Sturmflut
Sonntag, 30. September 2012
Weserbergland (6):
Tristesse und Xenophobie
Stadtoldendorf war erreicht. Unsere Füße sagten "Endlich!", und wir ließen uns auf einer Bank am Ortseingang nieder, legten kurz die Beine hoch, genossen die Aussicht, dass es nicht mehr weit bis zu unserer Unterkunft sein würde und wir bald eine warme Mahlzeit würden zu uns nehmen können.

Die Annahme, bald angekommen zu sein, erwies sich allerdings als Irrtum. Bis zu Tisch und Bett sollte es noch eine Weile dauern. Hinter dem Ortsschild von Stadtoldendorf begrüßte uns eine gewisse Tristesse. Mit Kunststoffschindeln verkleidete Wohnhäuser, argwöhnisch schauende Menschen. Wir hatten Durst, waren müde. Der Weg führte uns durch ein Gewerbegebiet, durch Unterführungen aus Beton, über ein Sportgelände, vorbei an einem Freibad. Wo uns anderswo Leute unterwegs freundlich gegrüßt hatten, schlugen uns in Stadtoldendorf nur skeptische Blicke entgegen. Wir ließen eine weitere hässliche, graffitybeschmierte Bahnunterführung hinter uns und bogen um die Ecke, hinter der unsere Unterkunft lag.

Es war schwierig gewesen, hier etwas Vernünftiges zu finden. S. hatte gründlich gesucht, und diese Pension war im bezahlbaren Rahmen übrig geblieben. Auf der weitläufigen Terrasse standen neue Lounge-Gartenmöbel aus Kunststoffgeflecht, an den Tischen saßen einzelne Grüppchen und aßen. Wir betraten den Bau über die Terrasse und fanden uns in einer Art überdimensioniertem Vereinsheim wieder. Der Laden war, so erfuhr ich später, ein ehemaliges Soldatenheim, denn Stadtoldendorf war einmal Kasernenstandort gewesen. Möblierung und Architektur aus den Achtzigern, viel Beton, viele Dachschrägen, rotbraun geflieste Treppenaufgänge, Standascher, Spinnweben. Am im Halbdunkel liegenden Tresen begrüßte uns schließlich ein stämmiger Mann in Kochkleidung. "Mal sehn, wo wir Sie hinstecken! Für zwei hatten Sie reserviert. Ach ja. Zweierzimmer oder lieber Doppelzimmer? Zweier. Naja, dann in die 6. Kommse ma mit!"

Der freundliche Herr führte uns die Treppen hinunter in den Keller, vorbei an einem Billardtisch und einer ausladenden Wandvitrine, die mit Schieß- und Fußballtrophäen vollgestopft war, hinein in eine Kellerkneipe. "Ja, hier is dann unsere Sportsbar, da können Sie heute abend das Fußballspiel Deutschland - Italien gucken. Draußen ist auch eine Großbild-Leinwand, da kommen viele Leute!" Er ging weiter uns voraus, durch eine von der Kneipe abzweigende Stahltür, die in einen Wirtschaftstrakt führte. Hier standen Bohnerbesen und Kabeltrommeln, Wischmops und Eimer herum. Er schloss eine vom langen, düsteren Flur abzweigende Tür auf und zeigte uns unser Zimmer. Eine winzige Nasszelle gehörte dazu, auf die er einen kritischen Blick warf. Dann rief er in den Flur einer jungen Frau zu: "Sachma, hast Du die 6 noch nicht sauber gemacht?" Das Mädchen beteuerte, das gleich in Angriff zu nehmen, die Betten seien schon frisch bezogen, Handtücher seien auch da. "Ja, hier haben Sie ihr Zimmer. Über das Bad wischt gleich nochma einer drüber." Und ließ uns in unserer Unterkunft allein, die mit einem Jugendherbergszimmer mehr gemein hatte als mit einer Pension. Kuschelig im Kellergeschoss, nah an der Sportsbar. Unser Traum.

Wir ließen unser Zeug im Zimmer, tauschten die Wanderschuhe gegen Flip-Flops und gingen hinauf auf die Terrasse, um etwas zu essen. Das kühle Bier war in Ordnung, die Bedienung eher rustikal und die Speisekarte der deutschen Provinz angemessen: Jägerschnitzel mit gemischtem Salat. Zigeunerschnitzel mit gemischtem Salat. Schnitzel Wiener Art mit gemischtem Salat. Alles mit einem Hauch von Glutamat, aber immerhin liebevoll angerichtet. Die dazu servierten Fritten leicht pappig und flau, aber sättigend. Bereits zu diesem Zeitpunkt beschlossen wir, hier nicht zu frühstücken. Nach und nach trafen aus allen Richtungen passend gekleidete Fußballfans ein und strömten am Gebäude vorbei nach unten in Richtung der Kellerkneipe, um das große Ereignis nicht zu verpassen.

Ich wollte noch mit dem Gemahl telefonieren. S. machte sich also schon auf den Weg in die Sportsbar, um den Anpfiff nicht zu verpassen, während ich mich auf der inzwischen vollkommen leeren Terrasse im Strandkorb zurücklehnte und mich gemeinsam mit meinem Liebsten über das erste Tor für Italien freute. Im Hintergrund konnte ich das enttäuschte "Ohhhhh!" der unten versammelten Fangemeinde vernehmen, während wir uns ins Fäustchen lachten.

Nach beendetem Telefonat ging ich dann auch nach unten. S. hatte mir einen Stuhl frei gehalten und ein Bier bestellt. Die Kellerräume waren gerammelt voll, die Leute drängten sich dicht an dicht, behängt mit Blüten-Halsketten in den Deutschlandfarben, mit bemalten Gesichtern und Trikots. Ich fühle mich in Gegenwart deutscher Fußballfans immer unbehaglich, aber die Stimmung hier setzte mich regelrecht unter Strom. Es schwebte so viel Testosteron im Raum, dass man es beinahe mit Händen greifen konnte. Bei jeder vermeintlichen Fehlentscheidung des Schiedsrichters wurde sofort laut gebrüllt, heftige Kraftausdrücke fielen. Balotelli, der die beiden Tore für die Italiener schoss, konnte natürlich auf das entsprechende Posieren nicht verzichten, was ohne jegliche Umschweife mit einem lautstark in den Raum gebrüllten "Scheiß-Neger!" quittiert wurde.

Ich war schließlich erleichtert, der penetranten Deutschtümelei und dem ätzenden Zigarettenrauch zu entkommen und keinerlei bierselige, begeisterte Siegesfeiern vor unserem Fenster ertragen zu müssen. S. war enttäuscht über den Ausgang des Spiels. Ich hatte so viel Fußballbegeisterung bei ihr nicht erwartet, hätte es aber besser wissen müssen, schließlich ist sie eine Tochter des Ruhrgebiets. Ich verkniff mir also ihr zuliebe hämische Kommentare und schwieg brav. Die Nacht verlief ruhig, was ohne Zweifel der Niederlage der deutschen Mannschaft zuzurechnen war. Ich war dankbar.

Unseren Aufbruch am nächsten Morgen gestalteten wir so zügig wie möglich. Wir liefen in die Innenstadt Stadtoldendorfs, um einen Platz zum Frühstücken aufzutun und fanden schließlich ein recht ordentliches Café in der Ortsmitte, das zu vernünftigen Preisen Brötchen, Kaffee und gekochtes Ei offerierte. Was wir sonst so in Stadtoldendorf sahen, entsprach unseren Eindrücken vom Vortag: Die Stadt war trist, voller Baustellen, alles hing wie Flickwerk irgendwie auf Halbmast und war reichlich heruntergekommen, man sah kaum Menschen auf der Straße. Möglich, dass die Stadt auch schöne Ecken hat, aber wir bekamen sie nicht zu Gesicht. Vielleicht hat ihr geschadet, dass sie als Garnisonsstadt aufgelassen worden war. Wir selbst fühlten uns allerdings so wenig willkommen und wohl hier, dass wir auch keine Ambitionen hegten, das genauer zu ergründen.

Nach dem Frühstück schulterten wir unsere Rucksäcke, versorgten uns an einem Supermarkt an der Ausfallstraße mit Mineralwasser und Brötchen und machten, dass wir wegkamen. Wir bedauerten es nicht im geringsten, Stadtoldendorfs letzte Häuser hinter uns zu lassen und diesem merkwürdigen Ort den Rücken zu kehren. Vor uns lag eine neue Etappe, eine, die uns ausführlich entschädigen würde für die grauen und trostlosen Eindrücke.

Deshalb auch keine Fotos.

Permalink



... früher