Sturmflut
Freitag, 26. Dezember 2014
Ins Neue
Ich überlege, ob ich bilanzieren soll in diesem Jahr. Ich hatte es in den letzten Jahren doch immer irgendwie getan, auch wenn ich es nicht jedes Mal mit "Jahresbilanz" überschrieben hatte.

Es ist schon irgendwie seltsam. Ein willkürlich gesetzter Zeitpunkt bringt uns dazu, uns über Anfang und Ende auseinanderzusetzen und über das, was vor und was hinter uns liegt. Ich kann mich dem nicht entziehen, auch wenn es eigentlich völlig gleichgültig ist, ob man diese Bilanz im März, August oder Dezember vornimmt, ob man das ganze Jahr bilanziert oder nur eine einzelne Stunde.

Kategorien wie "scheiße" oder "wunderbar" bilden ohnehin nur einen winzigen Teil der Realität meines Jahres ab. Dazwischen und rundherum gab es so viele Details und Ereignisse, dass ich mich kaum an alles erinnern kann. Welten liegen zwischen dem Gestern und dem Heute, und trotzdem hat sich manches auch gar nicht verändert. Es lässt sich nicht in eine Liste fassen, auch wenn ich für mich selbst natürlich Schubladen aufziehe, Wünsche hege und Änderungen ersehne.

Ein Ereignis hat mich in den letzten Wochen besonders berührt, und das war eine Kleinigkeit. Sehr ichbezogen. Für Außenstehende vielleicht unbedeutend.

Nach der Berufsschule und vor dem Besuch im Spielzeugladen neulich blieb mir ein bisschen Zeit zum Vertrödeln. Der besagte Spielzeugladen liegt eher im Außenbereich meiner Stadt, rundum kein schönes Café, kein gemütliches Eckchen. Nur die hinreichend bekannte Mischung aus Wohn- und Gewerbeflächen - Aldi, Spielothek, Burger King, McDonalds, hier noch eine Tankstelle, da noch ein Autohandel, drüben der Lidl und dann Reihe an Reihe wohlgeordneter, rotgeklinkerter Vorstadt-Einfamilienhäuser. Wo halte ich mich also auf, wenn ich nicht draußen im Regen herumstapfen will? Mir fiel nichts besseres ein, als mich in den beinahe leeren Burger King zu setzen, einen Pappbecher Kaffee und etwas Fleischloses zu bestellen und mir die Zeit damit zu vertreiben, durch die Glasfassade auf die vierspurige Ausfallstraße zu starren.

Im restauranteigenen Radio lief irgendein ruhiger, klavierlastiger Song, der sich durch die Eigenschaft auszeichnete, mir nicht auf die Nerven zu gehen. Ich versalzte die Pommes aus einem kleinen Papiertütchen, das ich noch vom letzten Ikea-Besuch in meiner Umhängetasche hatte und kippte den gar nicht mal so schlechten Kaffee hinterher. Und während ich da so saß, in dieser ganz und gar belanglosen Umgebung mit diesem ganz und gar belanglosen Essen und der ganz und gar belanglosen Musik, da spürte ich etwas, das mir leider in meinem letzten Jahr eher zu selten geschah. Ich wurde mit mir selbst kongruent.

Ein besserer Begriff fällt mir nicht ein für diesen Zustand. Es scheint mir dann, als käme mein derzeitiges Ich mit allem, was ich sein kann und was ich bin, endlich wieder zur Deckung. Als fügte ich mich selbst wieder zusammen aus meinen abgesplitterten Schatten, meinen wie Seidenpapier durch die Gegend wehenden Einzelteilen. Als gelänge es mir ohne Mühe und Absicht, mich wieder einzufangen.

Dieses ziellose Starren aus der Wärme hinaus in den Regen, das absichtslose Herumsitzen, das war nicht einfach "wunderbar". Es war nur schlicht und ergreifend richtig. Es fühlte sich passend an. Der Genuss des Moments ohne das gigantische Aber, noch etwas zu müssen, zu wollen, zu sein - das ist, was ich mir für 2015 öfter wünsche. So oft es geht.

Natürlich waren da im Jahr 2014 große Glücksmomente. Die Beendigung der Arbeitslosigkeit. Die Begeisterung über die Rosetta-Mission. Die Nachmittage am Baggersee, schwerelos im Wasser treibend. Der Gatte in meinem Arm, an dessen Duft ich mich nicht sattriechen, in dessen liebe Augen ich nicht lang genug schauen kann. Liebe Worte lieber Menschen.

Aber das Jahr ist irgendwie sehr zügig und insgesamt wenig einprägsam an mir vorbeigerauscht. Ich war sehr beschäftigt mit den Anforderungen an mich selbst, was bedeutet, dass ich auf eine sehr verkrüppelte Art mit mir selbst befasst war. Mit dem Genügen, mit dem Funktionieren, mit Erwartungen und der unendlichen Angst, ihnen nicht gerecht werden zu können. Umstände, die meinen depressiven Wurzeln neue Nahrung liefern, und das war oft gar nicht gut in der letzten Zeit. Dazu der Zustand völliger Erschöpfung, der aus all dem resultiert.

Mir wurde besonders gegen Ende diesen Jahres zum ersten Mal richtig einprägsam klar, wie Angst und Stress mein bisheriges Leben dominiert haben. Es ist in all der Zeit so normal für mich gewesen, nachts wachzuliegen oder aufzuschrecken und gegen das Hämmern meines Herzens anzukämpfen, dass mir bislang nicht auffiel, wie sehr eingeübt das ist. Tschumm, tschumm, tschumm, tschumm. Du. Bist. Hier. Falsch. Es. Wird. Schief. Gehen. Tschumm. Tschumm. Tschumm. Vertraut ist dieses Gefühl. Vertraut aus den Nächten in meiner Studentenbude, in denen ich die Lichtstreifen der Straßenlaterne an der Decke anstarrte und versuchte, das Kochen des Adrenalins in meinem Körper zu ignorieren. Gegen das schließlich oft nur ein Glas Wein half. Vertraut die Sonntagsnachmittagsangst, die mich seit meiner Schulzeit mehr oder weniger begleitete und sich so verselbständigt hat, dass sie sich einstellt, ganz gleich, ob es einen Grund dazu gibt oder nicht. Morgen ist Montag. Was wird kommen? Werde ich wieder scheitern (egal, mit was)? Tschumm, tschumm, tschumm - das Blut rauscht in meinen Ohren.

Irgendwann ist man ausgequetscht, man hält das nicht jahrzehntelang durch. Ich bin reduziert auf diesen Teil von mir, der nur aus Anspannung besteht und aus offenen Augen und Ohren und empfindlicher Haut. Sensoren, denen kein Detail entgehen darf, weil ich sonst sterben könnte. Werde! Ich werde sterben!

Wenn ich dann kongruent werde, dann ist das wie eine Erlösung. Meine ausgegliederten Geister, die so randvoll sind mit Eigenheiten, Eigensinn, körperlichem Wohlbehagen, schöpferischer Kraft, Widersprechen und Rebellion, die schön sind und starrsinnig und kratzbürstig und weich und warm und stark, die treten in mich zurück und ergänzen mich zu dem Ganzen, das ich wirklich bin. Ich will mich immer so fühlen, so zuhause. Mehr davon.

Es nützt mir nur ein wenig, die Gründe für mein Unbehagen, meine Angst, meinen Stress und mein innerliches Gehetztsein zu kennen. Es würde mir nicht helfen, den Verantwortlichen (mir selbst inklusive) einen fetten Arschtritt zu verpassen. Ich suche den Schlüssel zur eigenen Nutzlosigkeit. Zur Freiheit davon, stets und in jeder Situation für mich und die mich umgebenden Menschen einen Nutzen bringen, eine Funktion erfüllen zu müssen.

Dieses Ziel unterscheidet sich in nichts von den Hoffnungen der zurückliegenden Jahre. Das weiß ich jetzt, weil ich es benennen kann. Der Wunsch wird dringlicher. Ich habe nämlich das Gefühl, dass meine Energie weniger und die Luft unerträglich dünn werden wird, wenn es mir nicht gelingt, zu mir zu kommen. Niemand sonst kann mir das geben, was ich da brauche - auch das neue Jahr nicht.

Die Schritte ins Neue mache ich jeden Tag, oder ich mache sie nicht. Am Leben bleiben. Mehr noch, leben.

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Donnerstag, 4. Dezember 2014
Zittern
Ich komme nach hause und betrete die Küche, und mich überkommt ein behagliches Gefühl, denn dort riecht es nach frisch gewaschener Wäsche. Dann stocken meine Gedanken. Wie kommt die Wäsche in die Küche? Der Gatte hat sie aufgehängt. Nachdem die Maschine gestern abend nicht mehr vor dem Schlafengehen fertig wurde, hatte ich Wäsche Wäsche sein lassen, mit dem Vorsatz, mich morgens darum zu kümmern.

Die Tatsache, dass jetzt der Wäscheständer in der Küche steht, ruft mir jäh ins Gedächtnis: Ich habe es nicht geschafft. Ich habe nicht daran gedacht. Im Gegenteil. Obwohl ich den Wecker noch einmal zehn Minuten früher gestellt hatte, war ich so verpeilt, dass ich nicht einmal pünktlich aus dem Haus gekommen bin.

Während der morgendlichen Routine kam ich mir - wie üblich - vor wie der letzte Hempel. Mein Bedürfnis, zuhause im Warmen zu bleiben kollidierte mit Zeitdruck. Meine Hände zitterten - wie üblich - so sehr, dass ich beinahe meine belegten Brote nicht fertig kriegte, und ich fühlte mich von vorn bis hinten einfach nur unfähig. Wie ein Krüppel, nicht in der Lage, die einfachsten Verrichtungen hinzukriegen, die andere mit Selbstverständlichkeit erledigen. Ich spürte - wie üblich - dass ich wütend auf mich wurde. Sehr wütend. Mich beschimpfte. Mich darüber ärgerte, so wütend zu werden.

Mir rutscht zur Zeit bemerkenswert schnell der Boden unter den Füßen weg. Auf dem Weg durchs Dunkel heute morgen und heute abend streikte mein Dynamo. Kein Licht, keine Sicherheit. Alle paar hundert Meter anhalten in dem Versuch, ihn doch wieder zum Funktionieren zu bringen. Ich heulte. Vielleicht gar nicht so schlecht, dass es dunkel war. Und dann, sobald ich die Haustür hinter mir ins Schloss gezogen hatte, heulte ich erst recht. Wie ein kleines Kind. Ich hasste mich für das Heulen. Der Wäscheständer in der Küche. Nicht mal das bekommst du hin!

Der Gatte hilft mir in der Situation, wo er nur kann. Ich hasse mich dafür, Hilfe zu brauchen. Das ist nicht sein Fehler. Kannst du das nicht allein? Warst nur wieder zu bequem! Er streicht mir morgens Margarine aufs Brot und füllt meine Wasserflasche. Du bist wie ein kleines Kind! Nichts kriegst du hin!

Das blanke Entsetzen macht sich in mir breit, wenn ich sehe, wie mich diese Denke im Griff hat. Es geht so leicht, so fürchterlich leicht, hart und fies und erbarmungslos und verurteilend mit mir selbst zu sein. Ein Wäscheständer. Meine Güte. Neulich mal bekam ich in einer ähnlichen Situation einen Wutanfall. Ich schrie "Das habe ich nicht verdient!" und meinte die bitteren, bösen Urteile, die aus meinem Innern auf mich einprasselten. Ich warf ein Kissen an die Wand und schrie und brüllte. Danach ging es mir besser.

Aber ich weiß so oft nicht sicher, ob ich es nicht doch verdient habe. Das sind die wirklich schlimmen Momente, die mich müde und mürbe machen. Der Kampf gegen die inneren Stimmen, die mich automatisch immer wieder abkanzeln, ist so mühsam. Es ist so viel leichter, gar nicht erst zu kämpfen. Sie ziehen alles in Zweifel, den kleinsten Erfolg, die zeitweilige Überzeugung, meine Sache gut zu machen, die zeitweilige Überzeugung, nicht alles gut machen zu müssen. Es bleibt kein Raum, die zu sein, die ich sein könnte - die ich eigentlich bin.

Es kotzt mich an. Ich fühle mich verloren, wie ein kleines Kind, mir ist entsetzlich kalt in all dem. Ich hätte gern Trost und hasse mich bereits wieder für den Wunsch, getröstet zu werden. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Das Gefühl, kein Anrecht zu haben. Auf gar nichts. Keine Gnade, keine Umarmung, keine Hilfe, keine menschliche Regung. Und die Hände zittern.

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Montag, 17. November 2014
Dunkel
Jeden Abend wird es etwas früher dunkel. Meistens packt mich ein etwas klammes, unwohles Gefühl. Spätestens, wenn die Dämmerung vorbei ist. An den tatsächlichen vierundzwanzig Stunden des Tages ändert sich nichts, aber wo der Sommer die süße Illusion langer, lebendiger Tage schenkt, greifen sich Herbst und Winter einfach die letzten Stunden. Wenn die Dunkelheit sich ausbreitet, ist es unmissverständlich, dass sich der Tag dem Ende neigt, selbst wenn ich noch nicht ins Bett gehe.

Mich wundert nicht, dass der Brauch der Laternenumzüge in diese Zeit fällt. Eine Laterne kann man nun einmal gut brauchen im Dunkeln. Auf meinen Wegen von und zur Arbeit umfängt mich inzwischen beinahe vollständig die Dunkelheit. Die kleine Funzel vorn an meinem Fahrrad dient mehr dazu, dass ich gesehen werde, als dass ich sehe. Es wird dunkel bei uns, richtig dunkel.

Das ist ja inzwischen beinahe so etwas wie eine Seltenheit. Auf meinem Weg am Kanal ist es zappenduster. Man kann hier zwischen den orangen Lichtkegeln zweier Straßenlampen verloren gehen. Und so fühle ich mich auch manchmal. Trotzdem, die Dunkelheit ist auch faszinierend. Sie umhüllt mich wie ein Mantel und lässt mich mehr raten als wissen.

Licht ist da so tröstlich. Die kleine Laterne auf dem Fensterbrett. Ich begreife, wenn ich Behagen will, muss ich es mir behaglich machen. Auf dem Herd blubbert ein Eintopf. Grünkohl, ein Geschmack aus meiner Kindheit, warm und erdig und würzig und einfach. Sonntags mit dem Gatten Waffeln backen.

Bevor Winter und Weihnachten ist und das Geglitzer und Gezappel kommt, ist erst einmal Herbst. So richtig, mit aller Tristesse, mit Regen und Düsternis. Mir kommt's vor wie Atemholen, wie Leisetreten, mit Schauern auf dem Rücken und Laub, das auf Asphalt klebt. Mit dem sirrenden Geräusch des Dynamos und Stille unter dem Wind. Mit gelbgrünen und orangen Lichtstreifen zwischen Wolken wie nasse Federbetten.

Es ist gut wie es ist.

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Mittwoch, 15. Oktober 2014
Ich bin anders
Ich erinnere mich noch gut, wie ich zwei Jahre lang wöchentlich meinem Therapeuten gegenüber saß und mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er mir sagen möge, ich sei jemand Besonderes. Ich habe gehofft, dass dieser Mensch, der mir so wichtig war, mir bestätigen würde, dass ich einzigartig bin. Oder es doch zumindest von mir dächte. Den Gefallen tat er wohlweislich nie, auch wenn ich mir sicher bin, dass er den Wunsch erspürt haben muss.

Es ging und geht dabei gar nicht darum, besser zu sein als andere Menschen. Schmerz tut es auch (und nichtmal zur Not). Mein Schmerz war außergewöhnlich. Meine Macken. Mein Verhalten. Meine Sensibilität. Vor allem mein Seelenleben, das ich für so viel tiefer und intensiver hielt als das aller anderen. Ich trug das mit mir herum wie ein Paar schwarzer Flügel, und dazu eine Misanthropie, die mir selbst heute nicht ganz entglitten ist.

Aber der Blickwinkel hat sich verändert. Stoße ich heute bei anderen auf diese Haltung, dann bin ich beinahe sofort genervt. Unter Teenagern mag es noch akzeptabel sein, sich als so sehr anders zu beschreiben als die Mehrheit der Menschen, mit denen man umgeht. Vielleicht ist das sogar eine Art notwendiger Selbstfindung, wenn man noch keine genaue Ahnung davon hat, wer man ist. Und vielleicht noch keinen gangbaren Weg gefunden hat, das eigene Herz zu ent-mördergruben.

An Erwachsenen finde ich diese Attitüde eher anstrengend. Es spielt eine Art passive Arroganz mit hinein, die mir missfällt. Für "Mich versteht sowieso keiner!" ist es doch irgendwie zu spät. Mit diesem bitter-originellen Hauch erhebt man sich gern über die vermeintlich Normalen und schneidet sich damit selbst von allem ab - auch von dem Umstand, dass alle Menschen unterschiedlich sind und sich genau darin ähneln.

Rückblickend habe ich den Verdacht, es war auch bei mir so ein bisschen wie mit den Trauben, an die der Fuchs in der Fabel nicht herankam. Ich fahre jetzt immer morgens mit dem Rad durch ein Wohngebiet, und ich sehe in die leuchtenden Fenster, und dort sitzen sie dann alle, frühstückend, sich unterhaltend im gelben Licht. Das "Dämliche Spießer!", das mir durch den Kopf schießt, schneidet mich flugs von meinem unerfüllten Wunsch ab, genussvoll, in Geborgenheit und mit dem Menschen, den ich liebe im Hellen zu sitzen, anstatt durch die Dämmerung in einen neuen Arbeitstag zu strampeln, der kaum Raum für Persönliches lässt.

Das ist exemplarisch, für beinahe mein ganzes vergangenes Leben. Ich verachte doch lieber, was ich nicht haben kann, verachte die Leichtigkeit, Wärme und Verbundenheit, mit der manche Menschen ihr Leben (wenn auch oft nur scheinbar) leben. Das ist so viel einfacher als sich einzugestehen, dass mein Sehnen danach enttäuscht werden könnte, weil das Leben ein Arschloch ist. Lieber bin ich selbst eines und halte fest, wie sehr mich das von den Stinknormalen, den Spießern, den lahmen Idioten abhebt.

Im Grunde ist das feige. Aber auf der anderen Seite lauert eben die immense Angst, mit den eigenen Eigenheiten nicht anerkannt zu sein. Ich ertappe mich heute noch manchmal bei dem Versuch, mich mit den Augen meines Vaters zu sehen und in ihnen Anerkennung zu finden. Das ist wie eine Gnade, und wenn man sie nie erfahren hat, dann leugnet man eben irgendwann, sie sich überhaupt zu wünschen.

Verbissen wirkt mein damaliges Ich heute auf mich, angestrengt und unendlich einsam. Vor langer Zeit sagte mir auf einer Studentenparty mal eine Frau, die ich überhaupt nicht kannte: "Du willst doch nur hart wirken!" Damals traf mich ihre Beobachtung, aber ich weiß inzwischen, dass es so war. Ich selbst zu sein hätte für mich den Tod bedeutet. Das Risiko war zu groß, in meiner Eigenheit inakzeptabel zu sein.

Deshalb war ich anders. Ich bin auch heute noch anders, aber nicht mehr oder weniger anders als andere. Es ist erstaunlich, dass das reine eigene Sein so viel schwieriger und angsteinflößender ist als dieses scharfkantige Sich-Abgrenzen und das Leiden daran. Dieser ungeheuer selbstbezogene Traum von Verlorenheit wird mit so viel Mühe gepflegt, so sinnlos und schmerzhaft.

Ich habe meine schwarzen Flügel irgendwann verloren. Zu Fuß gehen tut bisweilen weh, der größeren Haftung wegen. So ist das Leben.

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Samstag, 13. September 2014
Karriere?
Immer, wenn ich mich durch verschiedene Blogs lese, deren Schreiberinnen Mütter sind, bin ich froh, dass ich eine Entscheidung nicht zu treffen habe: Kind oder Karriere. Oder und. Und in welcher Ausprägung, mit welchen Zielen und Vorstellungen.

Gewissermaßen habe ich sie ja schon getroffen, weil ich nie Kinder wollte. Es stellt sich mir die Frage also erst gar nicht, ob ich Kind oder Karriere oder vermessenerweise sogar beides will. Ich muss mich nicht mit Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie herumschlagen und mit niemandem diskutieren - über Zuhausebleiben nach der Geburt, über die Aufteilung von Hausarbeit, über Teilzeit- oder Vollzeitstellen und den ganzen Rattenschwanz an Organisation, den das Leben mit Kindern mit sich bringt. Ich bin froh darüber, auch wenn nichts davon mich darin bestärkt hat, keine Kinder zu wollen.

Aber: Kind oder Karriere? In dieser Gegenüberstellung (die meist faktisch ohnehin keine ist) klingt ja Karriere noch nach etwas Großartigem, Erstrebenswertem, nach einer Laufbahn, an deren Ende man "on top" angekommen ist und viel verdient, sich selbst verwirklicht oder eventuell auch beides. Mit dem Begriff Karriere konnte ich aber noch nie etwas anfangen. Ganz und gar nicht.

Ich bin mir sicher, meine Mutter hätte sich für mich eine Karriere gewünscht. Vor allem deshalb, weil sie selbst keine machen durfte. Das lag daran, dass sie ein Mädchen war und meine Großeltern der Ansicht, dass sich für ein Mädchen das Fahrgeld zum Gymnasium auszugeben nicht lohnte, und... Damals heirateten junge Frauen ohnehin irgendwann, und dann hatte sich das erledigt mit dem Arbeiten - sie waren ja dann versorgt. (Zumindest war das bei uns im Dorf so.) Aber ich hätte ja wenigstens Karriere machen können, wenn ich schon nicht das erhoffte und fest erwartete männliche Kind geworden war. Ich hätte ja schließlich auch gedurft. Obwohl ich ein Mädchen war. Auf dass der Ruhm ein wenig auf meine Mutter abstrahlen möge.

Ich bin mir bewusst, sie war ein Opfer der Geschlechterrollen ihrer Zeit. Sie hat mit Sicherheit gespürt, dass ihr etwas entgangen ist, dass ihre Familie sie an etwas gehindert hat, das sie sich für sich selbst wünschte. So weit, so absolut menschlich. Nun sollen andere für sie glänzen. Meine Karriere nach der Vorstellung meiner Mutter wäre optimalerweise in der Variante "bekannte, berühmte Journalistin" oder in irgendeinem Heilberuf vonstatten gegangen, zumindest aber als Passivkarriere in Form einer Heirat mit einem aufstrebenden Arzt/Anwalt/Richter/Manager. Dass mir kein solcher zugelaufen ist, bedauert sie glaube ich bis zum jüngsten Tag.

Inzwischen wird von Frauen eine Art Alles-können-und-wollen-sollen erwartet. Dazu gehört auch das Meistern von Beruf und Familie. Es ist nicht mehr üblich und akzeptiert, weiblichen Kindern bestimmte Bildungswege zu verstellen, weil sie "ja sowieso Hausfrau und Mutter" würden. Immerhin. Statt dessen haben Frauen das Zugeständnis, alles zu dürfen, was sie wollen. Dass das allerdings etwas ganz anderes sein könnte als die vorgegeben Alternativen - ganz klassisch schwarz-weiß Kind(er) und/oder Karriere in veränderlichen Gewichtsanteilen - das ist schwer zu denken. Der Druck ist groß, es auf jeden Fall richtig zu machen. Aber wie sie's macht, macht sie's garantiert verkehrt.

In meiner Situation kann beispielsweise trotz des Fehlens von Kindern von Karriere nicht die Rede sein. Natürlich steht längst nicht jeder so wie ich mit Ende Dreißig erst am Beginn einer beruflichen Laufbahn. Aber in meinem Job ist obendrein ein Aufstieg auch kaum wahrscheinlich. Ich werde keine Karriere hinlegen und habe auch nicht den Plan, in zehn, fünfzehn Jahren in Hosenanzug und Pumps in irgendeiner Chefetage zu stehen. Das ist aber das Bild der "starken" Karrierefrau, die (medial befeuerte) Alternative zur "Familienmanagerin".

Dass ich meinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten würde und müsste, war mir eigentlich immer klar. Im Gegensatz zu den Träumen, die meine Eltern für mich hatten und die vor allem auf der Vorstellung fußten, dass wer sich genug anstrengt, auf jeden Fall Erfolg haben wird, sieht meine Realität etwas anders aus. Ich lebe in einer Zeit, in der man sich glücklich schätzen kann, Arbeit zu bekommen. Da kann die Politik noch so sehr von Fachkräftemangel jammern. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Sie ist geprägt von einer Hire-and-Fire-Mentalität, von staatlich subventionierten Kleinstjobs, von unbezahlten Überstunden und sinnbefreiten Tätigkeiten. Von den Karriereanwärtern (oder auch nur von denen, die ihren Job einfach behalten wollen) wird erwartet, dass sie sich richtig lang machen, ihr Privatleben einschränken, im Urlaub und nach Feierabend erreichbar sind und das auch noch gut finden, dass sie tief in Hintern kriechen und nach unten treten, die Ellenbogen schärfen, wenig schlafen und wenig kosten. Da ist nicht viel Glamour übrig.

Diese Umstände töten - mal sanft, mal ziemlich abrupt - die Utopie vom Beruf als Berufung. Wenn die tatsächlich bestünde, dann wäre es überdies ja auch kaum wahrscheinlich, dass jemand die Toiletten in unseren Einkaufscentern putzte, für Primark Klamotten zusammennähte oder unter der Erde in der Hitze Kohle schürfte.

Karriere machen glaube ich ohnehin nur die wenigsten, und ob sie das zu glücklicheren Menschen macht, sei dahingestellt. Ich habe an meine Arbeit auch nicht den Anspruch, dass sie mir die vielerorts beschworene oder durch den Kakao gezogene Selbstverwirklichung beschert. Ich kann keine Aussage über das generelle Potential von Lohnarbeit machen, Menschen Stolz und Sinn erleben zu lassen. Es kam schon einmal die Frage, ob ich, würde ich es nicht brauchen, einer Arbeit nachgehen würde. Vermutlich schon. Ich glaube nämlich, dass der Mensch durchaus einen Drang dazu hat, sich schöpferisch, sozial, handwerklich irgendwie sinnvoll zu betätigen. Das bekannte Wort vom Hobby, das man zum Beruf machen möchte, hat vermutlich seine Berechtigung, aber es ist in Zeiten wie diesen eben auch reichlich naiv. Denn das Angewiesensein auf monetäre Entlohnung verträgt sich nicht wirklich optimal mit der Verwirklichung eigener Ideen. Je verzweifelter die Lage, desto geringer die Verwirklichung. Das habe ich in der Zeit meiner Arbeitslosigkeit erlebt. Das ist eine Friss-oder-stirb-Frage.

An meinen Beruf habe ich den Anspruch, dass er mich finanziell über Wasser halten kann. Das ermöglicht mir, die Beziehungen zu Menschen, die mir viel bedeuten und mir wichtig sind, von materieller Abhängigkeit freizuhalten. Das war mir immer sehr wichtig. Außerdem möchte ich mich nicht jeden Tag zur Arbeit quälen müssen. Damit meine ich vor allem, dass ich in dem, was ich tue, einen minimalen Sinn erkennen möchte und eine Beziehung zu dem haben will, was ich erschaffe. Ich möchte mich nicht verstellen und belügen müssen. Dazu kommt dann noch der menschliche Faktor: Ich möchte ein Arbeitsumfeld haben, in dem die Beteiligten anständig miteinander umgehen. Ausreißer sind erlaubt, aber das Gesamtbild muss stimmen. Ich bin mir aber bewusst, dass ich mit diesen Minimalforderungen weit über dem liege, was viele Menschen ertragen müssen, die eben keine Wahl haben. Ich weiß es zu schätzen.

Tiefere Sinnfindung hingegen? Eher nicht. Ich muss in dem Zusammenhang an den Satz Hermann Hesses denken:"Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben - aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind." Was bin ich also als Mensch noch mehr als jemand, der nicht Mutter, dafür aber berufstätig ist? In "Daytripper", einer grandiosen Graphic Novel, die zur Zeit wieder einmal auf dem Bücherstapel neben meinem Bett liegt, fragt in einem Kapitel der Protagonist eine Frau, die er gerade kennengelernt hat, nach ihrem Beruf. Sie antwortet ihm brüsk, dass ihr Beruf überhaupt nichts darüber aussagt, wer sie ist. Sie hat recht, es stimmt: Wir müssen alle essen.

Bei all dem Gerede von Karriere, Leistung und damit letztlich auch Geld als absolutem Ziel wundert mich die Zerrissenheit der Menschen nicht. So stumpf, überflüssig, faulig, bigott und unmenschlich viele Jobs sind und so unbarmherzig, wie die Stechuhr die eigene Lebenszeit kaserniert, ist der Wunsch ja letztlich ganz normal, sich das Leben zurückzuholen und herauszutreten aus der Mühle. Ob man bei jedem Schritt, den man dabei macht, näher zu sich selbst kommt oder sich selbst belügt, hängt ganz von einem selber ab.

Ich bin keine Vorstandsvorsitzende, keine Ellenbogenfrau, keine Sorgeberechtigte, keine Putzfee, kein Arbeitsesel. Ich bin als Mensch viel mehr als nur das, was meine Haupttätigkeiten an mir definieren. Ich hätte definitiv gern mehr Zeit. Zeit, der ich einen Sinn geben kann, denn Sinn ist genug in mir. Wäre das Leben ein Wunschkonzert, dann würde ich mir wünschen, mit fünf Stunden Arbeit täglich genau so viel zu verdienen (und genau so hohe Rentenansprüche zu erwerben) wie mit jetzt achteinhalb. Das ist aber unter dem Diktat des Turbokapitalismus nicht denkbar, also verlagert sich das, was ich sonst noch bin, zwangsläufig in die knappe Freizeit - wenn denn dann Energie dafür bleibt.

Da bin ich Abenteurerin, Reisende und Wanderin, Künstlerin, Gärtnerin, Schreiberin. Ich bin Gefährtin, Geliebte, Freundin. Ich bin manchmal nah am Rande des Abgrunds, mal verpeilt, manisch, bescheuert, verdrieslich, grantig, todtraurig, albern, genießerisch, geistreich, lustig. Manchmal habe ich Sehnsucht, manchmal gebe ich ihr nach. Manchmal bin ich im Moment, vertrödle ich meine Zeit. Ich fühle mich wohl, wenn ich singend durch das Haus laufe. Manchmal zerknittere ich unter der Last meiner alten Depression wie trockenes, brüchiges Papier. Dann bin ich gar nichts, allenfalls ein Sandkorn.

Meine sogenannte Karriere ist lediglich ein Ausschnitt dessen, was ich bin, sowohl als Mensch als auch als Frau. Sie stellt nur den gerade eingeschlagenen Weg dar, einen Ausschnitt wie ein Fenster, durch das man temporär begrenzt einen Ausdruck meines Selbst erkennen kann. Der ist gefärbt von Notwendigkeiten und Neigungen gleichermaßen. Für mich ist diese Erkenntnis auch deshalb so bedeutsam, weil in meiner Kindheit und Jugend nur zählte, was ich mal werden wollen sollte. Nicht, wer ich war. Ich hoffe, es ist noch genug Zeit für das einfache Sein.

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Samstag, 23. August 2014
"Sei eine Frau, keine Maus!"
Es ist Samstagmorgen, und von mir fällt alle Anspannung ab. Es ist wunderbar.

Die letzte Arbeitswoche hat mich viel Kraft gekostet. Nicht etwa, weil die Anforderungen so hoch wären, sondern weil ich gestrickt bin, wie ich nun einmal gestrickt bin. Ich bin ganz Auge und Ohr und ständig darauf aus, in Erfahrung zu bringen, ob das, was ich tue und lasse auf die passende Resonanz trifft. Ist es gut? Ist es gut genug? Bin ich gut genug?

Das verlangt niemand von mir, und ich merke, wie es mich auslaugt und stresst. Ich lege Bemerkungen auf die Goldwaage und rekapituliere sie innerlich immer und immer wieder, bis ich sie einordnen und zu einer für mich erträglichen Interpretation bringen kann. Ich bin es so sehr gewöhnt, von anderen definiert und bewertet zu werden, dass es täglich viel Energie kostet, innere Unabhängigkeit von diesen Bewertungen zu erreichen.

Ich glaube, meiner neuen Kollegin, die kurz nach mir kam, geht es ähnlich. Sie ist sehr unsicher, spricht sehr leise und nimmt sich Kritik unglaublich zu Herzen. Sie findet es schlimm, um Rat zu fragen und Dinge verkehrt zu machen, und sie sagte das auch. Und ich glaube, gerade weil sie so angespannt ist, geht manches schief. Ich kann sie verstehen.

Neulich stand sie hinter dem Stuhl unserer Kollegin und wartete, dass diese ihr Aufmerksamkeit für eine Frage widmen konnte, da lief unser Abteilungsleiter vorbei und sagte (eben beiläufig): "Sei eine Frau, keine Maus!"

Das blieb in meinen Hirnwindungen stecken. Auch das ist natürlich das Wort eines anderen, das nicht aus meinem eigenen Herzen stammt und nicht als eigene Idee geboren wurde. Aber ich finde es ermutigend. Ich habe doch die Möglichkeit, zu meinem Sein zu stehen, anstatt wie ein kleines, graues Tier unsichtbar unter dem Tisch zu hocken und zu hoffen, jemand sieht mich und tritt nicht aus Versehen auf mich.

Sei einfach du selbst! ist etwas, das sich leicht und schnell daher sagt, mag es auch noch so wahr sein. Um das Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es doch immer der Kraft, sich von Erwartungen zu lösen und zu verstehen, wer man selbst überhaupt ist und sein möchte. Es bedeutet, das ständige Sollte ich...? über Bord zu werfen, und das ist für mich unglaublich schwierig.

Wie schwierig, das begriff ich erst neulich wieder. Da kam von S. eine Postkarte, mit der sie sich darüber beklagte, ich habe ja "gar nix Liebes" geschrieben in letzter Zeit. Das lag daran, dass ich immer noch wütend war über ihre kurzfristige Absage zu Pfingsten, als sie eigentlich ein paar Tage bei mir verbringen wollte. Ich habe diese Wut und Enttäuschung nicht groß hinterfragt, sie waren in dem Moment, in dem sie entstanden, authentisch und spontan.

Ich schrieb ihr eine Antwort auf ihre Karte, in der ich ihr die Gründe für meine Wut noch einmal erklärte und auch, dass Wut nicht gut zusammengeht mit lieben Worten - zumindest nicht gleichzeitig. Im weiteren Mailwechsel beharrte ich auch darauf. Es ging mir nicht darum, Recht zu behalten, sondern darum, zu meinen Empfindungen zu stehen und mir kein schlechtes Gewissen machen zu lassen.

Und dann, abends, kam der Gatte nach mir heim, und ich las ihm meine letzte Mail vor, und er sah die Dinge ein bisschen anders als ich. Ich zerfiel zu Staub. Plötzlich war ich mir meiner Empfindungen nicht mehr so sicher, sondern spürte nur die drückende Erwartung, kein Arschloch zu sein, die Freundschaft zu S. nicht zu zerstören, Mitgefühl aufbringen zu müssen. Das war beinahe unerträglich.

Ich hatte das Gefühl, zerquetscht zu werden. Auf der einen Seite ist der dringende und lebenswichtige Wunsch in mir, auszudrücken, was in mir vorgeht und nah bei mir und meinem Empfinden zu bleiben. Auf der anderen Seite, übermächtig, die Anforderung, nichts zu tun, was mein soziales Gefüge zerstören und das Wohlwollen der mir nahestehenden Menschen gefährden könnte. Die Rechnung dabei ist nicht Ich oder die Anderen, sondern paradoxerweise Ich oder ich, denn das Feedback und die expliziten und impliziten Erwartungen der anderen sind ich-bestimmend.

Ich möchte herausfinden, ob es mir gelingen kann, eine Frau und keine Maus zu sein. Für mich war es wichtig, S. gegenüber nachdrücklich zu bleiben. Auch wenn im Hintergrund die Angst mitschwingt, sie könne mich für stur, egoistisch und hartherzig halten, so ist das doch etwas, das mir und dem, was ich fühle in diesem Augenblick entspricht.

Die Angst, ver- oder entlassen zu werden, sobald ich meine Ecken und Kanten zeige, ist groß (und die Erfahrungen bei meiner letzten Arbeitsstelle trugen dazu ja nicht wenig bei). Aber andererseits nutzt es mir überhaupt nichts, mich in Selbstverleugnung zu verlieren. Da ist Alleinsein (in dem Sinne, Freundschaften und Beziehungen zu verlieren) möglicherweise immer noch die bessere Alternative, denn zumindest bin ich dann ich selbst.

Vermutlich aber (und diese Vermutung muss zur Gewissheit erst noch reifen) werde ich gar nicht verlassen, sondern werde erst eine Person, die sich der Wahrnehmung durch andere nicht länger entzieht. Keine Maus eben.

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Freitag, 15. August 2014
Melancholie
Das Wort hat so etwas schattenhaftes, etwas, das sich wie ein Gewicht an den Fuß hängt, während man gerade damit befasst ist, den Kopf über Wasser zu halten. Dazu passt: Schwermut. Schwer fühlt es sich an, wenn die Melancholie nach einem greift.

Sie ist etwas anderes als Trauer und Traurigsein. Ich empfinde Traurigsein inzwischen als eine Wohltat, weil es erlaubt, den Gefühlshorizont voll auszuschöpfen und dadurch ganz zu werden.

Dennoch: Als mir mein Mann am Montagmorgen davon erzählte, Robin Williams habe sich das Leben genommen, da war ich traurig. Der Gatte gab mir John Scalzis trefflichen und respektvollen Nachruf zu lesen, ehe ich zur Arbeit fuhr, und ich stand mit hängenden Armen vor seinem Bildschirm und las und hatte Tränen in den Augen. Ich sah, dass der Gatte sah, dass ich traurig war, und ich drehte mich um und lief an ihm vorbei auf die Toilette zum Waschbecken - keine Ahnung, was ich dort wollte. Ich drehte nicht einmal den Wasserhahn auf.

Aufkommende Gefühle verlangen es von mir, dass ich mit ihnen allein bleibe. So vor dem Waschbecken stehend wurde mir schlagartig klar, dass ich es nicht gut ertrug, dass mein Mann mich weinen sah. Absurd, denn er war auch traurig, und wir haben schon oft genug miteinander geweint. Also brachte ich es schließlich doch fertig, mich in den Arm nehmen zu lassen und meinerseits zu umarmen. So, wie es einem solchen Gefühl angemessen ist.

Die Traurigkeit begleitete mich den ganzen Tag lang. Das Radio, das in unserem Büro lief, brachte stündlich und auch zwischendurch immer wieder die Nachricht vom Selbstmord des Schauspielers, und jedes Mal kroch es mir wieder die Kehle hoch, wurden mir wieder die Augen feucht. Nicht etwa, weil ich ein ausgesprochener Fan von Robin Williams war (Fantum als solches liegt mir eher fern, auch wenn ich finde, dass er einige wirklich großartige Rollen verkörpert hat, wie das niemand sonst gekonnt hätte).

Sondern deshalb, weil es wieder einen Menschen mehr gibt, der es nicht geschafft hat, das Leben zu greifen und sich zu eigen zu machen. Das zerreißt mich innerlich. Weil ich selbst schon oft genug an der Schwelle gestanden habe und drauf und dran war, aufzugeben.

"Mal ehrlich", sagte nach der dritten oder vierten Radiomeldung zum Thema mein junger Kollege, "solche Leute haben doch gewaltig einen an der Klatsche!" Die Kolleginnen widersprachen, zum Teil heftig - und ich schwieg. Ich kriegte den Mund nicht auf, denn alles, was ich hätte sagen können, wäre persönlich geworden. Es ist persönlich. Ich bin "diese Leute", nur ohne den Vollzug.

Ein paar Minuten später brachte der Norddeutsche Rundfunk diesen unsäglichen 90er-Jahre-Song von Prince Ital Joe, der honigsüß immerzu wiederholt: I want to see more happy people, I want to see more happy people. Where are all those happy people?

Happy. Sollen wir alle sein, und wir wissen, dass wir's sollen, und deswegen wollen wir es irgendwann. Auch ich habe im Büro meine Tränen zurückgehalten, meine Meinung zurückgehalten, meine Betroffenheit versteckt. Weil man über von eigener Hand gestorbene Schauspieler nicht weint, weil man die Gefühle draußen lässt und es einem nicht zum Vorteil gereicht, verletzbar, verwundbar zu sein. Das geht nur zuhause auf der Toilette.

Und genau da schließt sich der Kreis. Happy sollen wir sein. Immer happy. Zumindest noch ironisch, zynisch, aber auf keinen Fall sollen und wollen wir genau so fühlen, wie wir gerade fühlen. Bereits von unserem ersten Atemzug an lernen wir, wie wir akzeptabel sind und wie nicht, und dass es überlebenswichtig ist, akzeptabel zu sein. Ob man am Akzeptabelsein selbst letztlich krankt und stirbt, das interessiert nicht. Wer damit nicht klarkommt, hat "einen an der Klatsche".

Der Schauspieler ist der, der dem Publikum bietet, was es sehen will. Wenn es dosierte Melancholie ist, ist auch das akzeptabel, aber niemals ist anderes erlaubt, als der Zuschauer sehen möchte. Der Schauspieler spielt und spiegelt. Robin Williams spielte selbst als John Keating im "Club der toten Dichter" nicht mehr als eine Rolle, auch wenn es eine großartige Rolle und ein großartiges Spiel war.

Er war ein Mensch. Er hatte sicher auch Seiten, die andere nicht sehen wollten, vielleicht nicht einmal er selbst. Diese Seiten selbst für akzeptabel zu erklären und sich selbst dabei auch zu glauben, ist eine schwierige Aufgabe. Sie ist um so schwieriger, je kräftiger der Wind in die andere Richtung bläst. Manchmal ist es leichter, in ein Clownskostüm zu steigen.


Hoe recht je staat
Heeft met zwaarte niets te maken
Hoogstens met de wind...


Wie aufrecht du stehst,
hat nichts zu tun mit Stärke.
Höchstens mit dem Wind...

Bløf

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Dienstag, 29. Juli 2014
Unversöhnlich
Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber es braucht viel mehr
als nur eine Enttäuschung,
dass ich nachtragend werde.
Unversöhnlich bin ich.

Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber du warst einmal zu oft
um keine Ausrede verlegen,
und ich habe schon viele gehört.
Unversöhnlich bin ich.

Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber zwischen deinen Zeilen
schimmert bedürftige Bitterkeit,
und die halte ich nicht aus.
Unversöhnlich bin ich.

Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber dein schlechtes Gewissen
kann ich nicht brauchen,
und es gehört mir auch nicht.
Unversöhnlich bin ich.

Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber du würdest gern hören,
alles sei wieder gut,
und das kann ich nicht sagen.
Unversöhnlich bin ich.

Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber dein Lachen war einmal zu oft
falsch und weit entfernt,
und ich bin des Suchens müde.
Unversöhnlich bin ich.

Ich bin unversöhnlich.
Gewöhnlich bin ich das nicht.
Aber die Farbe blättert,
die Stimme versiegt,
und die Flügel tragen nicht mehr.
Unversöhnlich bin ich.

Sag Bescheid, wenn du da bist.

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Mittwoch, 4. Juni 2014
Tod einer Illusion.
Zu meiner Enttäuschung gesellt sich jetzt maßlose Wut. Ich glaube, so wütend bin ich auf S. noch nie gewesen.

Ich fühle mich verarscht, von vorne bis hinten manipuliert, und das auf eine Weise, die mir kaum eine Handhabe lässt. Denn egal, was ich jetzt sage oder tue, ich verliere garantiert.

Zuerst druckste sie herum in der Mail, die sie mir schickte, um unser Pfingsttreffen abzusagen. Ach je, ich weiß gar nicht, wie ich das schreiben soll, wir sind gerade nach Hause gekommen, und jetzt dachte ich, muss ich Dir spätestens mal Bescheid geben. Ich hab mich auch sehr auf das Pfingstwochenende gefreut... (...) Ich hoffe sehr, Du bist nicht allzu enttäuscht und es ist tatsächlich auch nur ein bisschen verschoben.

Ja, "nur" ein bisschen. Es ist ja nicht so, als hätten wir nicht vorher auch schon endlos über ein Treffen gesprochen und als hätten wir nicht auch bereits einen früheren Termin verschoben. Es ist immer nur ein "bisschen" verschoben, und am Ende ist es Dezember, und dann kann sie nicht, weil sie ja noch an all die Weihnachtsgeschenke denken muss und ihre Familie noch etwas von ihr will und überhaupt...

Ich hatte Langmut und Verständnis, so wie immer bei S.. Aber der Vorrat ist aufgebraucht. Ich wünsche mir Verbindlichkeit in einer Freundschaft und das Gefühl, nicht nur ein Punkt auf dem Pflichtprogramm zu sein, das sie mit allen Menschen durchzieht. Kommt sie überhaupt gern zu mir? Geht es ihr darum, mich zu sehen und Zeit mit mir zu verbringen, oder geht es ihr nur darum, mich nicht enttäuschen zu wollen, weil dann ja eine negative Reaktion von mir kommen könnte?

Man könnte Letzteres für eine boshafte Unterstellung meinerseits halten. Ginge das alles nicht schon jahrelang so. Sie bückt sich so tief in ihrer Absagemail. Auf dass ich nur nicht böse auf sie sein möge.

Ich habe ihr geantwortet. Ich habe nicht geschrieben: "Ach, ist schon alles in Ordnung, ich verstehe Dich, mach alles ganz in Ruhe, so wie Du magst!" Tausendmal habe ich diese Worte so oder ähnlich schon ihr gegenüber geäußert. Dazu hatte ich keine Lust, weil ich wirklich kein Verständnis mehr habe. Es kann nicht so schwer sein, 500 Kilometer Distanz zum Trotz, einmal im Jahr eine Freundin zu besuchen, wenn man es wirklich will.

Also kein Bedauern von meiner Warte. Statt dessen schrieb ich ihr, sie möge einen neuen Termin vorschlagen, wenn sie einschätzen kann, ob es wirklich klappt.

Was dann folgte, liest sich auf den ersten Blick allenfalls wie eine Rechtfertigung. Es sei sehr schwierig, irgendwas abzuschätzen, denn sie hätten ja so viel um die Ohren, so viel Leid mitanzusehen, müssten sich so um ihre Lebensabschnittsschwiegereltern kümmern, und sie hätten wirklich keine Energie mehr. Alles Punkte, für die man Verständnis haben kann, oder besser, sollte.

Und genau das ist der Grund, warum ich mich massiv manipuliert fühlen, und zwar auf unfairste Weise.

Gegen so viel Engagement und psychische Belastung kann man einfach nichts sagen, es lässt gar keinen Raum für etwas anderes als Bedauern, Mitleid und Verständnis. Ich fühle mich zu einer Reaktion gezwungen, die es mir nicht erlaubt, auch nur ansatzweise meine Enttäuschung und meinen Ärger auszudrücken. Sankt S. hat ihren Heiligenschein, weil sie ja nicht aus egoistischen Gründen absagt, sondern nur deshalb, weil da noch tausend andere Menschen sind, die dringend ihrer Aufmerksamkeit bedürfen, weil sie niemandem ihre Hilfe versagen will, weil es wichtig ist, weil diese Menschen Familie sind. Was ist dem gegenüber noch die Enttäuschung über ein entgangenes Treffen unter Freundinnen? Nächstes Mal...! Bald! Ganz bestimmt!

Sie spielt die emotionale Karte und erstickt damit jegliche Kritik im Keim. Das verletzt mich wirklich, mehr als die Absage an sich. Schau her, das bin ich! Nichts für mich, alles für andere! Nichts selbst entschieden, alles Anforderungen des Lebens an mich! Ich kann nichts dafür. Es geht mir ja auch schlecht wegen all dem. Du kannst mir gar nicht böse sein. Es liegt ja alles nicht in meiner Macht!

Darunter dann noch eine Schicht. Wie kannst Du es wagen, auch nur Bedauern auszudrücken? Wie kannst Du es wagen, auch nur anzudeuten, dass das Scheitern dieses Treffens in meinen Händen lag? S. ist unangreifbar, sie sitzt auf dem Thron des großen Samaritertums. Sie signalisiert mir deutlich, dass sie weitere Kritik, und sei sie noch so marginal, nicht erlaubt. Dass es unangemessen ist, zornig auf sie zu sein und dass sie jegliche Verantwortung für alles ablehnt. Ihre Äußerungen haben etwas Endgültiges. Bis hierhin und nicht weiter!

Vermutlich gibt es die S. nicht mehr, von der ich immer noch hoffte, dass sie wieder zum Vorschein kommt. Es gibt nur noch diese verkrampfte, verbissene Person, die es allen recht machen muss, weil sie sich sonst nicht gut fühlen kann. Und wenn sie es mal nicht schafft, es allen recht zu machen, dann erwartet sie dafür die Absolution. Sie möchte sich trotzdem gut fühlen, dafür sollen die anderen sorgen.

Sorry, S., aber das kann ich nicht leisten. Das hat mit Freundschaft nichts mehr zu tun. Mein Verständnis ist am Ende, meine Geduld ist am Ende, meine emotionalen Ressourcen und meine Anteilnahme sind am Ende. Ich werfe das Handtuch.

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Samstag, 24. Mai 2014
"Komt een vrouw bij de dokter..."
Heute ist ein zielloser, entspannter Samstag, wie gemacht, um ganz in Ruhe einen Film in der niederländischen Originalfassung anzusehen. "Kommt eine Frau zum Arzt..." Der Filmtitel mutet an wie der Beginn eines Witzes.

Das Buch hatte ich bereits gelesen. Es trägt den nicht wortgetreuen, aber auch irgendwie passenden deutschen Titel "Mitten ins Gesicht". Die Beschreibung, es sei "krass" und "explizit" war damals ein Grund für mich, es zu kaufen. Schmonzetten über kahlköpfige, am Ende moralisch geläuterte Chemopatienten braucht schließlich kein Mensch. So romantisch ist Krebs nicht. Ich habe das gewusst, als ich das Buch zum ersten Mal las, und ich weiß es immer noch. Ich hab's nur zwischendurch vergessen.

Was ich da vergessen hatte, hat der Film wieder ans Licht geholt mit einer Wucht, auf die ich nicht vorbereitet war. Es ist beinahe neun Jahre her, dass ich Dich das letzte Mal sah. "It's terminal", sagtest Du damals. Endgültig. Inzwischen sind Deine Worte lang verklungen, und Deine Asche ist verweht.

Wir haben zugesehen, wie Du langsam immer weniger wurdest. Wie Deine Haut und Deine Augen sich gelb verfärbten. Wie Dein schwarzer Humor in der Dämmerung versickerte, wenn es unumgänglich war, dass Du Dir eine Dosis Morphium verabreichtest. Wie Du Tränen in den Augen hattest, weil es Dich so schmerzte, nicht mehr zu können. Wir hörten Deine geflüsterten Worte der Scham, des Danks und des Abschieds.

Dann saßen wir im Andachtsraum des Krematoriums, während Jimi Hendrix All Along the Watchtower sang. "I hope you like the music I chose for the funeral", hattest Du uns eine Weile zuvor gesagt.

Im Film reicht der Arzt der Sterbenskranken den Schierlingsbecher. Sie setzt ihn an den Mund, und ich spüre ein schmerzhaftes Reißen in meinem Innern. Du wirst ganz ähnlich gegangen sein.

Nachdem der Abspann gelaufen ist, gehe ich ins Bad und tauche mein Gesicht in die hohlen Hände voll kaltem Wasser. Ich habe rotgeränderte Augen. Es ist mir lang nicht mehr passiert, dass ich Deinetwegen weinte. Entgegen aller Annahmen verblasst der Schmerz. Sonst könnten wir wohl nicht weiterleben. Verordnete Trauer funktioniert ebenso wenig wie verordnetes Glück. Man lacht und weint zugleich, und oft kann man keines von beidem.

Manchmal sehe ich Dich lächeln und sagen: "Don't make any fuss about me!" - so wie Du es mit großer Bestimmtheit am Ende Deines Lebens zu uns sagtest, Deiner schwindenden Kräfte zum Trotz.

Aber dieses bisschen "fuss" wirst Du mir zugestehen müssen. Das Herz vergisst nicht. Dich schon gar nicht.

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