Sturmflut
Dienstag, 13. Mai 2014
Weil das raus muss!
Ich brauche ein Ventil für meine Gefühle. Wieder mal merke ich, wie stark ich filtere. Die Selektion ist gnadenlos. Optimismus, Tatendrang, Stärke sind meinem inneren Bewertungssystem nach gefragt. Was nicht gefragt ist und auch keinen Ausdruck finden darf, sind meine maßlose Wut und Hilflosigkeit. Die werden, sobald sie sich einen Weg an die Oberfläche bahnen, sofort auf ihre Legitimität geprüft. Der strenge Kontrolleur in meinem Kopf spricht ihnen die Notwendigkeit oder Berechtigung sofort ab, sobald sie auftauchen.

Zur Zeit wache ich beinahe jeden Morgen mit einer immensen Wut auf meine Ex-Chefin auf. Der Gatte sagt mir immer wieder mit großer und liebevoller Beharrlichkeit, dass die Umstände nicht meine Schuld sind. Aber ich bin unfähig, mir wirklich selbst glaubwürdig zu versichern, dass das so ist. Sobald diese Wut aufkeimt und ich ausdrücken möchte, wie unfair und selbstgefällig ich das Verhalten der Ex-Chefin finde, schaltet sich mein innerer Zensor ein. Aber sie ist doch krank!, Aber vielleicht hast du dich nicht genug angestrengt!, Sie hat sich das sicher auch alles anders vorgestellt!

Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, da ich eine Lanze für mich selbst brechen möchte. Ich möchte anerkennen, dass mir übel mitgespielt wurde. Ich möchte anerkennen, dass das einfach riesengroße Scheiße war, dass man so mit einer anvertrauten Auszubildenden nicht umgeht, selbst dann nicht, wenn sie längst erwachsen ist. Ich habe ein Recht auf diese Wut, auch wenn das Stimmchen in mir bereits jetzt wieder beginnt, herumzumeckern, ich sei selbstmitleidig und würde nur jammern, anstatt selbstkritisch zu sein.

Selbstkritisch war ich zu lange. Es schadet mir, nach den Ursachen für die Misere immer nur bei mir selbst zu suchen. Dann ist es nämlich kein Wunder, dass ich irgendwann mich selbst nicht mehr aushalte - wer so viele Fehler hat, dass er selbstverschuldet in eine solche Lage gerät, dem kann man nichts zugute halten und den kann man auch nicht mögen. All die kanalisierte Selbstkritik, der Selbsthass, kumulierte gestern abend mal wieder, und irgendwann saß ich auf dem Teppichboden meines Arbeitszimmers und schlug mir selbst ins Gesicht, weil ich keinen anderen Ausweg mehr wusste.

Dieses Kranken an mir selbst entsteht aber eben auch deshalb, weil ich unfähig bin, andere von ganzem Herzen und aufrichtig zu kritisieren und die Verantwortung für schwierige Situationen immer bei mir selbst suche. Es gibt aber Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe.

Es ist Zeit, ungeschönt zu sagen: Die Ex-Chefin hat sich verhalten wie ein Arschloch. Ich laste es ihr an, dass sie sich den leichtesten Weg gesucht hat, dass sie auf meine Kosten herumexperimentiert hat, dass sie auf meinem Rücken Lasten abgeladen hat, die sie selbst hätte tragen müssen und für die sie mir nicht einmal Anerkennung hat zukommen lassen. Ich laste es ihr an, dass sie ihre Versprechen nicht gehalten hat und dass ihre schönen Worte nur hohle Phrasen waren. Und ja, deswegen bin ich stinkwütend. Ich konnte nichts für ihre Krankheit, für ihren offensichtlichen Mangel an Menschenkenntnis und Urteilsvermögen und für ihre Launenhaftigkeit.

Das ist alles zum Kotzen. Ihretwegen stehe ich jetzt wieder ohne Job da, muss mir wieder Existenzsorgen machen und weiß nicht, wie es morgen weitergehen soll. Blöde Kuh, verdammt noch mal! Ich habe ihr geglaubt, ich habe meine Hoffnungen in diese Ausbildung gesetzt und für bare Münze genommen, was sie mir sagte. Sie hat mich enttäuscht.

Und wegen all dem soll ich nicht wütend sein dürfen? Mich nicht hilflos fühlen dürfen? Mich zusammenreißen müssen? Das will ich jetzt nicht. Ich habe es einfach satt, immer die einzige Person zu sein, mit der ich ins Gericht gehe. Das habe ich mein Leben lang so gemacht, das hat man mir gründlich beigebracht. Wenn es gut läuft, hattest du Glück. Wenn nicht, hast du dich nicht genügend angestrengt. Ich habe es so satt.

Ich suche nach einer Strategie, mich mehr wertzuschätzen und mir solche Gefühle zuzugestehen. Ich will solche Momente wie gestern abend nicht mehr erleben. Lieber würde ich Pflastersteine in Fensterscheiben werfen und mich sozial total unverträglich verhalten. Anderen weh tun statt mir selbst. Und bereits jetzt, da ich das aufgeschrieben habe, meldet sich die hochmoralische Stimme in mir und sagt: "Das darfst du nicht! Das darfst du nicht einmal schreiben!"

Ich drücke jetzt nicht die Backspace-Taste.

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Montag, 24. März 2014
Langsam verrückt werden. Oder?
Wenn du auf der Bettkante sitzt und heulst, weil du nicht schlafen kannst und dich jedes einzelne Wort bis ins Mark trifft, ganz gleich, wie es gemeint ist, dann weißt du, was du eigentlich nicht wissen willst: Das ist Depression.

Sie hatte sich ziemlich gut versteckt in den letzten Monaten meiner Arbeitslosigkeit, und jetzt, da ich mich an allem neu messen muss, bricht sie auf wie ein altes Geschwür. Schon allein für die Tatsache, dass ich wegen jedem Kleinscheiß weine, hasse ich mich in diesen Momenten. Dafür, dass ich mich dafür hasse, ebenfalls. In den vergangenen Tagen und Wochen hätte ich am liebsten mein gesamtes Umfeld um Entschuldigung gebeten für meine Existenz, und zwar ohne diesen ironischen Unterton, den Teenager manchmal an sich haben, wenn sie sowas sagen. Entschuldige bitte, dass es mich gibt!

Ich habe mich zur Arbeit gequält. Ich habe eine Kollegin, die die übelsten Ressentiments in mir aufwallen lässt, weil sie ganz und gar nicht mein Typ Mensch ist. Im Kontakt mit Freunden spüre ich meine Depression nicht, meine Menschenscheu, meine Misanthropie und meinen versteckten Zorn, weil mir Freunde ähnlich sind. Ich verbringe meine freie Zeit mit ihnen, weil ich sie liebe. Hier ist jetzt jemand, an dem ich mich plötzlich messen, mit dem ich konkurrieren, dem ich Grenzen setzen und gegen den ich mich durchsetzen muss. Unbestritten eine große Aufgabe bei einer Person, die fast dauernd damit beschäftigt ist, nach Komplimenten zu fischen, eigene Fehler auf andere abzuwälzen oder zumindest vehement zu leugnen und die ein Mundwerk hat von hier bis nach Bangladesh.

Also bin ich ziemlich beschäftigt damit, herauszufinden, wer ich bin im Unterschied zu ihr. Den Fehler habe ich schon mal gemacht, da war ich noch nicht einmal erwachsen. In den Jahren danach ging ich jeder Konfrontation dann einfach aus dem Wege und maß mich gar nicht mehr. Sich messen ist so ungewohnt, kleine Mädchen lernen das nicht, die lernen nur eine fiese, versteckte Art des Herumzickens. In dem ich mich dann auch unversehens wiederfand. Ich zickte mit. Und starb dabei. Ich hätte mich messen sollen, aber nicht an ihr, sondern mit ihr.

Jetzt werde ich mich damit befassen, den aufrechten Gang neu zu lernen. Die Kollegin ist nicht das Problem. Sie ist weder das kreative Genie noch die Giftspinne, die ich in ihr zeitweise sah, sondern nur ein ziemlich verlorenes kleines Mädchen mit unbestrittenen Talenten auf der Suche nach Selbstbestätigung. Die interessante Frage ist, wie es kam, dass meine Sicht so verzerrt war, dass ich diesen Menschen als bedrohlich wahrgenommen habe.

Widrige Umstände halte ich mir zugute. In einem kleinen Fünf-Frau-Betrieb das Schiff ohne Kapitänin irgendwie auf Kurs zu halten, ist schlicht nicht einfach. Schon gar nicht dann, wenn die eine Hälfte der Belegschaft sich in Ausbildung oder Praktikum befindet und die andere erst frisch eingestellt, aber nie eingearbeitet wurde. Und ich war beides. Ohne Möglichkeit für Rückhalt und Rücksprache. Ich war überfordert, aber mein Zwang zum Perfektionismus schloss das von vornherein aus. Ich hätte mir Entlastung gewünscht und merke jetzt erst, wie gut es tut, sie zu bekommen.

Da kann man schon mal ins Heulen kommen. Da kann man schon mal fürchten, was der nächste Tag an Stolperfallen für einen bereithalten mag. Mal. Rapide abzunehmen vor lauter Stress ist wohl nicht so optimal. Keinen Schlaf mehr zu kriegen auch nicht. Nachts die Augen zu schließen und die Namen von Kunden durch den Raum schweben zu sehen ist ungesund. Grübeln ohne Unterlass. Bin ich gut genug? Habe ich an alles gedacht? Kann mir auch niemand einen Strick drehen? Habe ich alle Haken und Ösen ausgebügelt? Siedendheiße Adrenalinstöße. Oh meine Güte, habe ich...? Nein, Mist, der Korrekturabzug! Hoffentlich sind die Druckdaten rechtzeitig fertig! So lange, bis irgendwann nachts um drei die Energie nicht mehr reicht, ich weine vor Verzweiflung und Müdigkeit und sämtliche Kraft aus mir herausrinnt.

Dabei bin all das gar nicht ich. Ich will nicht langsam verrückt werden. Schon gar nicht auf diese Weise. So randvoll mit Misstrauen, ja beinahe schon Paranoia. Randvoll mit Angst. Aufgescheuert an alten Maßstäben, die nicht mal zu mir gehören.

Schluss!

Heute dann zum ersten Mal die Chance, Atem zu schöpfen und pünktlich nach hause zu gehen. Sollte ich öfters machen und die Verantwortung da lassen, wo sie hingehört. Ich kann nicht alles können. Für Fehler wird mich niemand töten. Es ist den Selbsthass nicht wert. Vieles mag mein Handeln und Denken in Frage stellen. Aber ich bin immer noch hier.

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Freitag, 21. Februar 2014
Doch alles ganz anders
Es ist so eigenartig, plötzlich keine Zeit mehr zu haben. Natürlich hat der Tag immer noch 24 Stunden, aber mir erscheint er ständig zu kurz. Ob das daran liegt, dass ich in den letzten drei Wochen nur zwei Mal halbwegs pünktlich Feierabend hatte oder dass ich an zwei von fünf Wochentagen so früh aufstehe, dass mir abends nach gar nichts mehr ist, weiß ich nicht. Ich denke nur jeden Tag: "Ach, schon wieder Schlafenszeit." Und ich bin gut beraten damit, nicht allzu spät ins Bett zu gehen. Für meine Eulentaktung ist das die totale Verwirrung.

So froh ich bin, meine Arbeits- und Perspektivlosigkeit los zu sein, denke ich aber trotzdem gern zurück an die Nachmittage, die ich mit Werkeln am Fahrrad, dem Streichen des Gartenzauns und Versenkung vor Photoshop verbrachte. Jetzt ist die Zeit ein knappes Gut. Was mir nicht passiert, ist Langeweile. Das ist ein schönes Gefühl. Ich habe keinerlei Einwände.

Interessant ist aber, dass ich irgendwie gar nicht dazu komme, mich wirklich zu fragen, wie es mir zur Zeit seelisch geht. Klar, für grobe Befindlichkeiten habe ich durchaus eine Antenne. Aber die Zeit, die wirklich frei ist, geht für Regeneration drauf. Da ist nicht mehr viel Energie übrig für Selbstbespiegelung und Pegelstandsmeldungen an mich selbst. Deswegen schreibe ich auch gerade wenig. Hier nicht, nicht in anderen Blogs und auch nicht, was Mails betrifft.

Ich hätte nicht gedacht, dass sich Leben von einem auf den anderen Tag so vollständig anders anfühlen kann. Da waren natürlich immer Brüche in meinem persönlichen Zeitstrahl, verursacht durch Umzüge, Uniwechsel, noch mehr Umzüge, neue Jobs. Aber ich bin doch vor allem in den letzten Jahren so von einem ins andere geglitten. So abrupt wie jüngst war es selten.

Es gibt so viel Neues, auf das ich mich jetzt einstelle, obwohl ich das kaum bemerke. Ich frage mich, ob ich meine eigene Anpassungsleistung gerade zu gering schätze. Vom Phlegmatismus meiner vorherigen Arbeit merke ich nichts mehr. Nichts ist Routine, nichts ist eingeschliffen, noch nichts hat sich abgenutzt. Das hat seine Vor- und Nachteile.

Ich merke, wie gut es mir tut, dass die Dinge in Bewegung sind. Ich habe gerade eine alte Haut abgestreift und staune, wie wenig ich sie vermisse. Ich bin in der neuen aber auch sehr, sehr sensibel. Vermutlich sind es die verbliebenen Konstanten, die mir gerade das Leben retten und mir diese Anpassungsleistung ermöglichen. Beispielsweise, dass der Gatte die alte Gewohnheit sofort wieder aufgenommen hat, mir morgens im Bad eine Tasse frischen Kaffee hinzustellen, jetzt, da wir wieder gleichzeitig aufstehen. Er weiß ja, dass ich morgens der Totalmuffel bin und niemals dazu käme, mich an den Küchentisch zu setzen und dort den Kaffee zu trinken. Diese Geste vereint so viel in sich - Liebe, Aufmerksamkeit, Respekt gegenüber meiner Art und Koffein.

Oder der Zwischenstopp auf Freundin I.s Sofa, gestern nach der Berufsschule. Wie üblich begrüßte mich ein wunderbares Arrangement aus Süßigkeiten, selbstgebackenem Kuchen und Tee, und dazu kam I.s toller, trockener Humor, mit dem sie die Dinge auf den Punkt bringt. Erleichtert lehnte ich mich in ihre Kissen und freute mich, einem normalen Menschen zu begegnen, bei dem ich mich weder verstellen muss noch der es selbst nötig hat, Show zu machen.

Morgen dann, wie so oft samstags, besuchen wir J. und A., und vielleicht werde ich Glück haben, und eine ihrer Katzen wird sich auf meinen Schoß legen und dort bleiben, bis der Film zu Ende ist. Auch das ist ein Fixpunkt in dieser stürmischen Zeit, selbst wenn das gründliche Kraulen von Katzenfell auf den ersten Blick banal wirkt. Es ist entgegengebrachtes Vertrauen, das mich ehrt, und die Begegnung mit A. und J. ist wie die mit I. - unverstellt, echt, sauber, ruhig. Kein Tamtam, keine Allüren, da muss sich niemand beweisen, niemand den anderen beeindrucken.

In meinen Niederländisch-Kurs habe ich mich aus ähnlichen Gründen eisern verbissen. Auch wenn der Tag gelaufen ist, wenn ich gegen zehn Uhr abends dann wieder nach hause komme, und auch wenn das Geld zur Zeit knapp ist - der Dienstagabend ist ein wöchentliches Highlight. Wir lachen viel zusammen, wir lernen viel, und Lernen in ungezwungener Runde kann ich gerade jetzt besonders gut gebrauchen. Es geht tatsächlich noch mehr rein in meinen Kopf. Wie es scheint, müssen nur die Voraussetzungen stimmen.

Das ist, was mich zusammenhält. Ich merke, dass darin ein eklatanter Unterschied besteht zu meinem Leben, wie es früher war. Ich habe mich damals eingemauert und so sehr misstraut, dass das, was mir andere an Gutem zu geben hatten, gar nicht ankommen konnte. Ich hätte mich nie fallengelassen. Ich hätte nie, abends um halb neun aus der Agentur kommend wie am letzten Montag, vor Wut über die Kollegin und vor Erschöpfung einfach geheult und mich trösten lassen. Ich hätte angenommen, die Zähne zusammenzubeißen und das alles ohne einen Mucks zu schultern sei die von mir geforderte Verhaltensnorm. Ich hätte mich noch allenfalls gewundert, wieso ich so gequält und fern von mir und unendlich einsam gewesen wäre.

Erschöpft von der Arbeit, gestresst, traurig, müde, wütend, ausgelastet, voll im Ellenbogentraining - alles das ist besser. Tausendmal besser als dieser eiskalte Zustand verzweifelten Selbsthasses.

Es ist nichts mehr wie früher.

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Mittwoch, 22. Januar 2014
Aber Spaß darf es nicht machen.
In den letzten Tagen habe ich bei kannenweise Pfefferminztee und guter Musik an meinem Schreibtisch einige interessante Neuentdeckungen gemacht. Zum Beispiel die, dass der Umgang mit Adobe Illustrator gar nicht so kryptisch ist wie befürchtet, wenn man einmal verstanden hat, wie es funktioniert. Es fesselt mich so sehr, dass es mir schwer fällt, mich loszureißen, und nachts träume ich von Bézierkurven. Es macht Spaß. Ebenso wie (Wieder-)Entdeckung des Umstandes, dass ich eigentlich ganz gut zeichnen kann und Ideen habe - wenn ich mich nur traue, sie auch fließen zu lassen.

Ist es nicht genau das, was ich wollte? Auf etwas hinsteuern, das Spaß macht und mich zugleich weiterbringt? Die Initialzündung, die ich noch vermisst habe, als die Energie für Kämpfe mit dem Arbeitsamt draufging oder für meinen vorherigen Job, der zwar nicht todlangweilig war, aber auch nicht sonderlich kreativ?

Da ist sie jetzt. Da ist der heißersehnte Flow, das vollkommene Verschwinden in einer Tätigkeit, die reine Freude am Tun. Und jetzt? Jetzt stellt sich pünktlich und zuverlässig ein schlechtes Gewissen ein. Ein schlechtes Gewissen! Es ist nicht zu fassen. Sowohl der Gatte als auch Freundin I. kommentierten, das sei reichlich verdreht. Womit sie absolut Recht haben.

Sobald etwas beginnt, mir Freude zu machen, kommt zeitgleich das Gefühl auf, dieses Empfinden nicht haben zu dürfen. Wenn es Spaß macht, ist es keine richtige Arbeit. Richtige Arbeit macht keinen Spaß. Wenn sie es doch tut, stimmt irgendetwas mit mir nicht.

Es ist wahr, das ist verdreht. Ich merke, was für ein großes Glück es ist, doch noch einer Tätigkeit auf die Spur zu kommen, die mir diesen Flow verschafft und mir tatsächlich auch den Lebensunterhalt sichern könnte. Ich werde dieser Spur nachgehen, denn ich habe mir so oft einreden lassen, ich sei nicht gut genug, dass ich dann tatsächlich nicht gut genug war. Ich möchte die alten Ansprüche über Bord werfen, und derjenige, das alles dürfe auf keinen Fall Spaß machen, gehört dazu.

Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann macht mich diese eigenartige Maxime wütend. Immer war in meinem Leben der Spaß etwas Verpöntes. Vielleicht korrespondiert das mit dem Umstand, dass in meinem Elternhaus wenig gelacht wurde und es insgesamt auch wenig zu lachen gab. Etwas zu meinem reinen Vergnügen zu tun, hatte immer den Beigeschmack von Faulheit. Es musste unter dem Strich einen Nutzen haben.

Es verwirrt mich völlig, beides in einer Tätigkeit vereint zu sehen, Nutzen und Spaß. Damit habe ich nicht umzugehen gelernt. Wie sich mein Inneres zusammenzieht, wenn mich jemand dabei "erwischt", wenn ich Spaß habe, das ist ein Gefühl, an das ich mich zu deutlich erinnere und das ich heute noch oft habe. Schon die simple Frage meiner Mutter: "Was machst Du gerade?", reichte in der Vergangenheit aus, dass ich mich sofort zu rechtfertigen begann. Die akzeptablen Tätigkeiten lassen sich unter die Stichworte Lernen, Ordnung halten, Arbeiten, Pflichterfüllung einsortieren.

Besonders krude daran ist, dass mir Pflichterfüllung und Müssen die Tätigkeiten verdorben haben, die mir eigentlich grundsätzlich Spaß machen. Meiner Mutter das Aquarell einer Toskanalandschaft zu malen, das zu ihrer teuren Wohnzimmereinrichtung passen sollte, hat mir keinen Spaß gemacht. Wann immer also Verpflichtungen, die Wünsche anderer oder Notwendigkeiten ins Spiel kamen, verhinderten sie zuverlässig, dass eine kreative, interessante Tätigkeit noch Spaß machte. Sie reduzierte sich in der Folge zu etwas, das unter Druck gut werden musste, anstatt individueller Ausdruck eigener Fähigkeiten zu werden, und damit verkümmerte, misslang, starb sie.

Der Spaß hingegen, völlig ohne sittlichen oder monetären Mehrwert, hatte den Anstrich verruchten Hedonismusses. Spaß war etwas, das seine eigene Abwertung bereits in sich trug.

Erst jetzt kann ich unbefangen auf das Verzeichnis auf meinem Rechner zugreifen, das ich mit dem Titel "Spielereien" versehen habe, und den darin enthaltenen Spielereien auch tatsächlich ein Potential für persönliche Weiterentwicklung (also auch eine Form des Nutzens) zuerkennen, ohne dass mir das den Spaß an der Sache nimmt. Erst jetzt kann ich Pflichtaufgaben als Herausforderung betrachten, anstatt sofort die Flinte ins Korn zu werfen, weil ich mich von den Anforderungen erdrückt fühle und gewohnheitsmäßig davon ausgehe, dass das sowieso nichts wird. Erst jetzt merke ich, wie viel Spaß Lernen macht und dass es sich mit Spaß viel besser lernt.

Es ist komisch, sich diesen Spaß im Leben und in der Arbeit zuzugestehen und zu genießen. Er kribbelt mir in den Füßen, amüsiert mich und treibt mich weiter. Er hat seinen eigenen Wert, und ich versuche mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es nicht notwendig ist, ihn als erlaubt oder unerlaubt einzusortieren. Ein bisschen wirkt es, als habe sich meine Sicht auf die Dinge einmal vollständig umgekehrt, so dass jetzt alles am richtigen Platz ist.

Das schlechte Gewissen lasse ich zum geöffneten Fenster hinaus und hoffe, es kommt nicht wieder zurück.

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Mittwoch, 18. Dezember 2013
A lonely travel
Nachdem der Sommer in diesem Jahr damit verging, dass ich über die Möglichkeiten und Bedingungen gemeinsamen Wanderns mit S. nachdachte, wir uns darüber stritten und wieder versöhnten und es schließlich zu keiner Wanderung kam, habe ich beschlossen, das im nächsten Jahr anders zu machen.

Obwohl mir S. erzählte, sie habe einen tollen Bericht über den Hermannsweg gesehen und sei begeistert, und man könnte doch zusammen darüber nachdenken, steht für mich fest, dass ich alleine gehen werde. Ich hatte nicht den Hintern in der Hose, sie vor den Kopf zu stoßen und habe mich in der akuten Situation um eine deutliche Aussage herumgewunden. Aber im Grunde ist mir schon längst klar, wie ich es machen will.

Der Reiz des Reisens zu Fuß und allein ist für mich ungeheuer anziehend. Eine Kostprobe bekam ich ja schon bei meinem äußerst kurzen Trip in die Niederlande, der mit der Entzauberung von Zelt und Schlafsack und Boerencamping endete, nichtsdestotrotz aber Hunger auf mehr machte. Im Blog Kleinerdrei schilderte Lucie die unsichtbaren Barrieren im Kopf und im Herzen, die einen vom Alleinreisen abhalten können - vor allem diejenige, die den Titel trägt: "Aber als Frau alleine reisen, ist das nicht gefährlich?" Mit dieser Idee bin auch ich aufgewachsen. Sie stand im Raum. Bloß nicht alleine trampen. Nur nicht nach Einbruch der Dunkelheit allein draußen sein. Sich nur nicht von jemandem anquatschen lassen. Aber gefragt habe ich nie, ob diese Idee Hand und Fuß hat und ob es denn tatsächlich stimmt, dass Frauen gefährdeter sind als Männer, wenn sie allein unterwegs sind.

Inzwischen bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mir sage: Falls es so ist, ist es das Risiko wert. Aber ich glaube auch nicht, dass es tatsächlich so ist. In den Kommentaren zu erwähntem Artikel finden sich auch die Erlebnisse von Männern wieder, die ungefragt auf dem Beifahrersitz angegrapscht wurden oder andere unschöne Erfahrungen machten. Ich mag mich nicht dem Bild unterordnen, das die Frau als unvermeidliches Vergewaltigungsopfer zeichnet, das in die Falle tappt, sobald es einen Schritt vor die Tür macht. Im Gegenteil, ich finde, es ist ein erhebendes, aufregendes und ermutigendes Gefühl, den Raum um sich herum aus eigener Kraft heraus und ganz allein zu erobern. Und also werde ich es tun.

Der Gatte und ich fuhren gemeinsam im Auto am Sonntagabend von einem Besuch bei Freunden heim und philosophierten über genau dieses Thema. Wir sprachen davon, dass wir beide das Bedürfnis und den Wunsch kennen und verspüren, allein unterwegs zu sein. Die Freiheit zu genießen, einmal auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen, sich nach niemandem richten zu müssen. "Es gibt nur noch das Ich, kein Wir mehr!", sagte der Gatte, und ich habe das sehr wohl verstanden, anstatt es als einen plötzlichen Ausbruch hemmungslosen Egoismusses zu missdeuten. Das Zurückgeworfensein auf sich selbst und die eigenen Kräfte definiert einen so sehr, dass es sich lohnt, diese Erfahrung zu machen und zu wiederholen. Es bringt mich auch in ein anderes Verhältnis zu meinem Körper. Es zählt dann nicht mehr so sehr, wie er aussieht oder ob ich mit ihm "zufrieden" bin, sondern wie er sich anfühlt und ob er mich zu den Dingen befähigt, die ich gern machen möchte. Tragen mich meine Füße? Ist das Gefühl, nicht mehr zu können, überwindbar? Wie viel Kraft besitze ich? Wie fühlen sich die Bewegungen an, die ich mache? Was gibt mir Energie?

So sehr ich meinen Ausflug mit S. ins Weserbergland genossen habe und so sehr er mir auch bereits einen Einblick in diese Fragen vermittelt hat, so stehen doch beim gemeinsamen Wandern andere Dinge im Vordergrund. Im konkreten Fall mit S. war es vor allem das krampfhafte Erraten ihrer Bedürfnisse und Grenzen, das die Erfahrung meiner eigenen überdeckte. Gemeinsam unterwegs zu sein ist als Egotrip nicht möglich, die Unternehmung lebt davon, dass man sich einander anpasst. Das mag bereichernd sein, und insbesondere dann, wenn man einen oder mehrere Wanderpartner hat, mit denen man so sehr im Gleichklang ist, dass man Grundsätzliches nicht diskutieren, nicht herausfinden und entschlüsseln muss.

Wenn ich allein gehe, dann stehe ich aber eben nicht vor dem Problem, mich nicht bis zum Ziel pushen zu können, weil ich mich fragen muss, ob es der andere denn auch noch schafft. Allein mit mir kann ich Verhaltensweisen durchziehen, die in einer Gruppe als nicht sozialverträglich gelten würden. Die Dinge werden schlichter. Anhalten, wenn man müde wird oder etwas weh tut. Essen, wenn der Magen knurrt und was man selbst am liebsten mag. Schauen, wenn es was zu schauen gibt. So viele Fotos machen, wie sich spannende Ein- und Ausblicke ergeben, ohne dass jemand auf einen warten muss. Alles erhält einen einzigen Rhythmus, und zwar den, der zu mir passt. Das schließt auch den Umgang mit Widrigkeiten mit ein. Es bleibt mir überlassen, wie ich mit ihnen umgehe. Ich trage nur die Verantwortung für mich selbst.

Ich blicke dem kommenden Sommer mit großer Neugier und Vorfreude entgegen. Es sollen dieses Mal nicht nur anderthalb Tage werden, sondern ich möchte wieder "Strecke machen". Ich freue mich auch bereits jetzt darauf, wieder nach hause zu kommen, in die Arme des Gatten, zu erzählen und mir erzählen zu lassen und gemeinsam mit ihm über die neuen Erfahrungen (seine und meine) zu staunen.

Ich muss mir nur noch überlegen, wie ich das S. schonend beibringe. Wir nahmen an, möglicherweise eine Tradition zu begründen, als wir im vorvergangenen Sommer ins Weserbergland aufbrachen. Rückblickend weiß ich inzwischen, dass ich das nicht möchte. Ich denke, vielleicht passen solche kleinen Reisen wie diejenige nach Quedlinburg besser zu dem, was wir beide gemeinsam sind. Eine Langstreckenpartnerin ist sie nicht.

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Montag, 16. Dezember 2013
Fluchtimpuls
Gerade musste ich einkaufen. Wäre es nicht unvermeidlich gewesen (Zahncreme, Frauenkram), dann hätte ich es bleiben lassen. Ich meide die Innenstadt dieser Tage, umgehe und umfahre Bretterbuden, Fress- und Saufstände und Ladenzeilen weiträumig. Mir will so gar nicht festlich zumute werden. Ich bin im Gegenteil drauf und dran, mich auf meinen misanthropischen Zug rückzubesinnen. Ich zünde ab und zu eine Kerze an gegen die frühe Dunkelheit und die Tristesse, und das ist dann auch schon alles.

Das beinahe kindliche Entgegenfiebern auf Weihnachten entfällt ohnehin seit Jahrzehnten, Geschenke sind auf ein Minimum reduziert, ich feiere nicht im jährlichen Turnus die Ankunft eines Religionsstifters, und Bäume mit Lichtern sind zwar hübsch, nadeln aber und kosten entschieden zu viel, dafür, dass sie zwei Wochen in der Wohnung herumstehen. Beisammensein mit anderen geht zum Glück auch ohne Weihnachten. Irgendwie bin ich in diesem Jahr unsentimental.

Der Einkaufstrip ging mir rechtschaffen auf die Nerven, und der führte mich nicht einmal bis in den Stadtkern, sondern nur bis kurz davor. Bereits am vergangenen Samstag war ich aus nicht-konsumbedingten Anlass im Zentrum der Nachbarstadt und habe gestaunt über die Menschenströme, die sich durch das künstliche Wohlfühl-Winter-Wunderland wälzen. Man selbst wird wunderlich, wenn man das eine ganze Weile nicht tut. Ich verspüre überhaupt nicht den Wunsch, Geld auszugeben, mir noch mehr Mist ins Haus zu holen, nicht einmal ansatzweise, nicht auch nur, um "mal zu gucken". Das Potpourri aus Gerüchen nach fettigem Fleisch vom Spieß, gepanschtem Glühwein und aufgeweichten Waffeln überreizt mich, und der Gedanke, mich zwischen im Schneckentempo vor sich hinschleichenden Tütenträgern zu bewegen, macht mich schon beinahe aggressiv. Nach dem Verlassen der Drogerie hängte ich meine Tasche an la biciclettas Lenker und dachte nur: "Nix wie weg hier!"

Aber am liebsten würde ich noch weiter weg flüchten. Gerade habe ich riesengroße Sehnsucht nach der Insel. Ich würde gern mit dem Gatten stundenlange Spaziergänge in den windzerzausten Dünen machen. An einem Ort sein, der einen nicht beständig aus der Happy-Konserve anbellt und der statt dessen so eine wohltuende Mischung bietet aus Abgeschnitten- und Gut-aufgehoben-Sein. Ich denke an das stetige Licht des Leuchtturms, und daran, dass das genug ist, um über die Dunkelheit hinwegzutrösten. Das und die hellen Fenster in den Dörfern. Da ist kein Lichterketten-Disneyland nötig und keine Straßenbeschallung. Die Insel ist mein gedanklicher Zufluchtsort.

Zur Bereisung derselben steht gerade kein Geld zur Verfügung. Sonst würde ich es sofort und ohne Zögern tun. Ich freue mich aber sehr auf die Zeit mit dem Gatten, der nur noch diese Woche hinter sich bringen muss und dann endlich lange frei hat. Dann werden wir die Nasen in die frische Luft halten und das Zusammensein genießen. Ganz planlos, nur nach Lust und Laune. Ob es wohl in diesem Winter so starken Frost geben wird, dass wir auf dem Kanal schlittschuhlaufen können?

Letztlich habe ich es natürlich selbst in der Hand, wie sehr ich mich diesem komischen, künstlichen Getue aussetze. Ich muss ja nicht. Ich merke, es wird mir in jedem Jahr ein bisschen fremder. Die Distanz wächst. Auch der Ekel vor dieser gierigen Konsumparty. Sich über selbige aufzuregen ist ja schon sowas wie ein saisonaler Dauerbrenner. Aber in diesem Jahr kommt mir das alles nicht nur furchtbar lästig, hektisch und unnötig vor, sondern regelrecht widernatürlich. Ich werte meine ungeheure Sehnsucht nach diesem utopischen-romantischen Sandhaufen in der Nordsee, dessen einzige eigene Geräusche das Schlagen der Wellen gegen die Kaimauern und der Wind in den Kiefern sind, als Symptom. Das ist, als möchte man sich ganz klein machen und in den dunklen Kleiderschrank setzen, wenn die Eltern streiten, weil man mit dem Gift in der Atmosphäre nicht zurechtkommt.

Es ist dies keine Sehnsucht nach der Weihnacht meiner Kindheit, kein nostalgischer Rückblick, kein "Früher war alles besser!". Es ist die nagende Sehnsucht nach einer Idee für die Zukunft, die diese nie wirklich sättigende Zuckerwatte-Welt ablöst und sich an dem orientiert, was uns ausmacht. Ich weiß nicht, ob es sowas geben kann. Aber den eigenen Ekel ernst zu nehmen ist ein Anfang.

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Montag, 9. Dezember 2013
Selbstbild
"Das passt nicht zu meinem Selbstbild", sagte S. mir am Telefon. Wir sprachen über die Wahrung der eigenen Grenzen und darüber, wie wir damit umgehen, wenn wir Nein sagen. Wenn wir Nein sagen.

Wir waren uns einig darüber, dass letzteres nicht leicht ist. Vor allem dann nicht, wenn man fürchtet, nicht mehr anerkannt, geliebt und geachtet zu werden, wenn man sich verweigert. Mit Ablehnung umzugehen und damit, sich den Zorn anderer zuzuziehen, wenn man sich nicht erwartungsgemäß verhält, ist - so viel kann ich auch aus meiner eigenen Erfahrung sagen - höllisch schwer. Es wird einem mal mehr, mal weniger systematisch mittels Sanktionen abtrainiert, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen im Blick zu halten und sie durchzusetzen. Für Mädchen und junge Frauen ist das noch einmal eine Extra-Aufgabe, denn kratzbürstig zu sein und sich zu wehren passt nicht zum anschmiegsamen, sozialen Image des Ideal-Weiblichen, das gemeinhin gepflegt wird.

S. und ich also, im Kern immer noch Mädchen dieser Strickart geblieben, spüren beide, wie schwer es fällt, dieses Aushalten von Disharmonie und das Ablegen der Verantwortung für die Stimmung anderer.

Aber da ist noch etwas, das mich an dem Satz, den S. über ihr Selbstbild sagte, nicht loslässt. Ich staune gewissermaßen, denn wenn ich darüber nachdenke, dann finde ich kein solches Selbstbild, kein solches Ideal in mir. So schwer es war, zu begreifen, dass ich ein Recht auf Abgrenzung und Durchsetzung meiner Interessen habe, so erfrischend, ermutigend und ermächtigend war auch das Gefühl bei der Umsetzung dieser Idee. Allein sich zu sagen: "Na gut, dann ist er/sie halt jetzt sauer, das ist nicht mein Problem", entlastet ungemein. Nicht, dass es mir immer gelänge. Aber es ist ein Anfang, und ich zweifle im Grundsatz nicht mehr daran, dass das mein gutes Recht ist, so wie es das gute Recht jedes Menschen ist. Bis hierher, und nicht weiter!, Mit mir nicht! - für manchen banale Sätze, für mich eine ganze Welt.

Aber das Selbstbild. An dem Gedanken hake ich mich immer wieder fest. Ich glaube, S. wäre gern ein besonders guter Mensch - gut nicht in dem Sinne, dass sie gern Vorbild für andere wäre, sondern auf eine Weise gut, dass sie mit ihrer bloßen Existenz möglichst nicht die Interessen, Wünsche und Bedürfnisse anderer durchkreuzt, keinen Schaden anrichtet und anderen Raum für die Entwicklung der eigenen Person bietet. Ich muss wieder an den Satz denken, den sie in Quedlinburg zu mir sagte: "Ich bin so sehr offen für alles...". Das stimmt.

S. ist ohne Grenzen. Sie ist so offen, dass sie sich als Projektionsfläche und Erfüllungsgehilfin für andere eignet. Ich höre, wie sie von ihrer Wut erzählt, weil ein Kollege sie hintergangen hat, und ich frage sie, was sie jetzt tun wird. Der Gedanke, irgend etwas zu tun, ist ihr vollkommen fremd. "Aber er wollte doch so gern...". Ja, der Kollege wollte so gern sein Ding durchziehen, seine Vorstellung davon, wie es zu laufen hat. Und sie hat ihn gelassen und wird dafür kein Dankeskärtchen, kein Blumenbouquet erhalten. Im Gegenteil, sie wird weiter ausgenutzt, weiter hintergangen werden, weil inzwischen alle wissen, dass sie es mit ihr machen können. Am Abend wird sie auf ihr Sofa fallen und sich wundern, was sie so müde macht. Die Bestrebung, ein guter Mensch zu sein. Das Selbstbild, das mehr Bild als Selbst ist.

Obwohl ich genau weiß, dass mir kein Urteil zusteht, bin ich wieder einmal erschüttert. Nicht erstaunt über das Ausmaß ihrer Selbstverleugnung, das schon lange nicht mehr. Erschüttert deshalb, weil ich selbst das Gefühl gut kenne, die eigenen Pforten nicht schließen zu können, um die Bedürfnisse, Wünsche und Aggressionen anderer draußen zu halten.

Ich frage mich verzweifelt, wie es so weit kommt, dass Selbst-Sein als existenzbedrohend empfunden wird. Das Gegenteil ist ja der Fall, wir müssten endlich mit dem Selbst-Sein anfangen, um nicht nur überleben, sondern wirklich leben zu können. Ich bin, also schade ich. - wie kam es zur Tätowierung dieses Satzes in die Seele, der als Konsequenz nur die totale Selbstauflösung, den Selbstmord erlaubt?

Ich weiß, ich kann das Problem für S. nicht lösen. Ich kann sie nicht erreichen. Das macht mich nicht böse, es kratzt nicht an meinem Ego, aber es ist schwer erträglich, ihr bei dieser Art von Selbstvernichtung zuzusehen. Zugleich kann ich fühlen, wie wichtig es für mich selbst ist, aktiv und aggressiv zu sein. Ich merke, so will ich nicht sterben. Ich kann noch trainieren, da ist noch Spielraum zum Sein. Für sie kann ich nur hoffen.

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Freitag, 29. November 2013
Stillleben mit Kindern
Ab und an helfe ich meiner Erinnerung an meine Kindheit und Jugend gern ein bisschen auf die Sprünge, indem ich mir die alten Fotoalben ansehe, die meine Mutter in sorgfältiger Kleinarbeit über Jahre für mich angelegt hat. Meine Schwester hat auch so eine Serie, und die Tradition starb erst dann, als ich in das Alter kam, dass ich das selbst machen konnte und auch einen eigenen Fotoapparat besaß. Sie starb, weil ich nie den Nerv hatte, mich hinzusetzen und noch mal zu rekapitulieren, welche Fotos genau an welchem Ort entstanden waren, hübsche Sätzchen dazu zu schreiben und mir die dicken Alben dann ins Regal zu stellen. Für meine ersten paar allein bestrittenen Ferienfreizeiten machte ich das noch, aber dann war das irgendwann vorbei.

Trotzdem sind diese Alben für mich ein wichtiger Fundus, wenn es darum geht, mir die Atmosphäre in Erinnerung zu rufen - in meinem Elternhaus, in unseren Urlauben, zwischen mir und meiner Schwester, zu Familienfesten. Die ersten Bilder haben noch diesen gelblichen Stich, den Fotos aus den Siebzigern aus unerfindlichen Gründen nun einmal haben. Beinahe ist das so, als hätte irgendein findiger Chemiker beschlossen, dass die frühe Kindheit einen warmen, goldenen Schimmer nötig hat - zumindest in der Rückschau. (Heute bastelt man sowas dann auf Instagram künstlich nach.)

Die Gefahr beim Betrachten von Fotos liegt darin, dass man sich an nichts außerhalb dieser Aufnahmen erinnert, aber dafür sofort bestimmte Szenen vor Augen hat, wenn Stichwörter fallen wie "Weihnachtsbaum", "Wohnzimmerteppich", "Autorücksitz", "Gartenteich". Dann ist nicht klar, ob man sich wirklich erinnert oder ob man sich nur das bereits oft betrachtete Foto wieder ins Gedächtnis ruft. Ich habe in der letzten Zeit versucht, mich an die Dinge zu erinnern, die nicht fotografiert wurden. Die Telefonzelle am Ende der Straße zum Beispiel, die immer so nach abgestandenem Zigarettenrauch roch, in der ich Namen und Nummern aus dem Telefonbuch riss und sorgfältig aufhob, in der ich mit klopfendem Herzen den jeweils Angeschwärmten anrief, nur um wortlos aufzulegen, wenn sich jemand meldete.

Aber die Fotos. Gestern hatte ich mal wieder die Alben auf dem Schoß, die sich um die Zeit drehten, in der meine Eltern sich trennten und wieder zusammen-"fanden". Mir fällt immer wieder auf, dass man von außen nicht sieht, was in der Familie vor sich ging. Überhaupt nicht. Es sind Familienfotos, kurzzeitig mal ohne einen Vater. Es fällt aber nicht auf, wenn man es nicht weiß. Als er wieder im Bild ist, posiert er. Groß und langbeinig mit den schwarzen Haaren und dem schwarzen Schnauzbart, mit einer gewissen lässigen Eleganz, die anziehend gewesen wäre, wäre er sich ihrer nicht bewusst gewesen. Er konnte sich aber kaum einfach beiläufig bei irgendetwas fotografieren lassen.

Ich versuche, Distanz zwischen mich und die Bilder zu bringen und sie von außerhalb zu betrachten, was gar nicht so einfach ist. Mir fällt vermutlich auch nur deshalb auf, dass meine Mutter auf den Fotos kaum lacht oder auch nur lächelt, weil ich weiß, dass sie auch sonst kaum lachte. Und dann irgendwann legt sich der Schalter um, und ich sehe die Bilder aus einem anderen Blickwinkel. Natürlich kann ich sie niemals frei von allem Wissen betrachten, das geht nicht.

Aber bislang kamen sie mir ganz normal vor. Jetzt erst wird mir klar, wie steif und tot sie sind. Nicht allein, weil meine Mutter nicht lacht. Man sieht mich und meine Schwester häufig, als seien wir sorgfältig arrangiert. Wir sind die Elemente eines Stilllebens. In den Fotografien ist kein Leben. Ich stehe vor einer alten Lokomotive im Museum, mit geduldig-leerem Blick, bis jemand auf den Auslöser gedrückt hat. Ich hocke unter der noch kahlen Trauerbirke in unserem Vorgarten zu Ostern, dekorativ wie die Tulpen im Beet. Meine Schwester und ich nebeneinander auf der Brücke einer Wassermühle, in Ballerinaschuhen mit weißen Socken und den Sonntagskleidern. Auf der Bergwiese halte ich auf Anweisung meiner Mutter den Kelch einer Feuerlilie, unter dem Weihnachtsbaum das Geschenk in die Kamera, und am Zaun der Pferdewiese hinter unserem Haus weise ich mit der Hand auf das gerade neu geborene Fohlen, das im hohen Gras steht. Dazu die Geburtstagsbilder - in jedem Jahr derselbe Marmorkuchen mit meinem Namen in Smarties-Schrift in der Schokoladenglasur, in jedem Jahr das mit Teelichtern umstellte Frühstücksbrettchen. Auf den Bildern von etlichen Städtetrips stehen meine Schwester und ich steif vor Brunnen in Schlossparks, vor Theaterportalen, Burgtoren, auf Stadtmauern, Meran, Insel Mainau, Würzburg, München, Rothenburg ob der Tauber, Münsterland. Zu Karneval sind wir die Schaufensterpuppen für die von meiner Mutter aufwändig genähten Kostüme.

Ich sehe mir das an und denke auf einmal: "Scheiße! Das ist ein verdammtes Museum!" Komischerweise werde ich nicht traurig. Mir wird übel, speiübel.

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Donnerstag, 14. November 2013
Träumereien
Nicht annähernd so malerisch, wie es klingt. Während ich mein derzeitiges Seelenleben und die Gesamtmoral gerade als ausgewogen und angenehm einstufe, sieht das mein Unterbewusstsein anscheinend etwas anders.

Es nervt, nachts von Träumen geweckt zu werden, die intensiv sind wie das Leben am Tag. Davon, dass meine Mutter versuchte, mich mit einem Revolver zu erschießen, in voller, ernster Absicht, was nur daran scheiterte, dass das Ding nicht geladen war. Davon, dass mir im Traum immer wieder mein Vater nachstellte und mich dauernd anfassen wollte und sich völlig unberührt davon zeigte, wenn ich ihm sagte, er solle das gefälligst lassen. Wach werde ich dann auch davon, dass ich dann ungeahnt brutal werde und wild auf ihn einprügele, ihm in die Augen greife, ihm mit der Faust ins Gesicht schlage, weil er es einfach nicht begreifen will. Ich werde wach vor Wut, und mir schlägt das Herz bis zum Hals.

Ein früherer Arbeitskollege verwandelte sich in einen Weihnachtsbaum aus Plastik, behängt mit LEDs, und nur ich wußte, dass er es ist.

Und während ich normalerweise überhaupt nie von irgendwelchen fiesen Wesen träume, war neulich die Nacht voller Ameisen, die sich, angezogen von einem kaum wahrnehmbaren Duft nach irgendwas, wimmelnd auf schmaler Spur den Weg in meinen Wohnraum bahnten. Schließlich waren sie überall. Davon wach geworden und wieder eingeschlafen. Die Szenerie wandelte sich, jetzt waren es Kakerlaken, die sich vermehrten, wenn man drauftrat, und eine ölig schwarze Flüssigkeit absonderten. Ich schaufelte sie schließlich aus dem Fenster, kratzte sie vom Parkett, und es schüttelte mich vor Ekel. Das hing mir noch im Wachen lange nach.

Die Nächte sind bunt. Normalerweise mag ich das Träumen. Üblicherweise kann ich auch etwas damit anfangen. Aber allmählich reicht es mir. Ich möchte schlafen, um mich auszuruhen, meinetwegen auch, um Gelerntes und Erlebtes zu verarbeiten, aber was zum Henker kramt und wühlt da in mir?

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Montag, 28. Oktober 2013
Voll
Ich kann kaum fassen, wie voll ich bin. Mein Herz und mein Verstand laufen über, weil sie all die Eindrücke, die ich in mich aufgesogen habe, nicht in Echtzeit verarbeiten können.

Draußen stürmt es wie verrückt, und in meinem Innern schwebt Prag mit allen seinen Facetten, und ich will nicht, dass es sich setzt und die Patina von Erinnerung bekommt. Ich möchte die Erlebnisse lebendig halten und weiß doch, dass das meine Kapazitäten überschreiten wird. Alles hat diesen goldenen Schimmer, der sich - schöner als man es je hätte planen können - über die gesamte Reise gelegt hat. Von untergehender Sonne, von unerwartet warmen Tagen, metaphorisch golden, aber nicht nur.

Die Träume der letzten Nacht drehten sich um kopfsteingepflasterte Straßen und zu durchschreitende Tore, gelb gestrichene Fassaden und Ornamente an Fenstern. Um herausgebrochene Pflastersteine und Baustellen in Bürgersteigen, wehendes Laub und steile Anstiege. Meine Seele arbeitet.

Um nichts in der Welt könnte ich je auf das Reisen verzichten. Meine Augen und Ohren sind hungrig auf das Leben anderer Menschen, den Rhythmus anderer Orte und Worte, die Melodien fremder Sprache und die Eigenheiten, die Plätze ganz genau so wie Menschen in sich tragen.

Für einen Reisebericht ist es zu früh. Still processing.

Meine Musik dieser ganzen Reise (mit Dank an I.):
Honig - Empty Orchestra,
daraus gerade besonders:
In My Drunken Head

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