Sturmflut
Sonntag, 23. September 2012
Geburts-Tag
Immer noch, immer noch verursacht mir mein Sein Schuldgefühle, und immer noch feiere ich mich deshalb ungern selbst und lasse mich auch nicht gern feiern. Gestern sagte ich einem Freund, dies sei kein besonderer Tag, nicht anders als das Gestern und das Morgen. "Dein Geburtstag!" sagte er, und es gelang ihm damit, wenn auch langsam, durch diese dicke Wand aus Schuldgefühlen zu dringen, die die Jahre um mich herum errichtet haben. War ich es, waren es andere? War es Zeit, Gewohnheit, Macht, die Deutungshoheit der Menschen, die wichtigen Einfluss auf mich hatten?

Heute gilt keine Entschuldigung mehr, wer es auch gewesen sein mag. Heute, wie jedes Jahr, ist es an mir selbst, herauszufinden, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte. Zeit, aus der Reaktion und Anpassung herauszutreten und wirklich zu begreifen, dass wer ich auch immer bin und zukünftig sein werde, ich gut bin. Dass es gut ist, dass es mich gibt und dass ich deshalb niemandem schulde. Weder Dankbarkeit noch Aufmerksamkeit.

Sein - so schlicht und einfach ist das, und in dieser Schlichtheit doch so unendlich kompliziert. Ich bin hier. Das ist so wahr wie alles andere um mich herum. Wenn ich mich nachts klein zusammenrolle in der behaglichen Wärme und Geborgenheit meines Bettes, dann bin ich unendlich dankbar dafür, in meinem Sein endlich angekommen zu sein, mich tatsächlich zu fühlen, existent zu sein ohne das Aber. Das Aber, das habe ich all die Jahre so sehr in mir getragen. Es stieg auf wie schmutziges Wasser aus einem Kanaldeckel, wenn alles zu viel wurde und meine Torwache den Speer beiseite gelegt hatte, um auszuruhen. Es quoll nach oben, eine giftige Mischung aus Selbstzweifel, Rechtfertigungszwang und immer wieder Schuld, Schuld, Schuld. Schuld, niemals so zu sein, wie sie mich wollten. Gefesselt von der Verpflichtung, die mit der Tatsache einhergeht, dass sie es sind, die für meine Entstehung gesorgt haben.

Der Briefträger brachte gestern die folgenden Zeilen zwischen den Deckeln einer Klappkarte:

"Heute an Deinem Geburtstag sind wir mit unseren Gedanken ganz besonders bei Dir. Wir wünschen Dir für Dein neues Lebensjahr einen guten Stern, der Dich leitet, liebe Menschen, die Dich begleiten und Gottes Segen, der Dich schützt und erhält. Wir vermissen Dich sehr."

Ich häute mich wie ein Reptil, dem wieder und wieder seine Hülle zu eng wird. Ich arbeite mich an dem ab, was mir entgegengetragen wird. Als ich gestern diese Worte las, wurde mir wieder klar, dass wunde Punkte noch längst nicht verheilt sind und eine ständige Neudefinition meines Selbst vonnöten ist. Zwischen diesen so zärtlichen Zeilen meines Elternpaares spüre ich die Spitzen, die diese alte Schuld in mir neu aufleben lassen. Dass das so ist, zeigt mir, dass mein Gefühl mich nicht trügt und dass es nicht angebracht und auch nicht angemessen ist, deshalb Zweifel an mir selbst zu spüren.

Ich fühle mich getroffen. So ist das, ich erkenne es an. Ich fühle mich unter Druck gesetzt und zu einer Reaktion genötigt, aber ich habe sie noch nicht gezeigt, ich konnte mich zügeln, und ich bin darauf zu Recht stolz. Was ist es, dass mich diesen Subtext erkennen lässt, wo andere nur gutgemeinte, herzliche Wünsche lesen? Es ist meine Geschichte mit diesen beiden Menschen, und genau die berechtigt mich dazu, das zu fühlen, was ich fühle. Und ohnehin: Ich fühle es. Was macht es da für einen Unterschied, ob andere das in Ordnung fänden oder nicht?

Was ich fühle:
Verantwortlichkeit, die mir gegeben werden soll, die zu tragen ich aber ablehne. Verantwortlichkeit dafür, dass sie sich zurückgewiesen, traurig und gekränkt fühlen, weil sie nicht bei mir sein dürfen, weil sie mich nicht besuchen dürfen, nicht einmal an meinem Geburtstag, weil ich sie nicht in meinem Haus haben will. Schuld, wieder Schuld, dafür, dass sie das Gefühl der Leere ohne ihre Tochter ertragen müssen, dass ich nicht da bin und für sie nicht der Mensch bin, den sie gern hätten. Ich trage die Verantwortung für meine Entscheidung. Ich trage sie jeden Tag, und ich trage sie gern, weil sie eine Entscheidung für mich war, für mein Leben, für Unversehrtheit, gegen die falsche Hoffnung, einmal Eltern zu haben, die sich wirklich für den Menschen interessieren, der ich bin. Verantwortung für ihre Gefühle indes werde ich nicht tragen, denn nicht ich bin es, die ihr Leiden beenden muss. Nicht meine Baustelle, nicht mein Problem. Kalt? Ganz schön kalt. Ein Spiegelbild dessen, wie kalt mir über all die Jahre in ihrer Gegenwart war. Logisches Resultat. Es ist, wie es ist.

Der Mittelteil - ach ja, Götter und Sterne. Für sich genommen sind das ein paar ganz nette Wünsche. Auch wenn ich nicht der Auffassung bin, der Führung eines Sterns und des Segens eines Gottes zu bedürfen und die Meinung nicht teile, dass der mich schützt und erhält - soweit wäre es auch so gut gewesen. Aber sie konnten nicht ohne. Sie konnten nicht verzichten auf die Anmerkungen zu ihrem eigenen Leid, sie waren nicht in der Lage, einfach gute Wünsche zu übermitteln. Lebte ich in Australien, dann wäre die große räumliche Distanz schuld daran, dass sie nur in Gedanken bei mir sein können. Bei einer Entfernung von 20 Kilometern bin ich die Ursache dafür. Wir würden ja da sein, wenn du uns nur ließest! Ich lasse sie aber nicht. Sie gehören nicht zu den lieben Menschen, die mich begleiten, und sie wissen es, sonst hätten sie nicht davon geschrieben.

Druck, auch den fühle ich. Es ist das alte Lied. Wenn du nicht so bist, wie wir dich gern hätten, dann ist es an dir, das zu ändern, denn ansonsten werden wir dich nicht mehr lieben, wir werden unsere Zuwendung verknappen, dich wissen lassen, dass du uns Kummer bereitest und mehr noch als alles andere Mühe! Schon in dem Moment, als ich morgens um sechs das Licht der Welt erblickte, war ich nicht der Mensch, den sie wollten. Ich war kein Junge. Ich bin der ewige, der lebendige Kompromiss, die wandelnde Nichterfüllung ihrer Wünsche.

Jetzt werde ich beauftragt zu ihrer emotionalen Entlastung. Die Einladung, die mir da überbracht wird, ist verführerisch. Nachgeben, damit alles wieder so sein kann wie früher, und dafür dieses schreckliche Gefühl nicht mehr fühlen müssen, von einem Schraubstock zusammengepresst, von einem gigantischen Daumen niedergedrückt zu werden. Na komm, zurück in unseren Arm, dann ist alles so wie früher! Das alte Lied läuft schon zu lange, die Platte hat einen Sprung. Stop, stop, stop!

Die Karte ist eine Aufforderung zur Reaktion. Ich reagiere nicht. Ich bin kein trotziges Mädchen, das in der Ecke sitzt und schmollt. Ich bin jemand, der seine Grenzen mit Klauen und Zähnen verteidigt, und das kommt ihnen komisch vor, weil ich sie früher niemals gespürt habe und daher auch niemals Signal gegeben habe, wenn sie darüber hinweg getrampelt sind. Als erwachsener Mensch entscheide ich über die Art von Beziehung, die ich mit meinen Mitmenschen führen möchte. Ernährer für emotionale Vampire zu sein, gehört nicht dazu. Und wenn ich mal den vorsichtigen, im Grunde schon beinahe zu zaghaften Versuch der Selbstakzeptanz wagen darf: Ich bin diejenige, die sich an ihrem Geburtstag etwas wünschen darf. Das bedeutet, dass es ausnahmsweise einmal nicht um die Wünsche anderer geht und darum, ihnen zu entsprechen. "Wir vermissen Dich sehr!" - darin steckt ihr Wunsch, mich zu sehen. Happy Birthday, liebes Kind. Wie schön, dass Du in unser Leben getreten bist, um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen!" Die Quintessenz unserer Beziehung.

Jeder Tag sollte von Neuem mein Geburtstag sein, an dem ich mir darüber klar werde, was ich mir eigentlich in meinem Leben wünsche. Jeder Tag kann mir wieder neu dazu dienen, alte Häute abzustreifen und zum eigenen Kern vorzudringen, anstatt immer wieder für andere Funktionen zu erfüllen. Wechselseitigkeit geht anders. Die wirklich lieben Menschen, die mich begleiten, schreiben "Wir haben noch viel vor. Ich freue mich drauf und drück Dich heute ganz besonders!" und "Möge das kommende Lebensjahr alles, was Dir gut tut, bereithalten!". Oder sie sagen einfach und schlicht "Dein Geburtstag!", wenn mich der Zweifel am Sein überkommt. Im Wort scheint der Unterschied marginal bis kaum vorhanden. Aber ich kann ihn fühlen.

Heute also, nachdem der Wachstumsschmerz abgeklungen ist, lege ich die Haut ab, auf der steht: Bin ich nicht doch für sie da? Diejenige, auf der steht: Aber ich muss doch...! Ich lege die Haut ab, auf der geschrieben steht Sie meinen es doch nur gut! und diejenige, die die Aufschrift trägt Ich bin eine egoistische Kuh!

Sie vermissen nicht den Menschen, der ich wirklich bin. Sie vermissen die Zustimmung, die sie von mir erhielten und die Pflege ihres Selbstverständnisses, dieses verzerrten Bildes einer Familie, deren Mitglieder sich auf Augenhöhe begegnen, von Eltern als Freunden ihrer Kinder. Sie vermissen die leichte Sorglosigkeit, die es noch gab, als ein Mensch in all dem um des lieben Friedens willen zurücksteckte und sich aufgab. Sie vermissen die Zeit, als die Nachbarn noch nicht nach dem Verbleib ihrer Tochter fragten, vermissen das Spiegelbild von sich selbst in meinen Augen. Vorbei, vorbei, ich bin neu geboren, ich bin anders. Ich bin nicht der Mensch, den sie wollen, ganz offensichtlich. Ich bin das nie gewesen und habe mich nur unter all den Masken versteckt, damit sie wenigstens das Trugbild liebten.

Geburts-Tag zu haben ist nicht so schlecht, wie ich zuerst dachte.

Meine Musik des Tages:
Thirteen Senses - The Salt Wound Routine

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