Sturmflut
Pflaster drüber, und gut?
Wieder mal hat jemand nach dem Begriff "verstoßene Eltern" gesucht und ist bei mir gelandet.

Und da fällt mir zum wiederholten Male auf, wie unglaublich larmoyant, verlogen und unerwachsen ich diesen Terminus finde. Bei "verstoßen" kommen mir an Autobahnraststätten ausgesetzte Hundebabys in den Sinn, oder von Heim zu Heim geschobene Kinder. Aber erwachsene Menschen, mit eigener Existenz und Lebensleistung? Das sind nicht diejenigen, die ich dabei vor Augen habe.

Gestern lief auch im Regionalfernsehen wieder einmal ein Bericht über eine "verstoßene" Mutter. Die Moderatorin kommentierte treffend im Nachhinein, dieser Beitrag sei doch ein wenig einseitig gewesen. Ja, ehrlich, ich kann sie auch nicht mehr sehen, die auf dem Sofa sitzenden, alternden Mütter mit den herabhängenden Mundwinkeln, die betroffen-selbstmitleidig in die Kamera blicken und nicht müde werden zu betonen: "Ja, also ich bin gesprächsbereit, aber mein Kind will ja nicht!" Sie hängen mir zum Hals raus, diese ewig Zukurzgekommenen, die demonstrativ leiden müssen, um sich anerkannt zu fühlen.

Angebracht wäre es, wirklich mal hinzuschauen, und zwar auch in die eigene Geschichte - um Defizite zu erkennen, anzuerkennen und dann auch souveräner mit den eigenen Fehlern umzugehen. So viele Menschen stürzen sich todesmutig in die eigene Geschichte, suchen nach den Ursachen für ihr So-Sein und nach Möglichkeiten, authentischer und weniger qualvoll mit sich und anderen umzugehen, aber diese? Gehen selbstgerecht davon aus, dass es nicht nötig sei, sich zu entwickeln und sich selbst anzusehen, an sich zu reifen und dann den Problemen entschlossen und fair entgegenzutreten. Verkriechen sich statt dessen in ihre Schutzburgen, wollen vordergründig "über alles reden", klammern aber die wirklich wichtigen Bereiche aus und hüten sich sorgfältig davor, die eigenen Verletzungen und die ihrer Mitmenschen zu sehen und zu akzeptieren. Ehrlich, was soll man da auch noch reden?

So erlebt mit meiner Mutter (die die wesentlichen Dinge, die ich ihr zu sagen hatte, mit kühler Reserviertheit an sich abperlen ließ und seitdem nichts lieber täte, als wieder die Small-Talk-Bühne zu betreten und sich irgendwie rückzuversichern, dass ich sie immer noch "lieb habe"). Und gesehen an zahlreichen anderen Beispielen, im Netz, im TV, in Büchern. Groß im Ignorieren ist sie, diese Generation.

Gerade beendete Lektüre: "Kriegsenkel" von Sabine Bode. Sehr aufschlussreich, bewegend und anregend - auch zur Geschichtsforschung in eigener Sache. Die Ergebnisse dazu gibt es in einem gesonderten Beitrag.

Meine Musik des Tages:
Maria Mena - Internal Dialogue

Daraus beschäftigen mich fortwährend die Zeilen:

"I tried to look positive at things,
Faced myself but didn't look
That was not honest
I was not healthy
I am not honest, honest."


Ergänzung (26.11.):
Mich verschlug es noch mal auf die Seite von Angelika Kindt, die ein Buch über ihr Dasein als "verlassene Mutter" verfasst hat und sich immer noch darüber wundert, dass ihre Tochter Maya nichts von sich hören lässt. Wenn ich so lese, was sie schreibt, wundert es mich nicht. Zwar postuliert sie gleich zu Beginn, keine Täter- und Opferzuschreibungen machen zu wollen und sich statt dessen um Verständigung und Verstehen zu bemühen, aber liest man in den Kommentaren auf ihrer Seite, dann bietet sich ein anderes Bild. Da schreibt eine Tochter sehr sachlich, klar und bewusst über die Geschichte ihrer Trennung von der Mutter und davon, welche Verletzungen sie in dieser Beziehung erlitten hat, und Frau Kindt bügelt die sehr offene Geschichte ab mit den Worten "Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß ich mich nicht mit dem Thema mißbrauchte, vernachlässigte oder mißhandelte “Kinder” beschäftigt habe und werde. Mich erstaunt an diesem Kommentar die Überheblichkeit."

Jemand, der ein solches Verhalten für Bereitschaft zu Dialog und Verstehen hält, ist meines Erachtens irgendwie auf dem falschen Planeten. Wie soll sie da verstehen, wie es ihrer Tochter Maya ergeht, wenn sie bestimmte Aspekte von vornherein ausblendet?

Eines fällt mir immer, immer wieder auf beim Lesen der Äußerungen "verlassener/verstoßener Eltern" auf: Auf der einen Seite werden sie es nicht müde, regelrecht gebetsmühlenartig zu wiederholen, wie sehr sie ihre Kinder geliebt haben und noch lieben, auf der anderen Seite sind beinahe alle Kommentare von einer derartig vorwurfsvollen Bitterkeit erfüllt, dass es mich nicht im geringsten wundert, dass die Kinder nicht mehr sprechen wollen. Beides zusammen geht nicht. "Gott vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" lamentiert eine Mutter. Wer auf einem so hohen Ross sitzt, sollte ehrlich gesagt nicht mehr nach den Gründen für die Trennung fragen müssen.