die Plakatemacher nicht das deutsche Wort "Stil"? Dafür lassen sich natürlich allerhand werbetechnische Gründe finden, zuvorderst vor allem die irrige Annahme, dass, was "englisch" ist, trendy wirkt. Trendy. Bäh. Allerdings, das sagt man ja auch nicht mehr. Inzwischen sagt man "stylisch". Eben. Dagegen der Satz "Genau mein Stil!" klingt doch ein wenig antiquiert, nach rosafarbenen Twinsets und Bundfaltenhosen.

Genau wie die Werbetexter habe auch ich ganz unterschiedliche Assoziationen zu den Wörtern "Style" und "Stil".

Bei "Style" muss ich an die unzähligen Teenager-Blogs denken, die hier im Dorf seit geraumer Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen sind und eine inhaltliche Bandbreite abdecken von "Ich weis gar nich, was ich heute blogen soll...!!!! XD" über "Ich hab kein Bock auf Hausaufgaben!" bis hin zu "Wie findet ihr heute mein Style?". Der "Style" besteht dann aus Leggings im Presswurst-Format, sieben übereinandergezogenen Longshirts und goldfarbenen Plastik-Ohrringen im Fünferpack. Mit Stil hat das in der Tat wenig zu tun. Während der Begriff "Stil" die besondere Art und Weise bezeichnet, wie sich jemand kleidet oder ausdrückt, wie er denkt und kommuniziert, ist "Style" das, was man sich irgendwo abgeguckt hat und kopiert, weil man es "cool" oder eben "stylisch" findet. Millionen Teenager laufen herum wie Celine, Angelina, Jana. Auf mich wirkt schon das besitzanzeigende Fürwort "mein" in der Verbindung mit "Style" paradox.

Ich würde jetzt aber auch nicht behaupten, eine Stil-Ikone zu sein. Ich laufe die meiste Zeit in Jeans und Stiefeln durch die Gegend und bin damit weder besonders individualistisch noch bis zur Unkenntlichkeit angepasst. Vor längerer Zeit sagte Freundin I. mal über eine neu erstandene Jacke zu mir: "Hey, das ist eine totale Sturmfrau-Jacke!". Wie es scheint, gibt es an meinem Erscheinungsbild also zumindest eine Art Richtung, aber Stil?

Wenn man sagt "Das hat Stil!", dann meint man ja zumeist etwas Ausgesuchtes, Besonderes. Meine Mutter ist so eine Person, die von sich behauptet, Stil zu haben und nicht der Masse "hinterher zu rennen". Dabei habe ich allerdings die spannende Beobachtung gemacht, dass dies eher Wunsch denn Realität ist. In Wahrheit läuft auch sie ziemlich durchschnittlich herum, wohnt ziemlich durchschnittlich und isst ziemlich durchschnittlich. Das ist ja nicht weiter schlimm, aber ich glaube, sie fürchtet sich vor Durchschnitt in gleichem Maß, wie sie Geltungssucht anwidert. Sie bewegt sich auf dem Grat zwischen grauer Bedeutungslosigkeit und bemühter Auffälligkeit und pflegt dabei ein Understatement, das kein solches ist, weil sie es so sehr betont.

Vor Kurzem sah ich im Fernsehen einen Bericht über Upper-Class-Eltern, die ihre vier-, fünfjährigen Kinder in ein Benimm-Seminar brachten. Dort stand ein dynamischer, freundlicher Mittvierziger im Anzug vor den lieben Kleinen, Typ Unternehmensberater, und brachte ihnen die Grundregeln anständiger Kommunikation und ordentlichen Verhaltens bei - mit Hilfe zweier Plüschhunde. Einer von beiden sah aus, wie Schnuffi und Bello nun einmal so aussehen, braunes Fell, Schlappohren, Knopfaugen. Der andere erinnerte an ein in Fernost gefertigtes Werbegeschenk, mit großen Comicaugen und einem grellfarbigen Hemd. Der nette Mann fragte die Kinder: "Was meint ihr denn wohl, wer von den beiden kommt besser an, dieser da oder der bunte, geschmacklose hier?" Und ließ die Kinder abstimmen, die natürlich bei einer derart suggestiv gestellten Frage ganz brav die erwartete Antwort vorbrachten (wenngleich der freundliche Familien-Unternehmensberater das für eine "ganz freie" Abstimmung hielt und das auch betonte). "Also, wenn die jetzt kommen, die beiden, was meint ihr, wen wird wohl der Hunde-Chef einstellen? Richtig! Das hier will keiner!" Sprachs und schwenkte den bunten Hund. Ich hätte brechen können. Die Lektion für's Leben: Geschmacklosigkeit kommt nicht gut an, ist sogar ein Verstoß gegen die guten Sitten. Passe Dich an! Und das vor Fünfjährigen.

Ich frage mich, was es uns so schwer macht, einfach wir selbst zu sein. Uns anpassen wollen wir, uns abheben wollen wir, besonders sein und doch nicht allein. Wir wollen mithalten, wollen uns ausdrücken und nach außen kehren und doch nicht zu sehr herausstechen.

Wenn wir heute sagen "Gefällt mir!" und einen Daumen hoch halten, ist nicht mehr sicher, ob das aus innerem Antrieb geschieht oder nur das Resultat der tausend Eindrücke ist, die wir uns täglich einverleiben und die wir irgendwie sortieren müssen. Wir sind noch allenfalls mitgerissen von den Ideen anderer, aber weder inspiriert noch kreativ. Wir leben im "klingt wie"- und "erinnert an"- und "war schon mal da"-Universum, gehen zugrunde an unserer gepflegten Langeweile und suchen. Suchen nach dem "ultimativen Style" oder dem ganz eigenen "Stil" und sind doch dabei schon längst selbst, die wir sind, ohne es gemerkt zu haben.

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Samstag, 28. Januar 2012
Ja klar, wir können alle
nur einfach nicht kochen...
Am 18. Januar gab es im Bundestag eine "aktuelle Stunde" zum Antibiotikaeinsatz in der Tiermast. Ich geriet zufällig in die Übertragung auf Phoenix und verpasste leider den ersten Redebeitrag, der vom Grünen-Abgeordneten Friedrich Ostendorff stammte, ebenso wie denjenigen meiner Lieblingsministerin Ilse Aigner, die - wie es mir manchmal scheint - den Titel "Ministerin für Verbraucherschutz" nur durch einen merkwürdigen Fehlgriff erhalten hat. Um mein Wissensdefizit aufzufüllen und die nachfolgenden Redebeiträge in einen Gesamtzusammenhang einordnen zu können, steckte ich die Nase also nochmal in das online abrufbare Bundestagsprotokoll.

Ostendorff kritisierte, wie auch nicht anders zu erwarten, die hohe Besatzdichte in der Tiermast, die es erst erforderlich mache, in dem beobachteten großen Maßstab Antibiotika einzusetzen.

Auch in einem Fernsehbeitrag, den ich gestern sah, gab ein Tierarzt aus dem Raum Oldenburg (die Gegend ist bekannt für die fabrikmäßige "Tiererzeugung") freimütig zu, er kenne nur 10 bis 30 % der (in diesem konkreten Fall) Geflügel-Mastbetriebe, in denen nicht routinemäßig Antibiotika zum Einsatz kämen. Der Mäster kontaktiere ihn, sobald er "irgendwie das Gefühl habe, da sei etwas im Anzug" - so die vage Formulierung. Diese im Anzug befindliche, wie auch immer geartete Krankheit manifestiere sich beispielsweise an zurückgehendem Wasser- und Futterverbrauch der Tiere, der sich messen lasse. Und dann kämen eben Antibiotika ins Wasser.

Dass die Bildung von resistenten Keimen wie MRSA oder ESBL mit dieser erhöhten Gabe von Antibiotika zusammenhängt, haben Studien in den Niederlanden und Schweden nachgewiesen. In den Niederlanden glich man den genetischen Code der auf Geflügelfleisch gefundenen Bakterien ab mit dem derjenigen Bakterien, die auf Frühgeborenenstationen zu Komplikationen, teilweise auch zu Todesfällen geführt hatten - mit großer Übereinstimmung.

Ostendorffs Argumente sind also nicht unberechtigt, ebenso wie die Feststellung, dass sich die Notwendigkeit der Medikamentengabe in der Mast durch eine Verringerung der Besatzdichte reduzieren ließe. Damit brachte der Mann - selbst Ökolandwirt und daher natürlich von einigen als Lobbyist in eigener Sache betrachtet - eigentlich nur auf den Punkt, was man (die Öffentlichkeit mehr oder weniger) eh schon weiß.

Frau Aigner zitierte dann als Antwort darauf erst einmal die geltende Rechtslage. Präventiv dürften Antibiotika überhaupt nicht gegeben werden, und auch nicht als Wachstumsförderer. Worauf Herr Trittin dazwischen rief, dies sei tägliche Praxis, Frau Aigner solle doch mal nach Vechta fahren. Aigner schob die Verantwortung für die Kontrollen auf die Länder ab und machte deren Durchsetzung zugleich vom guten Willen der Länder abhängig. Das Schönste aber: "Wer verhindern will, dass ein krankes Tier behandelt wird, der veweigert Tierschutz!" Dieses Wort hat bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem von Massentierhaltern vorgebrachten Argument, man solle doch ihre Tiere mal untersuchen, sie seien in der Mehrheit viel gesünder als diejenigen von Ökohöfen. Kein Wunder, wenn sie randvoll mit Antibiotika sind. Ansonsten fielen sie ja auch einem Massensterben anheim, das für den Mäster schließlich keinerlei Profit mehr übrigließe. Hier sind also die Mäster in ganz eigener Sache tätig, ganz sicher aber nicht in Sachen Tierschutz. Dass Frau Aigner auf dieses Argument zurückgreift und damit ihre Kritiker als diejenigen abstempelt, die in Wirklichkeit dem Tier ans Wohlergehen wollten, ist ein billiges Manöver und zeigt, wie fehl sie eigentlich in ihrem Amt ist.

Die Vertreterin der FDP gab sich dann ganz im Parteisinne die Ehre und merkte an, dass die Kritik an der industrialisierten Tierproduktion überzogen sei. Da ging sie dann auch gleich zum Duzen über: "Was heißt denn eigentlich "industria"? Ist kein Lateiner unter Euch? "Industria" heißt Fleiß. Was ist gegen fleißige Betriebe einzuwenden? Überhaupt nichts. Fleiß ist eine Kardinaltugend. - Für Euch aber wohl nicht. Das mag so sein. Ihr lebt lieber vom Staat. Aber für die Unternehmer ist Fleiß eine ganz wichtige Tugend!"

Diese Äußerung ist so entlarvend, wie sie polemisch ist. Sie dokumentiert trefflich, wie sehr viel mehr es hier um das Unternehmerwohl geht (das auch noch hübsch als "tugendhaft" charakterisiert wird), als um das Wohl von Verbrauchern, Tieren und vollkommen Unbeteiligten. Ausbrüche wie diese sind eigentlich unwürdig für einen Parlamentarier, wundern mich aber nicht.

Der Vertreter der CDU/CSU Stier warf dann den Grünen erst einmal um die Ohren, wie unangemessen es sei, das Thema kurz vor der "Grünen Woche" (hinter diesem idyllisch wirkenden Titel verbirgt sie die weltgrößte Landwirtschaftsmesse) auf den Plan zu stellen. Er seinerseits freue sich auf die Grüne Woche. Glauben wir ihm sogar - schließlich sind Messen immer eine wunderbare Möglichkeit, Netzwerke zu knüpfen.

Den Knüller brachte dann allerdings Marlene Mortler (CDU/CSU): Sie warf mit Begriffen wie "Pseudokampagnen" und "Pseudowissenschaftler" um sich und wandte sich dann an Herrn Ostendorff direkt: "Lieber Friedich Ostendorff, Du bist heute deiner Rolle als Nestbeschmutzer deiner Kolleginnen und Kollegen in der Landwirtschaft wieder voll gerecht geworden." Sie begründet den Einsatz von Antibiotika mit christlichem Ethos, der einen verantwortungsvollen Umgang mit den Mitgeschöpfen darstelle. Resistente Keime gäbe es im Übrigen schon immer. Erst jüngst habe man in einer ägyptischen Mumie gegen Vancomyzin resistente Erreger festgestellt. Und schließlich und endlich: Sie sei Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft und habe gelernt, wie wichtig die Hygiene in der Küche sei - da wisse man eben auch, dass man kein Carpaccio aus rohem Huhn zu essen habe.

Wie fern der Realität sind denn eigentlich diese eigenartigen Gestalten? Wir leben in einer seltsamen Welt, in der jemand öffentlich vor dem höchsten Gremium, das es in diesem Land gibt, wagt zu behaupten, die Haltungsformen, die wir unseren Mitgeschöpfen landesweit angedeihen lassen, umfassten einen verantwortungsvollen, vom christlichen Ethos geprägten Umgang. Ich weiß nicht, ob die Frau schon mal in einem stinkigen, tageslichtlosen Hähnchenmaststall in der norddeutschen Tiefebene gestanden hat, aber ich vermute, es ist wohl nicht der Fall. Denn sonst würde sie von Verantwortung mit den Mitgeschöpfen nicht in einem Atemzug mit dieser Haltungsform sprechen.

Mit ähnlicher Chuzpe wie Frau Aigner zu behaupten, es sei alles auf den Weg gebracht, was in dieser Lage an Maßnahmen vonnöten sei, und schließlich alles auf ein Küchenhygieneproblem zu reduzieren, ist nicht nur dreist und ignorant, sondern lässt mich auch am Geisteszustand dieser Person zweifeln. Klar, wir können halt alle einfach nicht kochen...

Ich erinnere mich noch gut an Frau Aigners Gesicht aus einem anderen Beitrag, als sie auf eine Veranstaltung des Brauereiverbandes geladen war und mit schöner, bayrisch-landbäurischer Manier das Hohelied auf das deutsche Bier verkündete - ganz im Interesse ihrer Gastgeber. Von der Person ist einfach nicht zu erwarten, dass sie eine von Lobbyvereinen unabhängige Politik zum Wohl der Menschen macht. Im Gegenteil, sie biedert sich an, wo sie nur kann. Da ist die Halbherzigkeit der von ihr auf den Weg gebrachten Maßnahmen nur logische Konsequenz.

Angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der Antibiotikamengen in der Landwirtschaft eingesetzt werden und nur ein Drittel in der Humanmedizin, ist der Rückzug auf die herrschende Gesetzeslage vermittels der Annahme "Was nicht sein darf, kann auch nicht sein", vollkommen inakzeptabel. Allein die schiere Menge muss Fragen aufwerfen. Zum Beispiel: Warum ist ein so großer Aufwand an Medikamenten nötig, wenn doch angeblich die Massenhaltungsformen unkritisch für die Tiergesundheit sind? Und wenn es tatsächlich nur um die Erkrankung einzelner Tiere geht, warum werden dann doch so viele Antibiotika eingesetzt? Nicht vielleicht doch als Wachstumsförderer, obwohl das verboten ist? Wenn sie tatsächlich glaubt, was sie sagt, dann ist Ilse Aigner ein blauäugiger Mensch. Wenn nicht, eine clevere Taktiererin. Ich tippe auf letzteres.

Natürlich hat es auch weiterhin jeder selbst in der Hand, aus welcher Haltung er sein Fleisch bezieht. Ich finde das Argument lustig, das Vertreter verschiedener Parteien in dieser Debatte auch gebracht haben: Man solle doch mal an die einkommensschwachen Schichten denken, die ja schließlich auch irgendwas essen müssten. So ein absoluter Unfug. Es geht hier nicht um das hochpreisige Entrecôte, sondern um die lustigen, panierten Hähnchenteile, die man den Kindern bloß noch in den Ofen schieben muss. So viel auch zum Thema Kochen. Es ist irgendwie immer Geld für Junk-Food übrig, sei es tütenweise überteuertes Schokoladenzeugs, Chips, Fertigpizzen oder sonst ein Rummel, nach deren Preis kein Mensch fragt. Aber das Fleisch, das soll möglichst billig sein.

Das eigentlich Ausschlaggebende sind die Ernährungsgewohnheiten. Nirgendwo wird Nahrung so billig produziert wie in Deutschland und nirgendwo wird so wenig Geld ausgegeben dafür. Aber Nachdenken macht halt Mühe. Ich empfinde es als mein persönliches Stück Lebensqualität, trotz eines Monatsgehaltes von rund 850 Euro netto 7 Euro für ein Hähnchenbrustfilet auszugeben. Ich esse dafür auch nicht jeden Tag Hähnchen.

Natürlich ist es vom Verhalten der Verbraucher abhängig, ob die Massentierhaltung ankommt oder nicht und somit, ob sie eine wirtschaftliche Grundlage hat. Dennoch fangen wir nun auch nicht plötzlich alle an zu hungern, wenn tatsächlich einmal andere Grundlagen für die Tierhaltung durchgedrückt würden, die die Landwirte zur Änderung ihrer Haltungsformen zwingen würden. Denn wir überproduzieren derart, dass wir nicht nur hierzulande billig kaufen können, sondern die ausländischen Lebensmittelmärkte gleich mit kaputt machen. Und das zu erfassen traue ich auch Frau Aigners Intellekt zu. Meint für mich: Es ist bei ihr wohl doch keine Frage des Könnens, sondern des Wollens.

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