Sturmflut
Freitag, 6. November 2009
Beobachten
Ich würde so gern einfach nur beobachten.

Immer wieder fällt mir erst auf, wie sehr ich mich in Bewertungen verstricke, wenn es beginnt, beschwerlich zu werden. Dabei ist es so hilfreich, nur zu schauen, zu beobachten, nachzufühlen - ohne gleich zu sagen, etwas oder jemand sei gut oder schlecht, interessant oder langweilig, aufregend oder fade, nett oder eher zickig. Sind wir so gestrickt, dass wir für alles Kategorien brauchen?

Die Handhabung meines Selbst zumindest habe ich anhand solcher Kategorien gründlich geübt. Wie bin ich eine möglichst gute Tochter, und wann gelingt mir das nicht? Ist das, was ich tue, richtig oder falsch? Wie wirke ich auf andere mit dem, was ich tue? Und wie wirken andere auf mich?

In einigen seltenen Fällen hatte ich das Glück, Menschen begegnen zu dürfen, die mich anderes lehrten, einfach durch ihre Art und Weise, zu sein. Sie lehrten mich, angenommen zu sein und anzunehmen und brachten mir bei, hinzuschauen und zu erfassen, ohne Urteil. Sie waren dabei nicht missionarisch, sondern gaben durch ihre Persönlichkeit Raum und Ruhe, um wirklich hören und sehen zu können.

Das Überleben ist bisweilen ein recht harter Kampf, und um ihn zu bestreiten, greift man wohl auf die Mittel zurück, die man eben kennt und die Sicherheit vermitteln. Dazu mag auch das Sortieren in Schubladen gehören. Die Frau auf der Straße in der Batikjacke und den flachen Schuhen ist eine Alt-68er-Ökotante. Das magere Mädel mit den hässlichen Wildlederimitat-Stiefeln und den Kunstnägeln eine Hauptschülerin. Der Mann mit dem Suppenfänger im Gesicht, Jeans und Blousonjacke ist irgendwo Schichtarbeiter... Aber was nützen mir solche Kategorien? Wenn ich hingehe und mein altbekanntes Denkschema auf alles anwende, was ich sehe, noch ehe ich es richtig gesehen habe, welche neue Erkenntnis erwartet mich dann? In den meisten Fällen wohl überhaupt keine.

Um wieviel schlimmer erst, wenn man diese Kategorien ähnlich unbarmherzig auf sich selbst anzuwenden gezwungen ist. Niemals wird man Neues in sich entdecken können unter diesen Umständen.

Ich sehe es mir an, beobachte es, und zu sehen, wie sich Verhältnisse, Umstände, Gefühle gestalten, ist wie eine Reise in ein neues, unentdecktes Land.

Meine Musik des Tages:
Damien Rice - The Blower's Daughter

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