Sturmflut
Melancholie
Das Wort hat so etwas schattenhaftes, etwas, das sich wie ein Gewicht an den Fuß hängt, während man gerade damit befasst ist, den Kopf über Wasser zu halten. Dazu passt: Schwermut. Schwer fühlt es sich an, wenn die Melancholie nach einem greift.

Sie ist etwas anderes als Trauer und Traurigsein. Ich empfinde Traurigsein inzwischen als eine Wohltat, weil es erlaubt, den Gefühlshorizont voll auszuschöpfen und dadurch ganz zu werden.

Dennoch: Als mir mein Mann am Montagmorgen davon erzählte, Robin Williams habe sich das Leben genommen, da war ich traurig. Der Gatte gab mir John Scalzis trefflichen und respektvollen Nachruf zu lesen, ehe ich zur Arbeit fuhr, und ich stand mit hängenden Armen vor seinem Bildschirm und las und hatte Tränen in den Augen. Ich sah, dass der Gatte sah, dass ich traurig war, und ich drehte mich um und lief an ihm vorbei auf die Toilette zum Waschbecken - keine Ahnung, was ich dort wollte. Ich drehte nicht einmal den Wasserhahn auf.

Aufkommende Gefühle verlangen es von mir, dass ich mit ihnen allein bleibe. So vor dem Waschbecken stehend wurde mir schlagartig klar, dass ich es nicht gut ertrug, dass mein Mann mich weinen sah. Absurd, denn er war auch traurig, und wir haben schon oft genug miteinander geweint. Also brachte ich es schließlich doch fertig, mich in den Arm nehmen zu lassen und meinerseits zu umarmen. So, wie es einem solchen Gefühl angemessen ist.

Die Traurigkeit begleitete mich den ganzen Tag lang. Das Radio, das in unserem Büro lief, brachte stündlich und auch zwischendurch immer wieder die Nachricht vom Selbstmord des Schauspielers, und jedes Mal kroch es mir wieder die Kehle hoch, wurden mir wieder die Augen feucht. Nicht etwa, weil ich ein ausgesprochener Fan von Robin Williams war (Fantum als solches liegt mir eher fern, auch wenn ich finde, dass er einige wirklich großartige Rollen verkörpert hat, wie das niemand sonst gekonnt hätte).

Sondern deshalb, weil es wieder einen Menschen mehr gibt, der es nicht geschafft hat, das Leben zu greifen und sich zu eigen zu machen. Das zerreißt mich innerlich. Weil ich selbst schon oft genug an der Schwelle gestanden habe und drauf und dran war, aufzugeben.

"Mal ehrlich", sagte nach der dritten oder vierten Radiomeldung zum Thema mein junger Kollege, "solche Leute haben doch gewaltig einen an der Klatsche!" Die Kolleginnen widersprachen, zum Teil heftig - und ich schwieg. Ich kriegte den Mund nicht auf, denn alles, was ich hätte sagen können, wäre persönlich geworden. Es ist persönlich. Ich bin "diese Leute", nur ohne den Vollzug.

Ein paar Minuten später brachte der Norddeutsche Rundfunk diesen unsäglichen 90er-Jahre-Song von Prince Ital Joe, der honigsüß immerzu wiederholt: I want to see more happy people, I want to see more happy people. Where are all those happy people?

Happy. Sollen wir alle sein, und wir wissen, dass wir's sollen, und deswegen wollen wir es irgendwann. Auch ich habe im Büro meine Tränen zurückgehalten, meine Meinung zurückgehalten, meine Betroffenheit versteckt. Weil man über von eigener Hand gestorbene Schauspieler nicht weint, weil man die Gefühle draußen lässt und es einem nicht zum Vorteil gereicht, verletzbar, verwundbar zu sein. Das geht nur zuhause auf der Toilette.

Und genau da schließt sich der Kreis. Happy sollen wir sein. Immer happy. Zumindest noch ironisch, zynisch, aber auf keinen Fall sollen und wollen wir genau so fühlen, wie wir gerade fühlen. Bereits von unserem ersten Atemzug an lernen wir, wie wir akzeptabel sind und wie nicht, und dass es überlebenswichtig ist, akzeptabel zu sein. Ob man am Akzeptabelsein selbst letztlich krankt und stirbt, das interessiert nicht. Wer damit nicht klarkommt, hat "einen an der Klatsche".

Der Schauspieler ist der, der dem Publikum bietet, was es sehen will. Wenn es dosierte Melancholie ist, ist auch das akzeptabel, aber niemals ist anderes erlaubt, als der Zuschauer sehen möchte. Der Schauspieler spielt und spiegelt. Robin Williams spielte selbst als John Keating im "Club der toten Dichter" nicht mehr als eine Rolle, auch wenn es eine großartige Rolle und ein großartiges Spiel war.

Er war ein Mensch. Er hatte sicher auch Seiten, die andere nicht sehen wollten, vielleicht nicht einmal er selbst. Diese Seiten selbst für akzeptabel zu erklären und sich selbst dabei auch zu glauben, ist eine schwierige Aufgabe. Sie ist um so schwieriger, je kräftiger der Wind in die andere Richtung bläst. Manchmal ist es leichter, in ein Clownskostüm zu steigen.


Hoe recht je staat
Heeft met zwaarte niets te maken
Hoogstens met de wind...


Wie aufrecht du stehst,
hat nichts zu tun mit Stärke.
Höchstens mit dem Wind...

Bløf