Sturmflut
Sonntag, 21. März 2010
Glaubensfragen und Macht-Missbrauch
Wieder mal reibe ich mich an Religiosität. Das geschieht mir immer wieder.

Konkreter Auslöser ist diesmal die sich ausweitende Debatte über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Institutionen der katholischen Kirche. Angesichts dieser Vorfälle (von denen ich gut finde, dass sie endlich öffentlich diskutiert werden) kommen jetzt auch andere Fragen im Kontext aufs Tapet. Zum Beispiel, welchen Sinn, welche Funktion und welche Folgen der Zölibat in der katholischen Kirche hat. Ich finde nachvollziehbar, dass das im Zusammenhang diskutiert wird.

Gestern zappte ich und blieb dabei im SWR hängen, wo eine Wiederholung des "Nachtcafés" zu diesem Thema gezeigt wurde. Geladene Gäste waren unter anderem ein katholischer Moraltheologe, ein Opus-Dei-Vertreter, eine Ex-Nonne, die in Afrika Kondome verteilt und sich damit den Unmut der katholischen Kirche zugezogen hatte, ein von der Kirche geschiedener und mit einer Frau verheirateter Ex-Priester, ein schwuler evangelischer Pfarrer, eine Psychologin, ein atheistischer Schweizer Professor. Diese Menschen diskutierten über Begriffe von Sünde, über den Sinn und Zweck kirchlicher Moralauffassungen, über die vermeintlichen Ursachen des Missbrauchs. Natürlich war der Satz heißer Ohren mit inbegriffen.

Was mir besonders ins Auge fiel war die Argumentationsnot der Hardliner. Die Religionskritiker hatten für die meisten Ihrer Aussagen Grundlagen, anhand derer man zumindest nachvollziehen konnte, wie sie zu ihrer Haltung gekommen waren, auch wenn man vielleicht inhaltlich nicht übereinstimmte. Insbesondere die Vertreter der katholischen Kirche zogen sich aber immer gern zurück auf solche Dinge wie die "natürliche Ordnung zwischen Mann und Frau" und auf "Sittenwidrigkeit", und wenn inhaltlich gar nichts mehr half, rechtfertigte man sein eigenes stures Festhalten an bestimmten Aspekten mit der "Tradition der Kirche" und damit, eine zu fortschrittliche Haltung würde die Kirche spalten. Zum Beispiel, wenn man Frauen im Priesteramt zuließe.

Warum erzähle ich das alles... Weil mir wieder mal ins Auge gefallen ist, wie eklatant die christliche Kirche (und ich denke, da sind andere Religionen bisweilen keinen Deut besser) an der Lebensrealität der Menschen vorbeischießt. Eine religiöse "Gemeinschaft" propagiert die Nächstenliebe, verdammt aber zugleich diejenigen ihrer Mitglieder, die sich nicht an künstlich geschaffene Regeln halten wollen. Sie stempelt diejenigen zu "Sündern", die lediglich ihrem gesunden Menschenverstand und ihrem Menschengefühl folgen.

Ich finde das gefährlich, weil in diesem Zusammenhang Menschen in ein Dilemma geraten. Gerade diejenigen, die mit strengen religiösen Regeln aufgewachsen sind, müssen zwangsläufig in einen enormen Konflikt kommen, wenn es dann ans Fühlen geht. Die lebenswirklichen Gefühle stehen oft in so hartem Kontrast zum Katalog des Erlaubten, dass das viele Menschen in einen tiefen Abgrund stürzen kann. Unter diesem zweiseitigen Druck gipfelt das Verhalten so mancher Menschen dann in Macht-Missbrauch zur Kompensation der eigenen Unzulänglichkeitsgefühle. Wie praktisch, wenn zum Ausleben der diesem Machtvakuum entspringenden Bedürfnisse dann gerade ein paar Kinder oder Jugendliche zur Verfügung stehen, die sich nicht wehren können.

In meinen Augen ist das, was jetzt an Missbrauchs- und Gewalthandlungen der Vergangenheit in der katholischen Kirche aufgedeckt wird, nur das logische Resultat eines Glaubenssystems, das sich hervorragend zur moralischen Erpressung und Machtausübung an Menschen eignet. Was die Taten um nichts in der Welt rechtfertigen soll (für solch ein Handeln gibt es keine Entschuldigung), aber vielleicht zu Bedenken gibt, dass keiner als übler Täter auf die Welt kommt.

Der Opus-Dei-Mann warf in der Diskussion um den Missbrauch ein, es sei unangemessen, die katholische Kirche nun so schlecht darzustellen. Denn man müsse ja auch in Betracht ziehen, dass sich die Kirche überall auf der Welt karitativ engagiere, Straßenkindern helfe, Krankenhäuser einrichte und so weiter. Also Nächstenliebe praktiziere. Ich finde es bemerkenswert, dass diese durchaus für sich stehenden guten Taten zur Erstellung einer Kosten-Nutzen-Rechnung verwendet werden. So manchem missbrauchten Menschen wird sich bei dieser Art der Bilanzierung wohl erst Recht der Magen umdrehen. Wie viele gerettete Straßenkinder bräuchte es wohl, um einen Missbrauch aufzuwiegen? Die Formel dafür hat der Hardcore-Katholik leider nicht geliefert. Vielleicht, weil er wusste, dass ein solches Eis dünn ist.

Jemand sagte in dieser ganzen turbulenten Diskussion: "Was Jesus gewollt hat, das können Sie doch gar nicht wissen!" Er nahm damit Bezug auf die äußerst dürftige Begründung für die katholischen Moralgesetze via Traditionen, Konzilbeschlüssen und ähnlichem, die sich schlicht am wirklichen Leben der Menschen nicht mehr orientieren.

Besonders auffällig finde ich die Reglementierung jeglicher Sexualität, insbesondere aber der weiblichen. Um Religiosität geht es hier meiner Auffassung nach schon längst nicht mehr. Es geht um die Kontrolle zwischenmenschlicher Beziehungen und um die Kontrolle von Reproduktion und Erziehung. Also, summa summarum, um die Kontrolle des Menschen. Die Lebens- und Lustfeindlichkeit der katholischen Kirche ist eklatant. Die Starrheit ihrer Gesetze und der mangelnde Wille zur Veränderung spiegeln in besonderer Weise das Ausmaß der Angst wider, die dort herrschen muss, die Schäfchen nicht mehr kontrollieren zu können. Daran wird schließlich auch deutlich, was diese Institution ist: Ein hierarchisch gegliederter Herrschaftsapparat, in dem zwischenmenschliches Miteinander nur in einem klar abgegrenzten und reglementierten Raum seinen Platz hat. Interesse am Menschen nur insoweit, wie diese Menschen das höhere Interesse des Machterhalts bedienen.

Selbstverständlich gibt es innerhalb dieses Gefüges eine Menge Leute, die Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe tatsächlich praktizieren, interessanterweise sind dies dann aber gern die Selbstdenker, die Hingeher und Hingucker, die Macher. So wie die ehemalige Nonne, die sich dann irgendwann fragen musste: "Was ist falsch daran, zum Schutz der Menschen Kondome auszuteilen? Schließlich ist es eine Form der Sorge für die Menschen!"

In dieses Gesamtbild reiht sich auch die Verweigerung der katholischen Kirche ein, für die Missbrauchs-Geschehnisse Verantwortung zu übernehmen. Immer noch wird das Problem als eines aufgefasst, das sich auf moralisch verwerfliche Einzeltäter beschränkt, nicht als ein systemisches. Denn das würde bedeuten, man hätte sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen, die so unfassbar schreckliches Verhalten hervorbringen wie einen reihenweisen Kindesmissbrauch. Eine solch fundamentale Selbstkritik würde von der Kirche, wie wir sie jetzt kennen, vielleicht nicht mehr viel übrig lassen. Möglicherweise wissen die entsprechenden Würdenträger, dass es für eine Reform schon längst zu spät ist und mehr Späne beim Hobeln fallen würden, als man vertragen könnte.

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