Sturmflut
Sonntag, 2. September 2012
Weserbergland (5): Gegensätze
Sobald sich der Zustand unserer Füße so weit gebessert hatte, dass er als annehmbar zu bezeichnen war, wurde uns Bad Karlshafen zu eng. Was es zu sehen gab, hatten wir gesehen. Die Erholung war einfach notwendig gewesen und die Gastfreundschaft unserer Wirtin ließ sich zu Recht als legendär bezeichnen. Jetzt drängte es uns zum Aufbruch.

Uns fehlte zu unserer ursprünglichen Planung eine Etappe, deshalb hatten wir noch einmal einen Blick in die Karte geworfen und uns eine alternative Route überlegt. Also bis nach Holzminden mit der Bahn, von dort weiter zu Fuß - endlich wieder.

Der Tag versprach warm zu werden, und bereits als wir mit unseren Rucksäcken die Weser querten, um hinauf zum Bahnhof zu kommen, brannte uns die Sonne ziemlich auf den Pelz. Restschmerz in den Füßen war immer noch spürbar, auch die Stellen, wo die Gurte der Rucksäcke auf den Schultern saßen, aber alles war erträglich. Auf dem ziemlich verfallenen Bahnsteig von Bad Karlshafen band ich erstmals meinen Strohhut vom Rucksack los und setzte ihn auf. Gemeinsam inspizierten wir den Fahrkartenautomaten und hatten dank S.s profunder Kenntnisse bald heraus, welches Ticket für welchen Preis zu lösen war.

Es war ein überaus eigenartiges Gefühl, mit der Bahn zu fahren. Landschaften, die uns ziemliche Mühen abverlangt hätten, glitten einfach so an uns vorbei. Zwischendurch hatten wir noch einmal umzusteigen, in einem gottverlassenen Nest namens Ottbergen. Die Kontrolleurin im neuen Zug stauchte uns dann bei der Vorlage unserer Fahrkarten erst einmal gründlich zusammen - das seien nicht die richtigen Tickets, das hier sei ein anderer Verbund, und überhaupt sei sie großzügig zu nennen, dass sie uns mit einer Nachlösung von 3,30 € davonkommen lasse. S. und ich schüttelten später bloß wort- und verständnislos die Köpfe, hatten uns aber weitere Diskussionen um des lieben Friedens willen geschenkt.



Auf dem Holzmindener Bahnhofsvorplatz überlegten wir uns das weitere Vorgehen und zogen uns erst einmal mit der Karte in den Schatten zurück. Schließlich erwischten wir einen Regionalbus, der uns für 1,50 € aus der Stadt fuhr und uns damit die unangenehme Latscherei am Straßenrand ersparte. Der Busfahrer war kooperativ und sehr freundlich - "Na? Zum Wandern in den Solling?" - und sagte uns Bescheid, an welcher Haltestelle wir aussteigen mussten.

Nachdem wir die letzten Häuser hinter uns gelassen hatten, umfing uns kühler Wald. Zu unserer rechten Seite verlief ein Bach, und diesem würden wir bis Schießhaus folgen. Um uns war Stille, und wir wurden zwischendurch nur von einem Forstfahrzeug überholt. Unseren ersten Halt machten wir auf einem großen, hölzernen Balkon, den jemand als Rastplatz in den Taleinschnitt hineingebaut hatte. Hier ließ es sich vorzüglich sitzen, wir naschten Kekse und Schüttelbrot, konsultierten nochmals die Karte und befanden das Ergebnis zu unserer Zufriedenheit.



Es ging stetig leicht bergan, was uns aber keine ernstzunehmende Mühe bereitete. Die Umgebung war atemberaubend schön. Beide Seiten des Hasselbaches säumten üppig wogende, sonnenbeschienene Hangwiesen, während wir im Schatten der Laub- und Nadelbäume gingen.



Das Tal schien wie aus einer anderen Welt, der umgebende Wald verwunschen, und wir begegneten keiner Menschenseele. Nur einigen Blindschleichen, die Zweigen gleich auf dem Weg lagen und die wir immer erst im letzten Moment an ihrem kupfernen Schimmer, an dem glatten Körper erkannten.





Je näher wir dem Örtchen Schießhaus kamen, um so spärlicher wurde der Wald. In der Ferne hörten wir ein Rumoren, von dem S. vermutete, es stamme möglicherweise von einem Truppenübungsplatz. Es stellte sich schließlich als Forstmaschine heraus. Der dicke Harvester stand quer über den Weg, der dröhnende Motor lief, und die Person, die drinsaß, sah uns vermutlich nicht. An dem langen Ausleger der Maschine baumelte eine ziemlich furchterregende Kralle, die einen Baumstamm nach dem anderen an der Seite des Weges stapelte und dabei gehörig hin und her schwankte. Etwas ratlos standen wir auf dem Weg. Es gab keine Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen, ohne sich in die unmittelbare Nähe des Monstrums zu begeben. Schließlich einigten wir uns darauf, die Böschung hochzukrabbeln und dem Harvester oberhalb des Weges weiträumig auszuweichen. Als wir schließlich wieder zurück auf den freien Weg hüpften, sah uns der Maschinenführer, bedachte uns mit einem "Nicht ganz dicht, diese Wanderer"-Blick und ging weiter seiner Arbeit nach. Nach der Ruhe, die uns vorher umgeben hatte, hatte die Höllenmaschine mit ihrer brüllenden Lautstärke in mir Beklemmung, ja fast schon Angst ausgelöst, und ich war froh, dass wir ihr den Rücken kehren konnten.



Allmählich öffnete sich das Tal. Die Wiesenflächen wurden größer, der Waldsaum wich zurück, und uns wurde in der Sonne reichlich warm. Wir hatten so viel getrunken, dass sogar meine zweieinhalb Liter Wasser sich dem Ende neigten. Die knappen Reste waren lediglich lauwarm.



In der Karte war kurz vor Schießhaus eine Waldgaststätte eingezeichnet, und wir hofften, dort Wasser bekommen zu können. Das Haus erwies sich allerdings als von allen guten Geistern verlassen. Im Vorgarten stand ein halb mit Plane abgedeckter Kleinwagen, und dort, wo einmal ein Schild auf die Lokalität hingewiesen hatte, hingen nur noch die Angeln an den Holzbalken.

Wohl oder übel mussten wir weiter. Schießhaus selbst lag allerdings nur noch ein paar Schritte entfernt. Wir setzten uns auf eine Bank am Ortseingang. S. kramte Studentenfutter hervor und leerte ihre Flasche. "Und was, wenn jetzt hier keiner ist?", gab sie zu bedenken und wies auf die in der Mittagshitze still daliegenden Häuser. "Dann klingeln wir und fragen einfach", sagte ich. Das erübrigte sich allerdings.

Auf der Auffahrt eines am Hang liegenden Hauses stand eine ältere Dame und fegte die Rindenreste und Holzsplitter einer Brennholzlieferung zusammen. Ich packte unsere Wasserflaschen, ging langsam auf sie zu und fragte, ob ich die Flaschen bei ihr auffüllen dürfe. Ohne weitere Umschweife zeigte sie mir einen Wasserhahn außen am Haus. "Lassen sie's ein bisschen laufen", sagte sie, "dann ist es kühler!" Wir unterhielten uns noch einen Moment lang. Darüber, wie einsam es hier oben sei, und dass das einzige Schulkind jeden Tag mit dem Taxi abgeholt werde. Dass es schwer für sie sei, ihre Kinder darum zu bitten, sie mit dem Auto zu ihrem Mann ins Pflegeheim zu fahren. Aber ja, die Landschaft sei hier schön, das stimme schon.

Wir setzten unseren Weg fort, ließen Schießhaus hinter uns und wanderten zwischen Feldern hindurch. Von seinem klapprigen Traktor grüßte uns ein weißbärtiger Mann.



Hinunter bis Schorborn verlief der Weg als breiter, geschotterter Fahrweg durch Nadelwald. Wir waren gelöster, heiterer Stimmung und redeten viel, es lief sich wie von allein. Dies war die entspannte, intime Zweisamkeit mit S., die ich so lange vermisst hatte. Dies war, weshalb wir hier waren. Unterwegs sein, einfach nur wir sein, die Gesellschaft der anderen genießen, Gedanken teilen.

Unser Tagesziel Stadtoldendorf lag noch etwa sechs Kilometer entfernt, und wir merkten allmählich, dass wir Energie tanken sollten. In der Ortsmitte von Schorborn gab es einen winzigen, von Buchenhecken gesäumten Park, in dem eine einzige Bank stand. Wir setzten uns und knabberten aus meinem Vorrat Schüttelbrot und Würstchen.



Eine Bäckerei oder einen Lebensmittelladen gab es nicht. An der Haltestelle gegenüber wartete eine Frau mittleren Alters auf den Bus nach Holzminden.



Bis zum nächsten Ort Deensen war es nicht weit. Hier bot sich uns ein ganz ähnliches Bild wie bereits in Schorborn. Die Straßen lagen verlassen in der Mittagssonne, ab und an fuhr ein Auto durch. Der einzige Unterschied war, dass hier vor einem einzigen Haus ein paar Kinder spielten. Deensen hatte sogar ein Lebensmittelgeschäft, und es hatte geöffnet. Seit wir Schießhaus verlassen hatten und durch den Wald gewandert waren, geisterte der profane Gedanke an ein Eis am Stiel durch unsere Gedanken, den wir jetzt endlich verwirklichen konnten. War noch einige Kilometer zuvor Trinkwasser das Wichtigste gewesen, erschien uns das eigenartig, beinahe schon dekadent. Der kleine Laden, in dessen Inneren uns Kühle von der sommerlichen Hitze auf der Straße erlöste, kam uns extrem zivilisiert vor. Eine ältere Dame in weißer Kittelschürze kam uns entgegen und ließ sich berichten, woher wir kamen und wohin wir noch gehen wollten. Zerknirscht berichtete sie davon, wie die großen Supermarktketten in den größeren Orten ihr Geschäft beeinträchtigten, wie schwierig es sei, trotz allem immer viel Auswahl und frische Waren zu haben. Sie packte die Schokolade, die S. kaufte, wegen der Hitze vorsichtshalber in eine extra Tüte, und wir zogen mit den besten Wünschen und selig über unser Eis am Stiel weiter.



Hinter Deensen folgte dann der vielleicht langweiligste Abschnitt unserer gesamten Reise. Es gab ab hier keinen Wanderweg mehr. Auch der in der Karte verzeichnete Weg verlief über die Landstraße. Hier wurde mit ziemlichem Tempo gefahren, und so reihten wir uns am äußersten Straßenrand hintereinander, immer auf der Hut, keinem hinter Kuppe oder Kurve auftauchenden Autofahrer im Weg zu sein. Immerhin, irgendwann gab es einen Radweg, auf dem es sich angenehmer lief als auf dem Seitenstreifen. Umgeben von Feldern und Windrädern liefen wir geradeaus, geradeaus, geradeaus. In der Ferne konnten wir den Försterbergturm sehen.

Als wir unser Ziel schließlich erreichten, waren wir ziemlich fertig und spürten auch unsere Beine und Füße wieder deutlich. Stadtoldendorf machte auf uns beide keinen besonders anheimelnden Eindruck, es wirkte heruntergekommen und ungastlich - ein Eindruck, den wir nicht wieder loswerden sollten.

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