Samstag, 22. Juni 2013
Spröde Tage
Am 22. Jun 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Am meisten zu schaffen machen mir gerade nicht die freie Zeit oder etwa die Unstrukturiertheit, die meine Tage als Noch-Urlauberin und bald Beschäftigungslose bestimmen. Es ist schön, nichts zu müssen.
Mich beißt die Stille. Wer jeden Tag arbeiten geht, hat automatisch Menschen um sich. Auch bei mir waren es oft mehr, als mir lieb war, und sie haben mich bisweilen gewaltig genervt. Aber beinahe drei Wochen nach meinem Urlaubsantritt fangen die Selbstgespräche an, mir auf den Geist zu gehen. Ich werde wunderlich. Ich komme kaum vor die Tür. Das muss sich ändern.
Jetzt fällt mir wieder auf, wie mir I. und S. fehlen. In der Studienzeit waren sie einfach um die Ecke, da konnte man sich spontan auf einen Kaffee treffen und reden, reden, reden. Gerade mit I. gelingt mir das auch am Telefon, aber es ist halt doch nicht dasselbe. Selbst, wenn wir uns eine Stunde lang die Ohren am Hörer platt drücken, ist das Gefühl doch einfach ein anderes, wenn man sich sieht und sich zur Begrüßung in den Arm nimmt. Ich denke an die Stunden auf I.s Sofa, an ihre liebevoll hergerichteten Teller mit Melonenstückchen oder selbstgebackenen Cantuccini und daran, wie sehr es mir fehlt, das einfach öfter zu machen. Nächste Woche setze ich mich wieder in den Zug, um sie zu sehen. Ich kann es kaum erwarten.
Mit S. hingegen wäre ich gern in der Planung für unsere Wanderung schon weiter. Auch hier stellt die Entfernung ein Problem dar. Die fast 500 Kilometer zwischen uns machen einfach alles zur Terminsache. Mich ärgert so furchtbar, dass wir uns nicht einfach gemeinsam an einem Tisch setzen und uns über die Wanderkarten beugen können. Aber das allein ist es auch nicht. Das letzte Telefonat hinterließ mich so frustriert. S. überlegt bereits wieder, umzuziehen. Sie will zurück in den Westen. Nicht allein, um ihrer alten Heimat näher zu sein, sondern auch, weil sie meint, J.s älter werdende Eltern bräuchten es, dass sich jemand um sie kümmert. Dass wieder einmal sie diejenige sein wird, ist bereits klar.
Es wiederholt sich, was ich im letzten Jahr bei der Tourvorbereitung bemerkte: S. ist so ausgelastet mit den Verpflichtungen und Terminen, die sie sich selbst aufhalst, dass sie nicht mehr wirklich Zeit und Energie dafür übrig hat, sich zu überlegen, was sie von unserer Tour erwartet, wohin sie gehen will, wie weit sie gehen will und wo man nachts sein Haupt zur Ruhe betten soll. Und plötzlich stellt sich heraus, dass sie die Etappen lieber erheblich kürzer hätte, als ich das gedacht habe. Woher soll ich es wissen, wenn sie sich wieder mal nicht oder spät äußert? Damit bekommt auch das Vorhaben, auf das ich mich beinahe am meisten freue diesen Sommer einen problematischen, komplizierten Anstrich. S. kennt keine Prioritäten, und es geht zu Lasten unserer gemeinsamen Tour, dass sie nicht nein sagen will und versucht, alles zu schaffen und alles zu machen. Auch zu mir und der Wanderung sagt sie nicht nein, sondern lässt alles so laufen in der Hoffnung, dass es schon irgendwie klappen wird. Was spiele ich für eine Rolle in diesem Konzept?
Schwägerin K. packt die Kisten für den Aufbruch an ihren neuen Wohnort, und mit ihr wird mir eine weitere Person hier fehlen. Es wird immer stiller. Ich hoffe, es gelingt uns, uns vorher wenigstens noch einmal zu sehen und etwas gemeinsam zu unternehmen. K.s Schwägerin S. äußerte Interesse, bei Gelegenheit auch mal zusammen etwas zu machen - wir verstehen uns gut und haben eigentlich immer Gesprächsstoff. Mal sehen, was daraus entsteht.
Schwiegermutter legte indes wieder einmal ihr gutes Gespür für Menschen an den Tag und rief an, um zu fragen, ob mir denn nicht langweilig sei. Ich solle doch mal vorbeikommen, man könne gemeinsam einen Bummel machen oder ein Eis zusammen essen. Ich bin froh, dass es sie gibt.
In die sorgfältige Komposition aus Frust und Zähneknirschen reihten sich Mrs Singer und Frau Josefine, die Riccar-Nähmaschine ein, indem sie beide gleichermaßen die Kooperation verweigerten und plötzlich meinten, Stiche auslassen und lustige Dinge mit der Fadenspannung machen zu müssen. Hatte ich eigentlich geplant, mir eine schöne, große "Schul"-Tasche für meine hoffentlich bevorstehende Weiterbildung zu nähen, die Ordner und Collegeblöcke fassen und tragen kann, muss dieses Projekt jetzt auch ruhen, bis ich dem Problem auf die Schliche gekommen bin. Vielleicht muss ich zumindest eine der Damen doch mal zur Wartung in die Hände eines Fachmanns bringen.
Heute werde ich mir dann die Zerknirschung ausnahmsweise einmal mit Shopping vertreiben. In niederländischer Nachbarschaft gibt es gleich mehrere, zu einem Verbund gehörende sogenannte Kringloopwinkel ("Kreislaufläden"), die Vintage- und Second-Hand-Sachen anbieten und bei denen man auch seine eigenen Sachen abliefern kann, die nicht mehr passen. Das Bonbon gönne ich mir dann heute. Nichts als raus hier, mir fällt die Decke auf den Kopf.
Mich beißt die Stille. Wer jeden Tag arbeiten geht, hat automatisch Menschen um sich. Auch bei mir waren es oft mehr, als mir lieb war, und sie haben mich bisweilen gewaltig genervt. Aber beinahe drei Wochen nach meinem Urlaubsantritt fangen die Selbstgespräche an, mir auf den Geist zu gehen. Ich werde wunderlich. Ich komme kaum vor die Tür. Das muss sich ändern.
Jetzt fällt mir wieder auf, wie mir I. und S. fehlen. In der Studienzeit waren sie einfach um die Ecke, da konnte man sich spontan auf einen Kaffee treffen und reden, reden, reden. Gerade mit I. gelingt mir das auch am Telefon, aber es ist halt doch nicht dasselbe. Selbst, wenn wir uns eine Stunde lang die Ohren am Hörer platt drücken, ist das Gefühl doch einfach ein anderes, wenn man sich sieht und sich zur Begrüßung in den Arm nimmt. Ich denke an die Stunden auf I.s Sofa, an ihre liebevoll hergerichteten Teller mit Melonenstückchen oder selbstgebackenen Cantuccini und daran, wie sehr es mir fehlt, das einfach öfter zu machen. Nächste Woche setze ich mich wieder in den Zug, um sie zu sehen. Ich kann es kaum erwarten.
Mit S. hingegen wäre ich gern in der Planung für unsere Wanderung schon weiter. Auch hier stellt die Entfernung ein Problem dar. Die fast 500 Kilometer zwischen uns machen einfach alles zur Terminsache. Mich ärgert so furchtbar, dass wir uns nicht einfach gemeinsam an einem Tisch setzen und uns über die Wanderkarten beugen können. Aber das allein ist es auch nicht. Das letzte Telefonat hinterließ mich so frustriert. S. überlegt bereits wieder, umzuziehen. Sie will zurück in den Westen. Nicht allein, um ihrer alten Heimat näher zu sein, sondern auch, weil sie meint, J.s älter werdende Eltern bräuchten es, dass sich jemand um sie kümmert. Dass wieder einmal sie diejenige sein wird, ist bereits klar.
Es wiederholt sich, was ich im letzten Jahr bei der Tourvorbereitung bemerkte: S. ist so ausgelastet mit den Verpflichtungen und Terminen, die sie sich selbst aufhalst, dass sie nicht mehr wirklich Zeit und Energie dafür übrig hat, sich zu überlegen, was sie von unserer Tour erwartet, wohin sie gehen will, wie weit sie gehen will und wo man nachts sein Haupt zur Ruhe betten soll. Und plötzlich stellt sich heraus, dass sie die Etappen lieber erheblich kürzer hätte, als ich das gedacht habe. Woher soll ich es wissen, wenn sie sich wieder mal nicht oder spät äußert? Damit bekommt auch das Vorhaben, auf das ich mich beinahe am meisten freue diesen Sommer einen problematischen, komplizierten Anstrich. S. kennt keine Prioritäten, und es geht zu Lasten unserer gemeinsamen Tour, dass sie nicht nein sagen will und versucht, alles zu schaffen und alles zu machen. Auch zu mir und der Wanderung sagt sie nicht nein, sondern lässt alles so laufen in der Hoffnung, dass es schon irgendwie klappen wird. Was spiele ich für eine Rolle in diesem Konzept?
Schwägerin K. packt die Kisten für den Aufbruch an ihren neuen Wohnort, und mit ihr wird mir eine weitere Person hier fehlen. Es wird immer stiller. Ich hoffe, es gelingt uns, uns vorher wenigstens noch einmal zu sehen und etwas gemeinsam zu unternehmen. K.s Schwägerin S. äußerte Interesse, bei Gelegenheit auch mal zusammen etwas zu machen - wir verstehen uns gut und haben eigentlich immer Gesprächsstoff. Mal sehen, was daraus entsteht.
Schwiegermutter legte indes wieder einmal ihr gutes Gespür für Menschen an den Tag und rief an, um zu fragen, ob mir denn nicht langweilig sei. Ich solle doch mal vorbeikommen, man könne gemeinsam einen Bummel machen oder ein Eis zusammen essen. Ich bin froh, dass es sie gibt.
In die sorgfältige Komposition aus Frust und Zähneknirschen reihten sich Mrs Singer und Frau Josefine, die Riccar-Nähmaschine ein, indem sie beide gleichermaßen die Kooperation verweigerten und plötzlich meinten, Stiche auslassen und lustige Dinge mit der Fadenspannung machen zu müssen. Hatte ich eigentlich geplant, mir eine schöne, große "Schul"-Tasche für meine hoffentlich bevorstehende Weiterbildung zu nähen, die Ordner und Collegeblöcke fassen und tragen kann, muss dieses Projekt jetzt auch ruhen, bis ich dem Problem auf die Schliche gekommen bin. Vielleicht muss ich zumindest eine der Damen doch mal zur Wartung in die Hände eines Fachmanns bringen.
Heute werde ich mir dann die Zerknirschung ausnahmsweise einmal mit Shopping vertreiben. In niederländischer Nachbarschaft gibt es gleich mehrere, zu einem Verbund gehörende sogenannte Kringloopwinkel ("Kreislaufläden"), die Vintage- und Second-Hand-Sachen anbieten und bei denen man auch seine eigenen Sachen abliefern kann, die nicht mehr passen. Das Bonbon gönne ich mir dann heute. Nichts als raus hier, mir fällt die Decke auf den Kopf.
Samstag, 15. Juni 2013
Doch nicht still gefeit.
Am 15. Jun 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Normalerweise bin ich im Gegensatz zum Gatten diejenige, die irgendwie nie krank wird. Wenn, dann streift mich nur am Rande für zwei oder drei Tage, was ihn eine Woche aus den Socken haut. Gestern las ich zum ersten Mal von dem Begriff der Stillen Feiung, der mir irgendwie gefällt. Anscheinend war es für meinen Körper nie wirklich nötig, sich auf die harte Tour mit irgendwas auseinander zu setzen.
Deshalb war ich auch unbekümmert im Umgang mit dem Herrn Gemahl, der schon eine Weile vor sich hin hustete, Halsweh hatte und ziemlich fertig war. Einen Anflug von eigenem Halsschmerz nahm ich auch nicht ernst. Vorgestern abend schlug dann das Fieber zu. Fürchterlich fröstelnd verkroch ich mich ins Bett mit dem Gefühl, nie wieder warm zu werden. Alles tat mir weh, und so eine miese Nacht hatte ich schon lange nicht mehr.
Für heute hatten wir dann eigentlich eine schöne, lange Radtour geplant. Weil die anderen meinen Budenkoller nicht teilen sollten, habe ich mich dafür ausgesprochen, dass sie trotzdem noch rausfahren. Mir ist indes so dermaßen langweilig, mir fällt die Decke auf den Kopf. Vielleicht gleich mal ein kleiner, langsamer Spaziergang, der lässt sich auch noch mit einem trockenen, festsitzenden Rest-Husten machen.
Ich wäre lieber in aller Stille gefeit gewesen gegen diesen Mist.
Deshalb war ich auch unbekümmert im Umgang mit dem Herrn Gemahl, der schon eine Weile vor sich hin hustete, Halsweh hatte und ziemlich fertig war. Einen Anflug von eigenem Halsschmerz nahm ich auch nicht ernst. Vorgestern abend schlug dann das Fieber zu. Fürchterlich fröstelnd verkroch ich mich ins Bett mit dem Gefühl, nie wieder warm zu werden. Alles tat mir weh, und so eine miese Nacht hatte ich schon lange nicht mehr.
Für heute hatten wir dann eigentlich eine schöne, lange Radtour geplant. Weil die anderen meinen Budenkoller nicht teilen sollten, habe ich mich dafür ausgesprochen, dass sie trotzdem noch rausfahren. Mir ist indes so dermaßen langweilig, mir fällt die Decke auf den Kopf. Vielleicht gleich mal ein kleiner, langsamer Spaziergang, der lässt sich auch noch mit einem trockenen, festsitzenden Rest-Husten machen.
Ich wäre lieber in aller Stille gefeit gewesen gegen diesen Mist.
Montag, 3. Juni 2013
Nichts mehr für mich
Am 3. Jun 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Heute bin ich zurückgekehrt in die Studienstadt, um den Termin beim Weiterbildungsträger wahrzunehmen.
Manches hat sich verändert, manches nicht. Unglaublich viel Dreck und viele Baustellen sind in der Innenstadt, Leerstand in den Geschäften, Spielcasinos, Spielcasinos, Spielcasinos und Auslands-Telefonier-Läden. Ich bin mit dem Bus vorbeigefahren an meinem alten Fitness-Studio, an dem Haus, in dem Freundin S. damals in ihrer Wohngemeinschaft gewohnt hat. Da war der Supermarkt nah der Uni, wo ich ab und an nach den Seminaren noch einen Becher Joghurt gekauft hatte, auch wenn der Laden eigentlich ziemlich teuer war. Die Drogerie auf der Ecke hat inzwischen geschlossen, die Fenster sind innen mit Papier beklebt. Der Rastazöpfeflecht-Laden ist noch da und die Frühgaststätte, die jetzt zusätzlich in den Fenstern damit wirbt, eine Raucherkneipe zu sein.
Der Lärm und der Dreck haben mich regelrecht erschlagen. Hatte ich bei sporadischen Besuchen zumindest meistens noch Lust auf Shopping, kam auch die heute nicht mehr auf. Nicht, dass ich es als Verlust empfunden hätte.
Dann komme ich zurück aufs Land. Zum wiederholten Mal schon empfinde ich das als eine unglaubliche Wohltat. Ich sehe wieder im Kontrast, wie lebendig und grün meine Heimatstadt ist, und ja, ich bin ein Landei, und ja, es ist piefig hier mit Neighbourhoodwatch und Schützenfest und Laientheatergruppe.
Aber was macht das alles schon, wenn man den Wind im jungen Getreide wehen sieht und die watteweißen Wolken über das weite Land ziehen und man ganz lang am Fluss und den Kanälen entlang laufen kann? Wenn vor dem Fenster Insekten in der Sonne tanzen und Guerilla Gardening obsolet ist?
Die Stadt ist nichts mehr für mich. Zu eng, zu laut, zu wenig offen, zu chaotisch, zu viel Input. Ein bisschen erschreckt es mich, wie sehr ich mir die Stadt abgewöhnt habe. Ich habe damals gern dort gewohnt und mich wohl gefühlt. Inzwischen würde ich lieber täglich pendeln, als noch einmal in die Stadt zu ziehen. All die Menschen. Häuserwände. Nicht wirklich.
Manches hat sich verändert, manches nicht. Unglaublich viel Dreck und viele Baustellen sind in der Innenstadt, Leerstand in den Geschäften, Spielcasinos, Spielcasinos, Spielcasinos und Auslands-Telefonier-Läden. Ich bin mit dem Bus vorbeigefahren an meinem alten Fitness-Studio, an dem Haus, in dem Freundin S. damals in ihrer Wohngemeinschaft gewohnt hat. Da war der Supermarkt nah der Uni, wo ich ab und an nach den Seminaren noch einen Becher Joghurt gekauft hatte, auch wenn der Laden eigentlich ziemlich teuer war. Die Drogerie auf der Ecke hat inzwischen geschlossen, die Fenster sind innen mit Papier beklebt. Der Rastazöpfeflecht-Laden ist noch da und die Frühgaststätte, die jetzt zusätzlich in den Fenstern damit wirbt, eine Raucherkneipe zu sein.
Der Lärm und der Dreck haben mich regelrecht erschlagen. Hatte ich bei sporadischen Besuchen zumindest meistens noch Lust auf Shopping, kam auch die heute nicht mehr auf. Nicht, dass ich es als Verlust empfunden hätte.
Dann komme ich zurück aufs Land. Zum wiederholten Mal schon empfinde ich das als eine unglaubliche Wohltat. Ich sehe wieder im Kontrast, wie lebendig und grün meine Heimatstadt ist, und ja, ich bin ein Landei, und ja, es ist piefig hier mit Neighbourhoodwatch und Schützenfest und Laientheatergruppe.
Aber was macht das alles schon, wenn man den Wind im jungen Getreide wehen sieht und die watteweißen Wolken über das weite Land ziehen und man ganz lang am Fluss und den Kanälen entlang laufen kann? Wenn vor dem Fenster Insekten in der Sonne tanzen und Guerilla Gardening obsolet ist?
Die Stadt ist nichts mehr für mich. Zu eng, zu laut, zu wenig offen, zu chaotisch, zu viel Input. Ein bisschen erschreckt es mich, wie sehr ich mir die Stadt abgewöhnt habe. Ich habe damals gern dort gewohnt und mich wohl gefühlt. Inzwischen würde ich lieber täglich pendeln, als noch einmal in die Stadt zu ziehen. All die Menschen. Häuserwände. Nicht wirklich.
Mittwoch, 29. Mai 2013
Brennende Augen und: Geld oder Leben
Am 29. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Alles heute zum letzten Mal gemacht. Die vertrauten Arbeitsschritte, den Kaffeebecher ausgewaschen, den Bürostuhl an den Tisch gerückt, den Kippschalter an der Steckerleiste gedrückt. Aus.
Eine Reihe von Banalitäten. Dennoch fängt jetzt etwas ganz anderes an.
Ich habe mich mit brennenden Augen bemüht, meine Gefühle nicht zu zeigen. Ich wollte es nicht. Geheuchelte Abschiedslitaneien von Leuten, mit denen ich nichts anfangen kann, Beileidsbekundungen über einen Zustand, der weder höherem Schicksal geschuldet ist noch dem Umfang meiner Fähigkeiten, sondern lediglich der Borniertheit des Chefs. "Es ist einfach so unfair!", sagte der Gatte, und Recht hat er.
Geschenkt bekommen habe ich von dem einzigen Menschen, der mir abgesehen vom Gatten wirklich etwas bedeutet in dem Laden, nämlich meinem direkten Vorgesetzten, eine warmherzige Umarmung, die Zusicherung, mich auch weiter voll zu unterstützen, wenn ich das möchte, das Angebot, als Referenz zu dienen - jederzeit. Feuchte Augen. Wirklich so zu nennender Abschiedsschmerz.
Aus der Buchhaltung die Zusicherung, ein super Arbeitszeugnis zu bekommen und aufmunternde Worte, ich werde sicher ganz bald wieder etwas Gutes finden. Dazu eine gehörige Prise Humor, die einfach nur gut tat.
Und vom Gatten und von Freund J. viel, viel Verständnis und Rückenstärkung.
Vor die Wahl gestellt, im Juni doch noch zu arbeiten und mir den Urlaub finanziell abgelten zu lassen, musste ich erst einmal ganz schön in mich hineinhorchen. Ich hätte das Geld gut brauchen können, aber es war eine totale Entweder-Oder-Entscheidung, die mir niemand abnehmen konnte. Geld oder Leben. Ich habe mich für Leben entschieden.
Allmählich stellt sich Erleichterung ein. Jetzt wird erst mal durchgeatmet.
Eine Reihe von Banalitäten. Dennoch fängt jetzt etwas ganz anderes an.
Ich habe mich mit brennenden Augen bemüht, meine Gefühle nicht zu zeigen. Ich wollte es nicht. Geheuchelte Abschiedslitaneien von Leuten, mit denen ich nichts anfangen kann, Beileidsbekundungen über einen Zustand, der weder höherem Schicksal geschuldet ist noch dem Umfang meiner Fähigkeiten, sondern lediglich der Borniertheit des Chefs. "Es ist einfach so unfair!", sagte der Gatte, und Recht hat er.
Geschenkt bekommen habe ich von dem einzigen Menschen, der mir abgesehen vom Gatten wirklich etwas bedeutet in dem Laden, nämlich meinem direkten Vorgesetzten, eine warmherzige Umarmung, die Zusicherung, mich auch weiter voll zu unterstützen, wenn ich das möchte, das Angebot, als Referenz zu dienen - jederzeit. Feuchte Augen. Wirklich so zu nennender Abschiedsschmerz.
Aus der Buchhaltung die Zusicherung, ein super Arbeitszeugnis zu bekommen und aufmunternde Worte, ich werde sicher ganz bald wieder etwas Gutes finden. Dazu eine gehörige Prise Humor, die einfach nur gut tat.
Und vom Gatten und von Freund J. viel, viel Verständnis und Rückenstärkung.
Vor die Wahl gestellt, im Juni doch noch zu arbeiten und mir den Urlaub finanziell abgelten zu lassen, musste ich erst einmal ganz schön in mich hineinhorchen. Ich hätte das Geld gut brauchen können, aber es war eine totale Entweder-Oder-Entscheidung, die mir niemand abnehmen konnte. Geld oder Leben. Ich habe mich für Leben entschieden.
Allmählich stellt sich Erleichterung ein. Jetzt wird erst mal durchgeatmet.
Dienstag, 28. Mai 2013
Tauschgeschäfte
Am 28. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
In meiner Region gibt es ein Online-Tauschportal, das Leute, die suchen und solche, die bieten, zusammenbringt. Eine nette Einrichtung, auch wenn nicht jeder Kontakt ein Volltreffer ist.
So holte ich mir vor rund einem Monat aus dem Garten einer Bäuerin hier in der Gegend einen Kofferraum voller Stauden ab, die sie direkt aus dem Beet für mich abstach. Im Gegenzug erhielt sie eine Palette Erdbeermarmelade. Wenn man bedenkt, dass sie mir am liebsten ihren halben Garten mitgegeben hätte, dann ist das ein mehr als gutes Tauschgeschäft.
Morgen treffe ich mich mit einer älteren Dame, die mir einen ordentlichen Stapel Nähzeitschriften aus den Sechzigern und Siebzigern herausgelegt hat, komplett mit Schnittmustern. Dafür hätte sie gern eine Kleinigkeit für ihre Enkel. "Muss aber auch nicht sein." Nebenbei erwähnte sie dann, dass sie auch noch eine alte Singer-Nähmaschine zu verschenken habe, nur das Nähfüßchen sei ein bisschen vertüddelt und verklemmt, die müsste halt mal gewartet werden. Also wird Mrs Singer Gesellschaft bekommen (und hoffentlich wird sie nicht eifersüchtig).
Klar, da waren auch etliche Leute, die Bares "im Tausch" wollten oder gar nicht erst herausrückten mit ihren Tauschwünschen, und mir wurde auch Schrott angeboten, aber hin und wieder hat man Glück. Mir gefällt diese Art, weiterzugeben, was man selbst nicht mehr braucht.
Gespannt bin ich, was die Dame mir denn da genau ins Tauschkörbchen legen wird. Ich werde es natürlich hier dokumentieren. Die Enkel kriegen eine Bergrettungsstaffel und einen Bergretter mit Suchhund von Playmobil und freuen sich hoffentlich.
So holte ich mir vor rund einem Monat aus dem Garten einer Bäuerin hier in der Gegend einen Kofferraum voller Stauden ab, die sie direkt aus dem Beet für mich abstach. Im Gegenzug erhielt sie eine Palette Erdbeermarmelade. Wenn man bedenkt, dass sie mir am liebsten ihren halben Garten mitgegeben hätte, dann ist das ein mehr als gutes Tauschgeschäft.
Morgen treffe ich mich mit einer älteren Dame, die mir einen ordentlichen Stapel Nähzeitschriften aus den Sechzigern und Siebzigern herausgelegt hat, komplett mit Schnittmustern. Dafür hätte sie gern eine Kleinigkeit für ihre Enkel. "Muss aber auch nicht sein." Nebenbei erwähnte sie dann, dass sie auch noch eine alte Singer-Nähmaschine zu verschenken habe, nur das Nähfüßchen sei ein bisschen vertüddelt und verklemmt, die müsste halt mal gewartet werden. Also wird Mrs Singer Gesellschaft bekommen (und hoffentlich wird sie nicht eifersüchtig).
Klar, da waren auch etliche Leute, die Bares "im Tausch" wollten oder gar nicht erst herausrückten mit ihren Tauschwünschen, und mir wurde auch Schrott angeboten, aber hin und wieder hat man Glück. Mir gefällt diese Art, weiterzugeben, was man selbst nicht mehr braucht.
Gespannt bin ich, was die Dame mir denn da genau ins Tauschkörbchen legen wird. Ich werde es natürlich hier dokumentieren. Die Enkel kriegen eine Bergrettungsstaffel und einen Bergretter mit Suchhund von Playmobil und freuen sich hoffentlich.
Sonntag, 19. Mai 2013
101 Dinge
Am 19. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Beim Stöbern durch andere Blogs stieß ich auf das Konzept "101 Dinge in 1001 Tagen".
Ich bin normalerweise keine Freundin von Listen über irgendwas, beispielsweise unter Motti wie "Orte, die man in seinem Leben unbedingt gesehen haben muss" oder "Musthaves für den Kleiderschrank". Das hat sich mir irgendwie nicht erschlossen. Auch Stöckchenwerf-Aktionen, bei denen man von anderen Bloggern animiert wird, eine Liste von Fragen über sich selbst zu beantworten, erinnern mich insgesamt eher irgendwie ein bisschen an das Ausfüllen von Freundschaftsbüchern, wie wir das früher in der Schule gemacht haben (wobei das bei manchen Menschen wirklich interessante Ergebnisse hervorbringen kann). Ich habe das deswegen hier auch nur einmal getan.
Aber die Idee mit den 1001 Tagen interessiert mich. Das ist ein überschaubarer, aber auch nicht zu kurzer Zeitraum (genau genommen: 2,7 Jahre oder 143 Wochen oder 24024 Stunden oder 1441440 Minuten oder 86486400 Sekunden).
Für diesen Zeitraum mit mir selbst zu vereinbaren, 101 für mich persönlich wichtige Dinge zu tun, zu vollenden oder zumindest aktiv in Angriff zu nehmen, finde ich sehr schön. Deshalb werde ich mir in den kommenden Tagen Gedanken über eine solche Liste machen und sie hier einstellen. 101 klingt viel, aber ich glaube, die Punkte zusammenzubekommen ist nicht so schwer. Insbesondere nicht angesichts der Tatsache, dass ich eigentlich permanent das Gefühl habe, die Tage sind zu kurz, haben zu wenig Stunden und ich habe zu viel vor.
Ich finde den Gedanken hilfreich, sich an dieser Liste entlang zu hangeln und den Blick dafür nicht zu verlieren, was man wirklich gern will. Es ist ein schönes Versprechen an sich selbst.
Später also mehr.
Ich bin normalerweise keine Freundin von Listen über irgendwas, beispielsweise unter Motti wie "Orte, die man in seinem Leben unbedingt gesehen haben muss" oder "Musthaves für den Kleiderschrank". Das hat sich mir irgendwie nicht erschlossen. Auch Stöckchenwerf-Aktionen, bei denen man von anderen Bloggern animiert wird, eine Liste von Fragen über sich selbst zu beantworten, erinnern mich insgesamt eher irgendwie ein bisschen an das Ausfüllen von Freundschaftsbüchern, wie wir das früher in der Schule gemacht haben (wobei das bei manchen Menschen wirklich interessante Ergebnisse hervorbringen kann). Ich habe das deswegen hier auch nur einmal getan.
Aber die Idee mit den 1001 Tagen interessiert mich. Das ist ein überschaubarer, aber auch nicht zu kurzer Zeitraum (genau genommen: 2,7 Jahre oder 143 Wochen oder 24024 Stunden oder 1441440 Minuten oder 86486400 Sekunden).
Für diesen Zeitraum mit mir selbst zu vereinbaren, 101 für mich persönlich wichtige Dinge zu tun, zu vollenden oder zumindest aktiv in Angriff zu nehmen, finde ich sehr schön. Deshalb werde ich mir in den kommenden Tagen Gedanken über eine solche Liste machen und sie hier einstellen. 101 klingt viel, aber ich glaube, die Punkte zusammenzubekommen ist nicht so schwer. Insbesondere nicht angesichts der Tatsache, dass ich eigentlich permanent das Gefühl habe, die Tage sind zu kurz, haben zu wenig Stunden und ich habe zu viel vor.
Ich finde den Gedanken hilfreich, sich an dieser Liste entlang zu hangeln und den Blick dafür nicht zu verlieren, was man wirklich gern will. Es ist ein schönes Versprechen an sich selbst.
Später also mehr.
Freitag, 17. Mai 2013
Frühling
Am 17. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Die Stimmen des Lebens für meine Ohren -
Das üppige Grün für meine Augen -
Die würzige Luft für meine Seele -
- wie das Stillen eines Durstes, an den ich mich unbemerkt viel zu lang gewöhnt hatte.
Das üppige Grün für meine Augen -
Die würzige Luft für meine Seele -
- wie das Stillen eines Durstes, an den ich mich unbemerkt viel zu lang gewöhnt hatte.
Sonntag, 12. Mai 2013
Ein Abschied
Am 12. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Alle meine Freundinnen wohnen recht weit von mir entfernt. Am nächsten wohnt Freundin I., bei ihr sind es "nur" 60 Kilometer - eine Entfernung, die man auch noch relativ spontan mit Zug oder Auto bewältigen kann und nicht allerausführlichstens planen muss. Trotzdem finde ich es schon in ihrem Fall schade, dass so viel nach dem Terminkalender gehen muss. Ich vermisse sehr die Zeit, in der wir uns zum Mittagessen trafen oder zum Kaffee und Stunden um Stunden ungezwungen verquatschten.
Die Freundschaften aus meiner Studienzeit sind alle keine "mal kurz"-Freundschaften. Sie sind deswegen nicht weniger innig. Im Gegenteil, auch die Freundschaft zu S. erfuhr eine deutliche Belebung, seit wir bewusst mehr Zeit miteinander zu verbringen versuchen. S. ist mit 450 Kilometern die Entfernungs-Spitzenreiterin.
Schön war immer die freundschaftlich-unbefangene Beziehung zu meiner Schwägerin K., die etwas außerhalb unserer Stadt wohnt, und auch, wenn Spontaneität bei den drei Kindern nicht immer möglich war, habe ich unsere gemeinsamen Nachmittage sehr genossen. Mit ihr flog die Zeit.
Schwager und Schwägerin werden mit den Kindern wegziehen. Das heißt, auch uns werden künftig 180 Kilometer trennen. Ich verstehe sehr gut, dass sie es tun, denn ihre wirtschaftliche Lage war sehr unsicher, seit Schwagers Selbständigkeit gescheitert ist. Es ist gut, dass sie jetzt eine neue Perspektive haben, und ich freue mich für sie darüber. Dennoch werden sie mir alle fehlen. Es ist etwas anderes, die Nichten und Neffen nur noch ein paar Mal im Jahr sehen zu können, und es ist etwas anderes, in Zukunft allein Ausflüge zum Bummeln in die Niederlande zu unternehmen - etwas, das ich immer sehr gern gemeinsam mit K. tat und bei dem sie mir besonders fehlen wird. Fehlen werden mir auch unsere Sofagespräche und gemeinsamen kreativen Pläne. K. wird mir fehlen, ganz einfach.
Ich möchte ihr und den Kindern gern irgend etwas mitgeben, etwas, das ihnen den Anfang anderswo erleichtern wird und ihnen zugleich sagt, dass sie fehlen werden. Der Gatte und ich werden noch einmal einen Ausflug mit der Schwägerfamilie machen, bei dem auch die Kinder auf ihre Kosten kommen sollen.
Ich bin traurig. Ich hätte nicht gedacht, wie sehr.
Die Freundschaften aus meiner Studienzeit sind alle keine "mal kurz"-Freundschaften. Sie sind deswegen nicht weniger innig. Im Gegenteil, auch die Freundschaft zu S. erfuhr eine deutliche Belebung, seit wir bewusst mehr Zeit miteinander zu verbringen versuchen. S. ist mit 450 Kilometern die Entfernungs-Spitzenreiterin.
Schön war immer die freundschaftlich-unbefangene Beziehung zu meiner Schwägerin K., die etwas außerhalb unserer Stadt wohnt, und auch, wenn Spontaneität bei den drei Kindern nicht immer möglich war, habe ich unsere gemeinsamen Nachmittage sehr genossen. Mit ihr flog die Zeit.
Schwager und Schwägerin werden mit den Kindern wegziehen. Das heißt, auch uns werden künftig 180 Kilometer trennen. Ich verstehe sehr gut, dass sie es tun, denn ihre wirtschaftliche Lage war sehr unsicher, seit Schwagers Selbständigkeit gescheitert ist. Es ist gut, dass sie jetzt eine neue Perspektive haben, und ich freue mich für sie darüber. Dennoch werden sie mir alle fehlen. Es ist etwas anderes, die Nichten und Neffen nur noch ein paar Mal im Jahr sehen zu können, und es ist etwas anderes, in Zukunft allein Ausflüge zum Bummeln in die Niederlande zu unternehmen - etwas, das ich immer sehr gern gemeinsam mit K. tat und bei dem sie mir besonders fehlen wird. Fehlen werden mir auch unsere Sofagespräche und gemeinsamen kreativen Pläne. K. wird mir fehlen, ganz einfach.
Ich möchte ihr und den Kindern gern irgend etwas mitgeben, etwas, das ihnen den Anfang anderswo erleichtern wird und ihnen zugleich sagt, dass sie fehlen werden. Der Gatte und ich werden noch einmal einen Ausflug mit der Schwägerfamilie machen, bei dem auch die Kinder auf ihre Kosten kommen sollen.
Ich bin traurig. Ich hätte nicht gedacht, wie sehr.
Freitag, 10. Mai 2013
Geschichte in Sepia
Am 10. Mai 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Einige Zeit, nachdem meine Großmutter gestorben war, gelangten ihre alten Fotos, Briefe und noch einige andere Kleinigkeiten wie Lebensmittelkarten und Pässe in meine Hände. Der Rest der Familie interessiert sich kaum dafür. All das befindet sich also jetzt in zwei Pappkartons auf meinem Dachboden, und ab und an hole ich sie herunter. Angesichts der Tatsache, dass sie 92 Jahre alt wurde, wirkt das auf mich immer wenig. Andererseits sind es wirklich viele Fotos, wenn man bedenkt, dass die Menschen vor siebzig, achtzig, hundert Jahren längst nicht so viel und nicht im Vorbeigehen fotografierten. Mir fällt auf, wie wenig ich eigentlich vom Leben meiner Großmutter vor meiner eigenen Existenz weiß. Dass es nicht einfach war, so viel weiß ich. Durch die Bilder zu blättern ist wie eine Zeitreise. Manche berühren mich besonders. Manche werfen Fragen auf, manche - näher an meiner eigenen Zeit - kann ich besser einordnen, weil ich die Geschichten dazu kenne.
Zum Beispiel ist da auf so vielen Bildern eine Frau mit rauhem, irgendwie aber gütigem Gesicht und strenger Frisur, meist in derbem, dunklem Rock und Schürze, kräftig, mit dicken Fingern. Das ist meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, den ich selbst nie kennen gelernt habe. Oft ist sie gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter, meiner Großmutter zu sehen - ohne die im Krieg befindlichen Männer. Jemand im Bekanntenkreis oder der Familie hatte offenbar schon damals die Möglichkeit, Fotografien zu machen, und so sieht man die Frauen nicht nur zusammen auf einem sorgsam arrangierten Atelierbild - die jüngere, die ältere und meine vielleicht zwei Jahre alte Tante. Sondern man sieht sie auch zusammen im Hof stehen, oder auf einem lässigen wirkenden Gruppenfoto, auf dem sich meine Urgroßmutter beinahe mädchenhaft an ihre Nachbarin lehnt, unter Frühlingsbäumen. Es gibt sogar noch ein älteres Bild, dessen Oberfläche silbrig glänzt, wenn man sie gegen das Licht kippt. Es zeigt meine Urgroßeltern als junge Leute mit ihren beiden Kindern.
Während ich von der anderen Seite, also aus dem Elternhaus meines Vaters beinahe keine Bilder habe, herrscht hier Fülle. Meine Vorfahren dort so sitzen zu sehen, rührt mich auf seltsame Weise und schürt in mir den Wunsch, durch das Bild hindurch zu reichen und herauszufinden, wer sie waren.
Da sind auch Bilder von einem kleinen Wicht mit Matrosenmütze vor einem Ziehbrunnen, der einen gefleckten Hund auf dem Schoß hält. Aus ihm sollte später einmal der Schmied werden, den dann die Linse der Kamera einfing, wie er den Hinterfuß eines Pferdes festhält.
Oder auch, wie er im Sonntagsanzug mit seinen Schwägern auf der Wiese liegt, entspannt, mit einer gewissen Flegelhaftigkeit. Auf dem Rad, über die Schulter zurückschauend. Und schließlich neben meiner Großmutter, mit weißer Fliege, kühner Welle im Haar und dem Zylinder in der Hand, bei seiner Hochzeit. Wir haben die gleichen Ohren.
Zu anderen Bildern habe ich nicht die geringste Erklärung. Da ist eine ganze Serie kleinformatiger Fotos mit gewelltem Rand, die eine Beerdigung zeigen. Der Verstorbene muss wohl nicht eben unbedeutend gewesen sein, denn der Volksauflauf zu seinem Begräbnis war groß. Eine von zwei schwarzen Pferden gezogene Kutsche, Sargträger mit Zylindern, Menschen am offenen Grab. In den Briefen an meine Großmutter, die ich mühsam aus dem Sütterlin heraus übertrug, ist einmal von einer Beerdigung die Rede. Ob das diese Beerdigung war? Wer da nun genau betrauert wurde, das wird ein Rätsel bleiben.
Ebenso, wer die zwei Gestalten sind, die da auf einem anderen Foto mit Rechen auf einer dörflichen Wiese stehen und Heu machen.
In dem Fundus finden sich außerdem unzählige sehr alte, auf Pappe gezogene Fotografien von Konfirmanden, die geduldig und mit dem Gesangbuch in der Hand darauf warten, sich wieder bewegen zu dürfen. Ganz ähnliche Atelierbilder gibt es auch von Paaren, die Frauen teilweise noch in Tracht, mit hochgeschlossenen Krägen und viel, viel Kleid, die Männer stehend dahinter, eine Hand auf Lehne oder Schulter, ganz Pater Familias.
Dann ist da auch dieses Bild von einem älteren Paar. Sie sitzen nebeneinander in Korbstühlen, er mit einer Art Schiffermütze (hierzulande sagt man "Kipse") auf dem Kopf und einem Gehstock in der Hand, sie mit einem großen Feldblumenstrauß und einem wunderschönen Lachen im Gesicht, vor allem aber in den Augen. Dies gehört zu meinen Lieblingsbildern.
Am meisten gefallen mir die Bilder, die lebendig wirken, weniger museumshaft, eher wie eingefangener Alltag. Meine Großmutter, wie sie an einer Wäscheleine mit weißen Unterhemden steht.
Wie sie mit meinem Großvater am Wegesrand auf einem Zaun sitzt, im Schoß ein weißes Papier mit Butterbrot, als Wegzehrung vielleicht bei einem Spaziergang. Jüngere Fotos in quadratischem Format zeigen sie beim Schmücken des Weihnachtsbaumes und beim Äpfelpflücken in fast derselben Pose.
Im Hintergrund steht die weiße Bank, die mal mein Großvater baute und auf der auch ich als Kind noch gesessen habe. Auf einem recht verschwommenen Bild steht meine Großmutter mit ihrer Schwester am Straßenrand. Ganz einfach so.
Ich kannte meine Großmutter immer in blauer Kittelschürze, füllig, aber nicht dick, mit wassergewellten Haaren, immer lebenspraktisch. Sonntags auch mal fein herausgeputzt, im weißgepunkteten Kleid mit Kragen und Perlenkette. Vor allem war sie immer für mich da. Ich kannte sie als apfelschälende, Zwieback mit Zucker bestreuende, die Krümel vom Tisch aufpickende Oma. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge, wie sie in Holzschuhen den Garten umgrub und Reihen machte, um auszusäen. Wie sie im Sommer mit einer Schüssel auf den Knien Kartoffeln schälte oder Bohnen schnitt. Wie sie heimlich ein Stück Salami vom Tisch fallen ließ für den Hund, wenn sie dachte, keiner schaut hin. Ich habe meine Großmutter sehr, sehr geliebt und höre ihre Stimme oft immer noch in Gedanken, tröstend, fürsorglich und manchmal rügend.
In der Fotokiste ist auch ein kleinformatiges Bild, das meine Großmutter als junges Mädchen in einem ovalen Bildausschnitt zeigt. Ich schaue es mir immer wieder an, lange, mit der Frage im Kopf, was sie noch alles erlebt haben mag und worüber sie nie sprach. Ihre Geschichte ist lang.
Und zwischen all den sepiafarbenen Aufnahmen liegt ein Farbfoto, das meine Großmutter zeigt, wie ich sie kannte: Die Haare inzwischen schlohweiß, beugt sie sich über einen großen Becher Eis mit Erdbeeren, konzentriert und doch genussvoll. Da schließt sich der Kreis. Es ist schön, dass es sie gab in meinem Leben.
Anmerkung:
Hochzeiten. Die hat es natürlich im Leben meiner Großmutter reichlich gegeben, nicht nur ihre eigene und die ihrer Verwandten und Bekannten. Daher finden sich viele dieser Hochzeitsfotos. Die ältesten in dem Fundus mögen aus der Zeit etwa um 1900 oder etwas früher stammen, die jüngsten schätze ich ungefähr auf die frühen 50er Jahre. Bis dahin war es offensichtlich Sitte, in schwarz zu heiraten, wie ich drüben bei Frau Feuerlibelle angemerkt hatte. Eine Galerie dieser Fotos findet sich in den Kommentaren zu diesem Beitrag, damit nicht zu viele Bilder auf meiner Startseite geladen werden müssen.
Zum Beispiel ist da auf so vielen Bildern eine Frau mit rauhem, irgendwie aber gütigem Gesicht und strenger Frisur, meist in derbem, dunklem Rock und Schürze, kräftig, mit dicken Fingern. Das ist meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, den ich selbst nie kennen gelernt habe. Oft ist sie gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter, meiner Großmutter zu sehen - ohne die im Krieg befindlichen Männer. Jemand im Bekanntenkreis oder der Familie hatte offenbar schon damals die Möglichkeit, Fotografien zu machen, und so sieht man die Frauen nicht nur zusammen auf einem sorgsam arrangierten Atelierbild - die jüngere, die ältere und meine vielleicht zwei Jahre alte Tante. Sondern man sieht sie auch zusammen im Hof stehen, oder auf einem lässigen wirkenden Gruppenfoto, auf dem sich meine Urgroßmutter beinahe mädchenhaft an ihre Nachbarin lehnt, unter Frühlingsbäumen. Es gibt sogar noch ein älteres Bild, dessen Oberfläche silbrig glänzt, wenn man sie gegen das Licht kippt. Es zeigt meine Urgroßeltern als junge Leute mit ihren beiden Kindern.
Während ich von der anderen Seite, also aus dem Elternhaus meines Vaters beinahe keine Bilder habe, herrscht hier Fülle. Meine Vorfahren dort so sitzen zu sehen, rührt mich auf seltsame Weise und schürt in mir den Wunsch, durch das Bild hindurch zu reichen und herauszufinden, wer sie waren.
Da sind auch Bilder von einem kleinen Wicht mit Matrosenmütze vor einem Ziehbrunnen, der einen gefleckten Hund auf dem Schoß hält. Aus ihm sollte später einmal der Schmied werden, den dann die Linse der Kamera einfing, wie er den Hinterfuß eines Pferdes festhält.
Oder auch, wie er im Sonntagsanzug mit seinen Schwägern auf der Wiese liegt, entspannt, mit einer gewissen Flegelhaftigkeit. Auf dem Rad, über die Schulter zurückschauend. Und schließlich neben meiner Großmutter, mit weißer Fliege, kühner Welle im Haar und dem Zylinder in der Hand, bei seiner Hochzeit. Wir haben die gleichen Ohren.
Zu anderen Bildern habe ich nicht die geringste Erklärung. Da ist eine ganze Serie kleinformatiger Fotos mit gewelltem Rand, die eine Beerdigung zeigen. Der Verstorbene muss wohl nicht eben unbedeutend gewesen sein, denn der Volksauflauf zu seinem Begräbnis war groß. Eine von zwei schwarzen Pferden gezogene Kutsche, Sargträger mit Zylindern, Menschen am offenen Grab. In den Briefen an meine Großmutter, die ich mühsam aus dem Sütterlin heraus übertrug, ist einmal von einer Beerdigung die Rede. Ob das diese Beerdigung war? Wer da nun genau betrauert wurde, das wird ein Rätsel bleiben.
Ebenso, wer die zwei Gestalten sind, die da auf einem anderen Foto mit Rechen auf einer dörflichen Wiese stehen und Heu machen.
In dem Fundus finden sich außerdem unzählige sehr alte, auf Pappe gezogene Fotografien von Konfirmanden, die geduldig und mit dem Gesangbuch in der Hand darauf warten, sich wieder bewegen zu dürfen. Ganz ähnliche Atelierbilder gibt es auch von Paaren, die Frauen teilweise noch in Tracht, mit hochgeschlossenen Krägen und viel, viel Kleid, die Männer stehend dahinter, eine Hand auf Lehne oder Schulter, ganz Pater Familias.
Dann ist da auch dieses Bild von einem älteren Paar. Sie sitzen nebeneinander in Korbstühlen, er mit einer Art Schiffermütze (hierzulande sagt man "Kipse") auf dem Kopf und einem Gehstock in der Hand, sie mit einem großen Feldblumenstrauß und einem wunderschönen Lachen im Gesicht, vor allem aber in den Augen. Dies gehört zu meinen Lieblingsbildern.
Am meisten gefallen mir die Bilder, die lebendig wirken, weniger museumshaft, eher wie eingefangener Alltag. Meine Großmutter, wie sie an einer Wäscheleine mit weißen Unterhemden steht.
Wie sie mit meinem Großvater am Wegesrand auf einem Zaun sitzt, im Schoß ein weißes Papier mit Butterbrot, als Wegzehrung vielleicht bei einem Spaziergang. Jüngere Fotos in quadratischem Format zeigen sie beim Schmücken des Weihnachtsbaumes und beim Äpfelpflücken in fast derselben Pose.
Im Hintergrund steht die weiße Bank, die mal mein Großvater baute und auf der auch ich als Kind noch gesessen habe. Auf einem recht verschwommenen Bild steht meine Großmutter mit ihrer Schwester am Straßenrand. Ganz einfach so.
Ich kannte meine Großmutter immer in blauer Kittelschürze, füllig, aber nicht dick, mit wassergewellten Haaren, immer lebenspraktisch. Sonntags auch mal fein herausgeputzt, im weißgepunkteten Kleid mit Kragen und Perlenkette. Vor allem war sie immer für mich da. Ich kannte sie als apfelschälende, Zwieback mit Zucker bestreuende, die Krümel vom Tisch aufpickende Oma. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge, wie sie in Holzschuhen den Garten umgrub und Reihen machte, um auszusäen. Wie sie im Sommer mit einer Schüssel auf den Knien Kartoffeln schälte oder Bohnen schnitt. Wie sie heimlich ein Stück Salami vom Tisch fallen ließ für den Hund, wenn sie dachte, keiner schaut hin. Ich habe meine Großmutter sehr, sehr geliebt und höre ihre Stimme oft immer noch in Gedanken, tröstend, fürsorglich und manchmal rügend.
In der Fotokiste ist auch ein kleinformatiges Bild, das meine Großmutter als junges Mädchen in einem ovalen Bildausschnitt zeigt. Ich schaue es mir immer wieder an, lange, mit der Frage im Kopf, was sie noch alles erlebt haben mag und worüber sie nie sprach. Ihre Geschichte ist lang.
Und zwischen all den sepiafarbenen Aufnahmen liegt ein Farbfoto, das meine Großmutter zeigt, wie ich sie kannte: Die Haare inzwischen schlohweiß, beugt sie sich über einen großen Becher Eis mit Erdbeeren, konzentriert und doch genussvoll. Da schließt sich der Kreis. Es ist schön, dass es sie gab in meinem Leben.
Anmerkung:
Hochzeiten. Die hat es natürlich im Leben meiner Großmutter reichlich gegeben, nicht nur ihre eigene und die ihrer Verwandten und Bekannten. Daher finden sich viele dieser Hochzeitsfotos. Die ältesten in dem Fundus mögen aus der Zeit etwa um 1900 oder etwas früher stammen, die jüngsten schätze ich ungefähr auf die frühen 50er Jahre. Bis dahin war es offensichtlich Sitte, in schwarz zu heiraten, wie ich drüben bei Frau Feuerlibelle angemerkt hatte. Eine Galerie dieser Fotos findet sich in den Kommentaren zu diesem Beitrag, damit nicht zu viele Bilder auf meiner Startseite geladen werden müssen.
Samstag, 23. März 2013
Das Fahrrad hat Kummer
Am 23. Mär 2013 im Topic 'Hoch- und Niedrigwasser'
Als Mädchen wurde ich zu meinem zwölften Geburtstag mit einem neuen Fahrrad beschenkt. Das war damals ein ziemlich drahtig-eckig aussehendes Modell von NSU mit pinkfarbenem Rahmen, weißem Kunststoffsattel und weißen Handgriffen und 5-Gang-Kettenschaltung.
Irgendwann im fortgeschrittenen Teenageralter wurde es mir zu bunt, ich nahm es vollständig auseinander und lackierte es in Moosgrün-Metallic. Das Prachtstück wurde mir eines Abends auf einem Schützenfest gestohlen und ward nicht mehr gesehen. Danach fuhr ich eine Weile auf dem alten Rad meiner Großmutter, das überhaupt keine Gangschaltung besaß, dafür aber wunderbar nostalgisch aussah, bis ich irgendwann, hinter meinen Brillengläsern blind im dichten Regen, mit voller Geschwindigkeit in das Heck eines parkenden alten Mercedes fuhr, was dem Auto eine Delle knapp oberhalb des Sterns auf der Kofferraumklappe einbrachte und meinem Omafahrrad eine gewaltig nach hinten verbogene Gabel.
Erst, als ich zum Studieren das zweite Mal umzog, stellte sich die Frage nach einem eigenen Fahrrad erneut. Was ich in der Zwischenzeit ohne gemacht habe, ist mir bis heute nicht so ganz klar, aber ich weiß, ich bin ungeheuer viel Straßenbahn gefahren. Auch ziemlich gern. Für die neue Stadt wollte ich dann aber doch ein neues Rad, und so kam la bicicletta für 250 Mark in meinen Besitz.
Sie war in ausgezeichnetem Zustand, alle Chromteile glänzten, der schwarze Lack auch, und sie passte von Anfang an zu mir. Eine echte Schönheit. Das war noch lange bevor die Nostalgiewelle aufkam. Heute fährt jedes zweite Mädchen in meiner Stadt mit einer nachgemachten Omafiets im Retro-Look durch die Gegend.
La bicicletta ist eine Gazelle, Baujahr rund 1983, und ein ziemliches Kuriosum. Sie hat vorn eine Gestängebremse mit Stempel (wie ich herausfand, auch ab und an mal salopp "Scheißeschieber" genannt), den klassischen schwarzen Rockschutz aus Moleskin am Hinterrad, einen geschlossenen Kettenkasten aus Moleskin, helle Bereifung und natürlich den schönen, halbrunden Bogen am Rahmen. Sie hat aber doch wieder einen Schnapp-Gepäckträger statt einen mit Spannriemen. Der Bequemlichkeit halber habe ich auch nach dem Verschleiß des ersten (Bruch der Feder) wieder auf einen Lepper Primus Ledersattel zurückgegriffen.
Als ich jüngst einen genaueren Blick auf sie warf, anstatt sie nur zweimal am Tag für je zwanzig Minuten einfach zu benutzen, stellte ich fest, dass Salz und Nässe meiner Madame Drahtesel sehr zugesetzt haben. Ich mache mir heftige Vorwürfe, wirklich wahr. Als ich noch in meiner Studienstadt wohnte, wäre es erforderlich gewesen, das Fahrrad jedes Mal in den Keller zu tragen, um es trocken zu halten, und ich war faul, und la bicicletta stand also draußen. Sie setzte Rost an, vor allem an den Chromteilen. Inzwischen hat sie ihre Herberge in unserer hochherrschaftlichen Remise (dem Fahrradschuppen) und steht eigentlich immer trocken. Außer, wenn sie vor dem Firmengebäude steht. Dann steht sie eben doch im Regen, oder im Schnee. Der März neigt sich dem Ende, aber der Winter will hier immer noch nicht weichen, und ich habe das Gefühl, dieses Jahr war ganz besonders viel Salz auf den Straßen. Salz in den Wunden meines wunderbaren Rades.
Sie ist irgendwie überall rostig. Am Rahmen, am Gepäckträger, am vorderen Schutzblech. Ganz besonders, dort, wo die verchromte Ziernase in das Schutzblech eingepasst ist.
Dort hat der Lack Blasen geworfen und hässliche, braun-bröselige Stellen bekommen. Auch an den Rändern des Schutzbleches, wo Dreck, Salz und Nässe besonders gern hängenbleiben, hat sie ganz arge Rostspuren. Das Metall ihrer ovalen Lampe ist leicht blind.
Am Sattelrohr und am hinteren Schutzblech hat lange und beharrlich ein umgehängtes Kabelschloss den Lack und einen Teil des hübschen, nostalgischen Aufklebers weggescheuert. Ihr Ständer lässt sich nur noch schwer bedienen. Wie kam das so weit? Wieso ist mir das nicht eher aufgefallen?
Ich habe mir den Kopf zerbrochen. So kann sie nicht bleiben. Das tut schon beim ansehen weh, und mein Fahrrad, das mich noch immer so treu, ohne Geklapper und Gequietsche durch Stadt und Landschaft trägt, hat Besseres verdient als diesen traurigen Zustand. Mal abgesehen davon, dass ich mir ein neues Rad nicht leisten kann, hänge ich mit meinem ganzen Herzen an la bicicletta. Also, was bleibt?
Ich dachte zuerst über den Austausch einiger Teile nach. Da mein Drahtesel allem Anschein nach ein Modell "Toer Populair" ist, das nach wie vor fabriziert wird, wären manche Teile vielleicht sogar zu haben. Aber ist sie dann noch original? War sie je original? Wer weiß. Zudem dürfte es äußerst schwierig sein, ein passendes vorderes Schutzblech mit einem Durchlass für die Stempelbremse zu finden. Der Fahrradhändler tat sich schon schwer damit, als ich das letzte Mal neue Bremsgummis haben wollte. Die Bremse umzurüsten auf eine Felgenbremse mit Bowdenzug kommt nicht in Frage. Denn dann passt der Lenker nicht mehr, der eine gerade Form hat und angeschweißte Teile, die den Bremshebel in Position halten. Daran herumzubasteln fände ich stillos. Aber vielleicht ist irgendwo ein neues Bremsgestänge zu finden, denn das ist nach den letzten Versuchen des betreffenden Fahrradhändlers reichlich verbogen. Der Mann hat ohnehin mehr verbaselt als heil gemacht und besitzt daher schon seit geraumer Zeit mein Vertrauen nicht mehr.
Dann schoss mir durch den Kopf, einzelne Teile oder gar den ganzen Rahmen neu zu lackieren. Das allerdings wäre, wenn man es denn richtig machen möchte, eine mühevolle Arbeit, während der zudem la bicicletta für mich als Transportmittel ausfiele. Ich besitze keinen Sandstrahler, keine Farbpistole und keine fachlichen Kenntnisse, um das wirklich professionell zu machen. Das Ergebnis sähe vermutlich eher peinlich aus, ähnlich wie bei der schließlich metallic-moosgrünen NSU, die später unter dem Tretlager zu blättern begann und dann doch wieder einen Hauch Pink trug. Womöglich produzierte ich auch eine hässliche Farbnase nach der anderen in Ermangelung eines Lackierzeltes, in dem ich ausgiebig herumnebeln könnte. Außerdem gingen bei einer komplett neuen Lackierung leider, leider die hübschen Aufkleber und Verzierungen in Form goldener Linien verloren, und das soll nicht. Die Gazelle wäre nicht mehr die Gazelle. Nicht so richtig.
Ich freunde mich jetzt so langsam mit einer Art Zwischenlösung an. Dem Rost werde ich bei einsetzender besserer Witterung mit Fertan zuleibe rücken, was dann einen schwarzen Belag anstelle des Rostes hinterlassen und hoffentlich neuem vorbeugen sollte. Dann wird nach Möglichkeit klar lackiert. Inzwischen sollen sämtliche Chromteile eine ordentliche Reinigung und Politur erhalten, die Aufkleber kommen vom Rockschutz herunter und ich werde meine alte Dame mit einem neuen Ständer und neuen Reifenmänteln beschenken. Für Ideen, Anregungen und Erfahrungsberichte bin ich alldieweil stets offen.
Irgendwann im fortgeschrittenen Teenageralter wurde es mir zu bunt, ich nahm es vollständig auseinander und lackierte es in Moosgrün-Metallic. Das Prachtstück wurde mir eines Abends auf einem Schützenfest gestohlen und ward nicht mehr gesehen. Danach fuhr ich eine Weile auf dem alten Rad meiner Großmutter, das überhaupt keine Gangschaltung besaß, dafür aber wunderbar nostalgisch aussah, bis ich irgendwann, hinter meinen Brillengläsern blind im dichten Regen, mit voller Geschwindigkeit in das Heck eines parkenden alten Mercedes fuhr, was dem Auto eine Delle knapp oberhalb des Sterns auf der Kofferraumklappe einbrachte und meinem Omafahrrad eine gewaltig nach hinten verbogene Gabel.
Erst, als ich zum Studieren das zweite Mal umzog, stellte sich die Frage nach einem eigenen Fahrrad erneut. Was ich in der Zwischenzeit ohne gemacht habe, ist mir bis heute nicht so ganz klar, aber ich weiß, ich bin ungeheuer viel Straßenbahn gefahren. Auch ziemlich gern. Für die neue Stadt wollte ich dann aber doch ein neues Rad, und so kam la bicicletta für 250 Mark in meinen Besitz.
Sie war in ausgezeichnetem Zustand, alle Chromteile glänzten, der schwarze Lack auch, und sie passte von Anfang an zu mir. Eine echte Schönheit. Das war noch lange bevor die Nostalgiewelle aufkam. Heute fährt jedes zweite Mädchen in meiner Stadt mit einer nachgemachten Omafiets im Retro-Look durch die Gegend.
La bicicletta ist eine Gazelle, Baujahr rund 1983, und ein ziemliches Kuriosum. Sie hat vorn eine Gestängebremse mit Stempel (wie ich herausfand, auch ab und an mal salopp "Scheißeschieber" genannt), den klassischen schwarzen Rockschutz aus Moleskin am Hinterrad, einen geschlossenen Kettenkasten aus Moleskin, helle Bereifung und natürlich den schönen, halbrunden Bogen am Rahmen. Sie hat aber doch wieder einen Schnapp-Gepäckträger statt einen mit Spannriemen. Der Bequemlichkeit halber habe ich auch nach dem Verschleiß des ersten (Bruch der Feder) wieder auf einen Lepper Primus Ledersattel zurückgegriffen.
Als ich jüngst einen genaueren Blick auf sie warf, anstatt sie nur zweimal am Tag für je zwanzig Minuten einfach zu benutzen, stellte ich fest, dass Salz und Nässe meiner Madame Drahtesel sehr zugesetzt haben. Ich mache mir heftige Vorwürfe, wirklich wahr. Als ich noch in meiner Studienstadt wohnte, wäre es erforderlich gewesen, das Fahrrad jedes Mal in den Keller zu tragen, um es trocken zu halten, und ich war faul, und la bicicletta stand also draußen. Sie setzte Rost an, vor allem an den Chromteilen. Inzwischen hat sie ihre Herberge in unserer hochherrschaftlichen Remise (dem Fahrradschuppen) und steht eigentlich immer trocken. Außer, wenn sie vor dem Firmengebäude steht. Dann steht sie eben doch im Regen, oder im Schnee. Der März neigt sich dem Ende, aber der Winter will hier immer noch nicht weichen, und ich habe das Gefühl, dieses Jahr war ganz besonders viel Salz auf den Straßen. Salz in den Wunden meines wunderbaren Rades.
Sie ist irgendwie überall rostig. Am Rahmen, am Gepäckträger, am vorderen Schutzblech. Ganz besonders, dort, wo die verchromte Ziernase in das Schutzblech eingepasst ist.
Dort hat der Lack Blasen geworfen und hässliche, braun-bröselige Stellen bekommen. Auch an den Rändern des Schutzbleches, wo Dreck, Salz und Nässe besonders gern hängenbleiben, hat sie ganz arge Rostspuren. Das Metall ihrer ovalen Lampe ist leicht blind.
Am Sattelrohr und am hinteren Schutzblech hat lange und beharrlich ein umgehängtes Kabelschloss den Lack und einen Teil des hübschen, nostalgischen Aufklebers weggescheuert. Ihr Ständer lässt sich nur noch schwer bedienen. Wie kam das so weit? Wieso ist mir das nicht eher aufgefallen?
Ich habe mir den Kopf zerbrochen. So kann sie nicht bleiben. Das tut schon beim ansehen weh, und mein Fahrrad, das mich noch immer so treu, ohne Geklapper und Gequietsche durch Stadt und Landschaft trägt, hat Besseres verdient als diesen traurigen Zustand. Mal abgesehen davon, dass ich mir ein neues Rad nicht leisten kann, hänge ich mit meinem ganzen Herzen an la bicicletta. Also, was bleibt?
Ich dachte zuerst über den Austausch einiger Teile nach. Da mein Drahtesel allem Anschein nach ein Modell "Toer Populair" ist, das nach wie vor fabriziert wird, wären manche Teile vielleicht sogar zu haben. Aber ist sie dann noch original? War sie je original? Wer weiß. Zudem dürfte es äußerst schwierig sein, ein passendes vorderes Schutzblech mit einem Durchlass für die Stempelbremse zu finden. Der Fahrradhändler tat sich schon schwer damit, als ich das letzte Mal neue Bremsgummis haben wollte. Die Bremse umzurüsten auf eine Felgenbremse mit Bowdenzug kommt nicht in Frage. Denn dann passt der Lenker nicht mehr, der eine gerade Form hat und angeschweißte Teile, die den Bremshebel in Position halten. Daran herumzubasteln fände ich stillos. Aber vielleicht ist irgendwo ein neues Bremsgestänge zu finden, denn das ist nach den letzten Versuchen des betreffenden Fahrradhändlers reichlich verbogen. Der Mann hat ohnehin mehr verbaselt als heil gemacht und besitzt daher schon seit geraumer Zeit mein Vertrauen nicht mehr.
Dann schoss mir durch den Kopf, einzelne Teile oder gar den ganzen Rahmen neu zu lackieren. Das allerdings wäre, wenn man es denn richtig machen möchte, eine mühevolle Arbeit, während der zudem la bicicletta für mich als Transportmittel ausfiele. Ich besitze keinen Sandstrahler, keine Farbpistole und keine fachlichen Kenntnisse, um das wirklich professionell zu machen. Das Ergebnis sähe vermutlich eher peinlich aus, ähnlich wie bei der schließlich metallic-moosgrünen NSU, die später unter dem Tretlager zu blättern begann und dann doch wieder einen Hauch Pink trug. Womöglich produzierte ich auch eine hässliche Farbnase nach der anderen in Ermangelung eines Lackierzeltes, in dem ich ausgiebig herumnebeln könnte. Außerdem gingen bei einer komplett neuen Lackierung leider, leider die hübschen Aufkleber und Verzierungen in Form goldener Linien verloren, und das soll nicht. Die Gazelle wäre nicht mehr die Gazelle. Nicht so richtig.
Ich freunde mich jetzt so langsam mit einer Art Zwischenlösung an. Dem Rost werde ich bei einsetzender besserer Witterung mit Fertan zuleibe rücken, was dann einen schwarzen Belag anstelle des Rostes hinterlassen und hoffentlich neuem vorbeugen sollte. Dann wird nach Möglichkeit klar lackiert. Inzwischen sollen sämtliche Chromteile eine ordentliche Reinigung und Politur erhalten, die Aufkleber kommen vom Rockschutz herunter und ich werde meine alte Dame mit einem neuen Ständer und neuen Reifenmänteln beschenken. Für Ideen, Anregungen und Erfahrungsberichte bin ich alldieweil stets offen.
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