Sturmflut
Stille Nacht?
Das Weihnachtsfest ist an einem Tiefpunkt angekommen. Heiligabend - so lautet das Fazit aus den gestrigen Erlebnissen - kann genau so gut auch gestrichen werden.

Schon als wir gestern unseren kleinen Schwarzen bei den Schwiegereltern vorfuhren, um sie abzuholen, war die Stimmung wirklich herzig. Der Gatte hatte mir schon vorher gesagt, er sei nicht in Feierlaune, was ich von ihm allerdings kaum anders gewohnt bin. Die Kinder stellen für ihn immer wieder eine hoffnungslose Überreizung dar, und auch ich als Nicht-Aspie habe in der letzten Zeit oft die Schnauze voll. Zudem "freute" ihn besonders die Aussicht auf seinen Bruder, der an Tagen wie diesem an seiner Frau herumzumäkeln neigt, und auf seinen Vater, der an Tagen wie diesen an seiner Frau herumzumäkeln neigt. Ich dachte noch, er sehe das möglicherweise ein bisschen schwarz. Aber sobald also die Türen des Autos zuklappten, erregte sich mein Herr Schwiegervater über die Leute, die neben uns auf dem Bürgersteig in Richtung Stadtpark liefen, um die dort zum Besten gegebene Weihnachtsmusik zu genießen.

"Man muss doch jetzt auch wirklich nicht immer alles nachmachen, was die Leute toll finden," grantelte er, "alle rennen sie jetzt da hin!" Und als Schwiegermama andeutete, sie fände das aber ganz nett und überlege sich, im nächsten Jahr auch mal hinzugehen, grantelte er noch weiter. Und weiter. Und weiter. Und konnte es nicht gut sein lassen. Ich sagte nur, es würde ihn ja niemand zwingen, dort hin zu gehen. Schwiegerpapa änderte darauf leicht die Richtung: "Überhaupt das ganze Weihnachtsgedudel, schon einen Monat vorher...!" Worauf der Gatte entnervt am Radio drehte und das Gefecht auf der Rückbank mit Guns'n'Roses zum Schweigen brachte. "Ach, solche Musik hörst Du auch!" brummelte der Schwiegervater noch, dann war Ruhe. Vorerst. Bis Schwiegermama eine Bemerkung zum Fahrstil ihres Sohnes machte, der - zugegebenermaßen - etwas zügig unterwegs war. Aber der Vergleich zur Fahrweise seines Vaters ist dann doch aus der Luft gegriffen, denn selbiger fährt absolut haarsträubend und hat dabei natürlich auch immer Recht. Und nichts verletzt meinen Mann so sehr, als in manchen Sachen mit seinem Vater verglichen zu werden.

Üblicherweise neige ich dazu, meine Schwiegerfamilie zu idealisieren. Nicht ganz zu Unrecht, ist doch bei ihnen allen zusammengenommen mehr Herzlichkeit spürbar, als ich bei meiner eigenen Familie in all den Jahren erlebt habe. Aber endlos ist meine Toleranz und Geduld nun auch wieder nicht. Was so "stimmungsvoll" begonnen hatte, setzte sich nur noch chaotischer fort. Bei Schwager und Schwägerin angekommen echauffierte sich Schwiegerpapa über die Parkplatzwahl des Gatten, und während Vater und Sohn beinahe schon wieder in eine Debatte darüber einstiegen, ob der Parkplatz korrekt gewählt sei oder nicht, stieg ich aus dem Auto aus und dachte mir, zu den Schwägern zu flüchten sei eine gute Idee. Ich packte also meine Auflaufform mit dem vorbereiteten Nachtisch, die Tasche mit dem Vanilleeis und der Keksdose und ließ mich von meiner zweitältesten Nichte begrüßen, die mit ihrem bruchhalber in der Schlinge liegenden Arm schon an der offenen Haustür wartete.

Drinnen war es dann allerdings um keinen Deut ruhiger. Meine älteste Nichte begrüßte mich frenetisch und nahm mich vollkommen in Beschlag, noch bevor ich auch nur richtig im Haus war. Mich beängstigt ihre Begeisterung für mich, von der ich nicht weiß, wo sie herrührt. Zumal sie dann dazu neigt, ihre gesamten Erlebnisse seit unserer letzten Begegnung zu schildern und ihre Vorstellungen einer Top-Priorität auch nicht dadurch zu relativieren sind, dass man ihr sagt, man möchte erst einmal reinkommen und alle begrüßen dürfen. Sie hüpft wie ein Eichhörnchen auf Koks auf und ab, stellt sich in den Weg, klammert sich an meinen Arm: "Sturmfrau, Sturmfrau, Duuuu! Ich muss Dir was erzählen...!" Hinter mir schleppte indessen der Gatte die Geschenke für die Kinder ins Haus, und die Schwiegereltern schleppten die Lebensmittel und Sektvorräte und noch mehr Geschenke.

Der Tisch war, wie Schwägerin K. angekündigt hatte, schon gedeckt. Das war das erste Mal, dass ich in diesen Haushalt kam und es tatsächlich so wirkte, als sei mal an alles gedacht. Sektgläser standen bereit, und in der Küche war genug Platz, dass ich den Nachtisch abstellen konnte. Klar, es war auch schon wieder reichlich Gewirbel, aber das nahm ich noch nicht so ernst, zumal K. auch noch Geburtstag hatte. Also gratulierte ich ihr. Ein Geschenk hatte ich allerdings nicht dabei. Ich hatte mir im Vorfeld darüber reichlich den Kopf zerbrochen und dann beschlossen, sie nicht zu beschenken. Denn oft genug hatte ich bei ihr erlebt, dass sie aus reiner Gedankenlosigkeit die Geschenke für andere Leute vergaß, dass sie dann Schwiegermutter bat, ihr auszuhelfen, oder dass sie Last-Minute-Gutscheine bastelte (denen man die Verlegenheitslösung ansah), oder dass sie schlicht und ergreifend einfach gar nichts schenkte. So war es auch in diesem Jahr bei mir. Ich bin da nicht zimperlich - ich habe mich mit einigen Menschen (meiner besten Freundin I., meiner Schwester, meinem Mann) aufs Nicht-Schenken geeinigt, und keiner ist deshalb beleidigt, auch ich nicht. Aber hier hatte ich einfach auch wenig Lust darauf. Denn manchmal grenzt ihr Verhalten schon an Missachtung, und dieses Jahr hatte sich dieser Eindruck zu diversen Gelegenheiten verstärkt und mir massiven Ärger bereitet. Allzu grobe Asymmetrie tut in solchen Belangen nicht unbedingt gut.

Der Ordnung halber wurden die Kinder in Sachen Bescherung dann hingehalten, bis jeder Erwachsene zumindest einmal an seinem Sekt genippt hatte. Sie kreisten aber bereits wie die Geier um den Weihnachtsbaum, hatten erspäht, welche Päkchen für sie bestimmt waren und lauerten auf den Startschuss, um das Papier aufzureißen. Schließlich sagte irgendwer irgendwas, und der Damm brach. Ruhe kehrte erst ein, als sich die Geschenke für die Mädchen als Nintendo-Spiele entpuppten, was sie dazu bewegte, hypnotisiert wie die Kaninchen dazusitzen und quasi in den kleinen Apparaten zu verschwinden. Währenddessen freute sich Junior ausgiebig über den Anhänger für seinen neuen Trecker - davon war er so gefesselt, dass er in seiner kindlichen Unbefangenheit die Gier nach noch mehr vergaß. Ich frage mich, wann dieses Verhalten auch bei ihm an den Tag tritt. Denn seine Schwestern sind schwer konditioniert aufs Geschenke-Kriegen durch das wetteifernde Verhalten ihrer Großmütter, die immer noch etwas und noch etwas und noch etwas aus dem Hut zaubern. Insgesamt gab's in diesem Jahr drei Bescherungen - finde nur ich das nicht normal? In all den Trubel schlich sich aus dem kalten Flur durch die offene Tür immer wieder der neurotische Irish Setter der Familie herein, der mit seinem Schwanzwedeln Gefahr lief, die unterste Etage des Weihnachtsbaums abzuräumen und auch alles sonst in Unordnung zu bringen. Jedes Mal wurde dem Tier die Tür gewiesen.

Krönung war denn aber das Abendessen. Zwei Raclette-Grills standen auf dem Tisch, und man ging allgemein davon aus, dass im Grund nur noch die Zutaten auf den Tisch gestellt werden müssten, damit man mit dem Essen beginnen könnte. Während Schwager dann aber in der Küche Garnelen briet (- ihm wird nachgesagt, gut kochen zu können, was daran liegen muss, dass er hemmungslos alles mit Weißwein und Sahne abschmeckt - ), wuselten alle anderen plötzlich hektisch durch die Gegend, denn mitnichten war alles geschnitten und vorbereitet. Ich teilte mir mit der Schwiegermama ein Schneidbrett, an dem wir beide auf der Abtropfplatte des Spülbeckens zeitgleich Paprika und Salami schnitten. K. kramte aus den Tiefen ihrer Schränke lang unbenutzte Schälchen und Teller hervor, die Schwager N. dann noch rasch mit der Hand spülen musste, damit wir all den Kleinkram unterbringen konnten. Derweil stritten sich die Schwestern mit dem ihnen eigenen Temperament lautstark darüber, welche von ihnen neben mir sitzen dürfte, und Klein-S. geriet dazwischen, schlug sich seine Nase am Fußboden auf und blutete Schwiegermamas Bluse voll. "Du hast mir aber versprochen, dass ich neben Dir sitzen darf!" rief T. und hüpfte in der Küche neben mir auf und ab ("Nein, mir!!" krähte F. aus dem Hintergrund), und natürlich ließ sie es nicht gelten, dass ich zuvor klipp und klar gesagt hatte, ich müsse mir das erst überlegen und würde auch sehr gern neben meinem Mann sitzen.

Dazu kam es nicht. Wir sortierten uns einfach auf die übriggebliebenen Plätze, was bedeutete, dass zwei der drei hibbeligen Kinder zwischen zwei Erwachsenen auf der hinteren Bank eingekesselt waren und dieses Manko dadurch zu beheben wussten, dass sie einfach unter dem Tisch hindurch krabbelten. Schwiegermutter in ihrer Eigenschaft als Laufbursche setzte sich auf das Bankende und managte mal wieder all das, was in Ermangelung von Planung (Schwägerin) und aufgrund einer gewissen Pascha-Haltung (Schwager) nicht ordentlich vorbereitet war. Sie kam kaum zum essen, weil sie damit beschäftigt war, Zutaten herumzureichen, Getränke nachzufüllen oder aus der Besenkammer zu holen, Anbrennendes zu wenden, Heruntergefallenes aufzuwischen.

Ich saß am anderen Ende der Bank, den Absatz meines linken Stiefels verheddert im Telefonkabel. Meine mittlere Nichte F. saß neben mir und hatte permanent irgendeines ihrer Körperteile in meinem Essen oder auf meinem Schoß. Sie beschwerte sich darüber, dass ihr niemand half (klar, essen mit einem Arm in der Schlinge kann für eine Sechsjährige auch schon mal kompliziert werden), lud sich ihre Raclette-Pfännchen voll bis zum Rand und ließ das Überbackene dann doch auf dem Teller liegen, krabbelte unter dem Tisch durch und wieder zurück, und hängte beim Trinken mit dem Strohhalm ihre Haare in die Sauce. Junior verbrannte sich die Hand, als er auf die Grillplatte fasste, was die Schwägerin schließlich nach hektischer Kühlaktion quittierte mit "Man sieht auch gar nichts mehr, der hat sich bloß erschreckt!" Der Schwiegervater beschwerte sich bei mir: "Hm, das Rind, das ist so lecker, aber das gerade, das war zu lange auf dem Grill. Das war wie Leder. Wie Leder war das. Das war wie Leder. Das darf nicht so lang!" Ich entgegnete nur, er hätte es sich jederzeit herunternehmen können. Die älteste Nichte griff indessen aus allen Schalen die Zutaten mit den Fingern (was angesichts vorhergehender Nasenbohrarbeiten besonders appetitlich war) und tat es ansonsten ihrer Schwester gleich: Viel überbacken, wenig davon essen. Ermahnungen ihrer Mutter verhallten im luftleeren Raum, bis diese irgendwann den Tonfall verschärfte und sagte: "Nicht mit den Fingern, habe ich Dir gesagt!" Worauf das Kind mit trockener Logik die Planlosigkeit seiner Mutter enthüllte und sagte: "Ja, Löffel sind ja hier auch keine drin." Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Zumal man ihr nichts verübeln kann, was die Eltern selbst so vormachen.

Mit steigendem Sättigungsgrad neigte sich die chaotische Fütterung dem Ende zu, Zeit also für den Nachtisch. Ich heizte den Ofen vor und schob die Auflaufform hinein. Als fast alle mit dem Essen fertig waren, kündigte ich an, dass es gleich Nachtisch gebe. In der Zwischenzeit war Schwiegermutter mit dem Jüngsten und seinem neuen Trecker auf dem Fußboden gelandet, wo die beiden ins Spiel vertieft waren. Die beiden Mädchen saßen mit ihrem neuen "Malen nach Zahlen" in der Küche, wo auf der schmierigen Arbeitsplatte sämtliches Zubehör herausgekramt worden war. Schwägerin war irgendwo verschwunden, der Gemahl für kleine Jungs. Schwager N. saß mit den letzten Resten Rindfleisch und einem Glas alten Whiskeys am Kopfende des Tisches, wo ihm Schwiegervater Gesellschaft leistete. Ich begann abzuräumen, weil sich auf dem Tisch sonst nicht genügend Platz für das Dessert gefunden hätte, stieß dabei aber auf Grenzen. Denn die malenden Mädchen blockierten die Küche, die Frischhaltefolie wollte sich nicht von der Rolle trennen, der Geschirrspüler war noch nicht frei für neues Geschirr, Schwägerin K. begann also erst einmal zu spülen, und die am Tisch verbliebenen Herren der Schöpfung ließen um sich herumräumen wie kleine Ölprinzen, ohne auch nur mal ohne Aufforderung einen Teller herüberzureichen. Schließlich gesellte sich der Gatte hinzu und half, was half. Der Mülleimer quoll über, das Dessert begann auszukühlen und die Mädchen hielten mir ihre halbfertigen Bilder unter die Nase. "Oh, Du hast noch gar keine Untersetzer, oder?" stellte K. fest. Und dann auch noch, dass wir nicht genügend Teller fürs Dessert hatten.

Die Süßspeise war schließlich weitgehend vertilgt, da ging man zum Musizieren über. Schwiegermutter sang glückselig (sie hatte N.'s neuen Whiskey probiert) zum Blockgeflöte der ältesten Nichte. Irgendwann rüsteten Schwager und Schwägerin dann mit Gitarre und Akkordeon auf. Im Hintergrund kippten die Jüngeren mit viel Lawaai die Legokiste aus. Der Gatte saß mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer-Sessel, um sich vor dem Total-Overload zu schützen. Schwiegervater sprach von "in Kürze nach hause fahren", und als wir dann auf den Vorschlag eingingen, kommentierte er: "Was, jetzt schon? Ihr könnt doch noch bleiben, immerhin hat K. auch Geburtstag!" Und Schwager: "Wie? Es ist doch noch Nachmittag! Ich hab' mich auf den ganzen Abend eingestellt!" Es war acht Uhr abends, und wir hatten die gesamte Kakophonie seit bereits fünf Stunden über uns ergehen lassen. Gleichzeitig kam kein anregendes Gespräch zustande, und sämtliche Beteiligten mit Ausnahme meiner Schwägerin und meines Mannes senkten ihre verbale Ausdrucksfähigkeit durch den Konsum selbstaufgesetzter Schnäpse, schottischer Whiskeys und Bier, das zu holen man die Kinder in regelmäßigen Abständen beauftragte. Dass wir gehen wollten, festigte unser Image als lahme Spaßbremsen, das Schwiegervater meinem Mann gegenüber schon andeutungsweise ironisch-gehässig zur Sprache gebracht hatte: "Oh, was hast Du, Sohn? Musst Du auf Besuch?" - wohl wissend, dass dieser ein Zuviel an Input üblicherweise nur mit Rückzug beantworten kann und daher solche Gelegenheiten nicht wirklich schätzt. Was ihm aber immer als böse Absicht ausgelegt wird.

Heute hätten wir dann eigentlich ein Mittagessen bei den Schwiegereltern gehabt. Wir haben es auch versucht. Mir gingen die Kinder schon wieder auf den Keks, die mit ihren Fingern in der Salatplatte herumwühlten, die Schwiegermama so sorgfältig hergerichtet hatte. Derweil lag der Gemahl stumm und mit bleichem Gesicht auf dem schwiegerelterlichen Sofa. Wir fuhren dann nach hause. Er hat bereits seit heute morgen das große Kotzen, wir vermuten Noro. Auch ein Statement zum Erlebten.