Sturmflut
Samstag, 23. August 2014
"Sei eine Frau, keine Maus!"
Es ist Samstagmorgen, und von mir fällt alle Anspannung ab. Es ist wunderbar.

Die letzte Arbeitswoche hat mich viel Kraft gekostet. Nicht etwa, weil die Anforderungen so hoch wären, sondern weil ich gestrickt bin, wie ich nun einmal gestrickt bin. Ich bin ganz Auge und Ohr und ständig darauf aus, in Erfahrung zu bringen, ob das, was ich tue und lasse auf die passende Resonanz trifft. Ist es gut? Ist es gut genug? Bin ich gut genug?

Das verlangt niemand von mir, und ich merke, wie es mich auslaugt und stresst. Ich lege Bemerkungen auf die Goldwaage und rekapituliere sie innerlich immer und immer wieder, bis ich sie einordnen und zu einer für mich erträglichen Interpretation bringen kann. Ich bin es so sehr gewöhnt, von anderen definiert und bewertet zu werden, dass es täglich viel Energie kostet, innere Unabhängigkeit von diesen Bewertungen zu erreichen.

Ich glaube, meiner neuen Kollegin, die kurz nach mir kam, geht es ähnlich. Sie ist sehr unsicher, spricht sehr leise und nimmt sich Kritik unglaublich zu Herzen. Sie findet es schlimm, um Rat zu fragen und Dinge verkehrt zu machen, und sie sagte das auch. Und ich glaube, gerade weil sie so angespannt ist, geht manches schief. Ich kann sie verstehen.

Neulich stand sie hinter dem Stuhl unserer Kollegin und wartete, dass diese ihr Aufmerksamkeit für eine Frage widmen konnte, da lief unser Abteilungsleiter vorbei und sagte (eben beiläufig): "Sei eine Frau, keine Maus!"

Das blieb in meinen Hirnwindungen stecken. Auch das ist natürlich das Wort eines anderen, das nicht aus meinem eigenen Herzen stammt und nicht als eigene Idee geboren wurde. Aber ich finde es ermutigend. Ich habe doch die Möglichkeit, zu meinem Sein zu stehen, anstatt wie ein kleines, graues Tier unsichtbar unter dem Tisch zu hocken und zu hoffen, jemand sieht mich und tritt nicht aus Versehen auf mich.

Sei einfach du selbst! ist etwas, das sich leicht und schnell daher sagt, mag es auch noch so wahr sein. Um das Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es doch immer der Kraft, sich von Erwartungen zu lösen und zu verstehen, wer man selbst überhaupt ist und sein möchte. Es bedeutet, das ständige Sollte ich...? über Bord zu werfen, und das ist für mich unglaublich schwierig.

Wie schwierig, das begriff ich erst neulich wieder. Da kam von S. eine Postkarte, mit der sie sich darüber beklagte, ich habe ja "gar nix Liebes" geschrieben in letzter Zeit. Das lag daran, dass ich immer noch wütend war über ihre kurzfristige Absage zu Pfingsten, als sie eigentlich ein paar Tage bei mir verbringen wollte. Ich habe diese Wut und Enttäuschung nicht groß hinterfragt, sie waren in dem Moment, in dem sie entstanden, authentisch und spontan.

Ich schrieb ihr eine Antwort auf ihre Karte, in der ich ihr die Gründe für meine Wut noch einmal erklärte und auch, dass Wut nicht gut zusammengeht mit lieben Worten - zumindest nicht gleichzeitig. Im weiteren Mailwechsel beharrte ich auch darauf. Es ging mir nicht darum, Recht zu behalten, sondern darum, zu meinen Empfindungen zu stehen und mir kein schlechtes Gewissen machen zu lassen.

Und dann, abends, kam der Gatte nach mir heim, und ich las ihm meine letzte Mail vor, und er sah die Dinge ein bisschen anders als ich. Ich zerfiel zu Staub. Plötzlich war ich mir meiner Empfindungen nicht mehr so sicher, sondern spürte nur die drückende Erwartung, kein Arschloch zu sein, die Freundschaft zu S. nicht zu zerstören, Mitgefühl aufbringen zu müssen. Das war beinahe unerträglich.

Ich hatte das Gefühl, zerquetscht zu werden. Auf der einen Seite ist der dringende und lebenswichtige Wunsch in mir, auszudrücken, was in mir vorgeht und nah bei mir und meinem Empfinden zu bleiben. Auf der anderen Seite, übermächtig, die Anforderung, nichts zu tun, was mein soziales Gefüge zerstören und das Wohlwollen der mir nahestehenden Menschen gefährden könnte. Die Rechnung dabei ist nicht Ich oder die Anderen, sondern paradoxerweise Ich oder ich, denn das Feedback und die expliziten und impliziten Erwartungen der anderen sind ich-bestimmend.

Ich möchte herausfinden, ob es mir gelingen kann, eine Frau und keine Maus zu sein. Für mich war es wichtig, S. gegenüber nachdrücklich zu bleiben. Auch wenn im Hintergrund die Angst mitschwingt, sie könne mich für stur, egoistisch und hartherzig halten, so ist das doch etwas, das mir und dem, was ich fühle in diesem Augenblick entspricht.

Die Angst, ver- oder entlassen zu werden, sobald ich meine Ecken und Kanten zeige, ist groß (und die Erfahrungen bei meiner letzten Arbeitsstelle trugen dazu ja nicht wenig bei). Aber andererseits nutzt es mir überhaupt nichts, mich in Selbstverleugnung zu verlieren. Da ist Alleinsein (in dem Sinne, Freundschaften und Beziehungen zu verlieren) möglicherweise immer noch die bessere Alternative, denn zumindest bin ich dann ich selbst.

Vermutlich aber (und diese Vermutung muss zur Gewissheit erst noch reifen) werde ich gar nicht verlassen, sondern werde erst eine Person, die sich der Wahrnehmung durch andere nicht länger entzieht. Keine Maus eben.

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