Sturmflut
Dienstag, 15. Mai 2012
Blankes Entsetzen,
gezogen von zwei Haflingern
Allerhand Feiertage fallen in diesem Jahr ganz köstlich, so dass man zwischendurch noch einen Brückentag nehmen kann und dann unversehens richtig lange frei hat, beinahe sogar schon Urlaub. Der Arbeitnehmer nimmt in der Tat, und zwar bezahlte freie Zeit. Ich hatte in diesem Sinne das verlängerte Wochenende um den 1. Mai gerade verdaut und fand es sehr entspannend, da dräut bereits Himmelfahrt am Horizont, auch "Vatertag" genannt. Wenn der so ähnlich ausfällt wie der Muttertag, dann wird das lustig.

Wir waren schon letztes Jahr zur Muttertags-Kutschfahrt geladen, und zwar von Schwiegermama, die das als Anlass sah, ein Gefährt zu mieten, das den Namen "Kutsche" nicht wirklich verdient. Es ist schon eher ein Planwagen, und er fasst auf zwei langen Bänken die gesamte Familie: Schwiegers senior und junior samt zwei Nichten und einem Neffen sowie deren andere Großeltern, Tante, Onkel, Cousinen und Cousins. In diesem Jahr passten auch wir mit rein (nachdem wir uns letztes Jahr geschickt entzogen hatten), und zusätzlich noch etliche Kühlbehältnisse mit Bier, Radler und vor allem viel, viel Sekt. Zwischen den beiden sich gegenüberliegenden Bänken ist ein Tischchen installiert, das mit runden Aussparungen in Bierflaschengröße versehen ist und so ein verlustfreies Trinkvergnügen garantieren soll.

Unsere Gegend ist schön jetzt im Mai. Gegen ein gemütliches Dahinzockeln in guter Gesellschaft durch die ergrünte Landschaft wäre eigentlich also nichts einzuwenden gewesen, und ich sträubte mich innerlich auch nicht so sehr dagegen wie der Herr Gemahl. Kaum hatte uns der Planwagenführer samt seiner zwei Planwagenponies und Planwagen allerdings vor der Tür der Schwiegereltern eingesammelt, mehrten sich die Hinweise darauf, wie das mal wieder enden würde (nicht, dass ich es nicht ohnehin geahnt, vielleicht sogar befürchtet hätte). Der lange Flaschenhalter in der Mitte war nur der Anfang. Das Innere des Wagens war kreativ ausgestattet mit rechteckigen Schildchen, auf denen markige Sprüche standen wie "Dein Gesicht und mein Hintern könnten Zwillinge sein!", "Lieber Sekt saufen und rumbumsen als abwarten und Tee trinken!" und "Lieber einen Bauch vom Saufen als einen Buckel vom Arbeiten!". Und kaum hatten die Pferdchen ihre Hufe in Bewegung gesetzt, erschallte aus den vorn und hinten im Wagen angebrachten Lautsprechern – ja, was eigentlich? Musik mag ich's nicht nennen. Es war akustische Körperverletzung.

Von der Planwagendecke baumelte ein aus mehreren Klarsichthüllen zusammengeheftetes Büchlein mit Musiktiteln, aus denen die Passagiere sich etwas aussuchen konnten. Was sie auch taten, und zwar mit besonderem Engagement die Frau Schwiegermama und ihr Pendant von der anderen Seite der Familie. So kam es, dass wir über weite Wegstrecken mit Gröle-Liedern beschallt wurden, und das nicht nur aus den Lautsprecherboxen. Die Stimmbänder wurden verstärkend hinzugezogen und mit noch mehr Sekt geölt.

Es ist etwas vollkommen anderes, nur um die Existenz Niveaulosigkeiten zu wissen, als sie am eigenen Leib zu erleben. Die Namen derer, die diese Machwerke verzapft haben, kenne ich bis auf ein paar kleine Ausnahmen nicht und möchte sie auch nicht kennen. Der Gemahl hatte den Posten der humorlosen Spaßbremse inne und mein aufrichtiges Mitgefühl, denn er konnte sich diesem Overload nicht entziehen. Ich selbst fand das alles ebenfalls überhaupt nicht amüsant. Es war angesichts dieser Pampe nicht möglich, sich wenigstens zur Ablenkung noch zu unterhalten. Der Gatte nahm schließlich eine Geräuschprobe mit seinem Smartphone und sandte diese an seinen besten Freund mit dem Kommentar: "Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte!"

Zwischenzeitlich hatten wir uns ins Ausland begeben, was für mein persönliches Empfinden unseren Auftritt noch peinlicher machte. Der Kutscher, mit der Erfüllung von Musikwünschen befasst, achtete dabei bisweilen nicht so recht auf den restlichen Verkehr und es stauten sich hinter uns Autos und Radfahrer. Ein knappes Drittel der Fahrt verbrachte ich im Delirium, weil ich mich unterwegs nicht mit den anderen Frauen in die Büsche unseres Nachbarlandes schlagen und dort durchfeuchtete Tempotaschentücher hinterlassen wollte, quasi als Krönung der Sauftour. Ich dachte bloß noch ununterbrochen an eine ordentliche Porzellanabteilung, was allerdings den Vorteil hatte, dass die "Musik" meine Aufmerksamkeit nicht mehr so sehr fesselte.

Irgendwann hatte der Höllentrip ein Ende, die Ponies wurden vor dem Haus der Schwägerinmutter zum Halten gebracht, der Planwagen entladen, die Spirituosen wurden hinters Haus auf die Terrasse getragen, und ich konnte endlich. Die Stimmung stieg schlagartig, als es uns möglich war, Schwieger- und Schwägerinmutter aneinandergelehnt am Rande des Rasens zu parken und die stundenlang ertragene räumliche Enge durch ein Fußballspiel mit den Kindern auf dem Rasen zu kompensieren. Es wurde sogar noch richtig warm.

Trotzdem: Wenn's doch nur einmal ohne die Sauferei ginge. Kein Familienfest ohne "... noch ein Sektchen!"

Nie wieder Muttertag. Nicht so. Nichtmal aus Höflichkeit. Nächstes Jahr haben wir wieder eine Ausrede.

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