Sturmflut
Mittwoch, 12. Juni 2013
Frau? - oder - Mann?
So titelte in der vergangenen Woche die "Zeit", und die Schlagzeile kündigte eine Streitschrift aus der Feder von Harald Martenstein an zum Thema Genderforschung.

Martenstein, Momentchen! Das war doch der, der sich vor der Schneckisierung der Geschlechter fürchtete, oder deutlicher formuliert, davor, dass es zukünftig nur noch Fränner und Mauen geben würde, weil alle bis zur totalen Unkenntlichkeit ge-gender-mainstreamt würden. Irgendwie hat der Mann einen Komplex, was das betrifft. Mich deucht, er ist vielleicht ein recht unsicherer Mann.

Ich las nochmal den Titel der "Zeit", garniert mit Bildern von jeweils einem sehr androgynen Mann und einer sehr androgynen Frau: Frau? oder Mann? Und mein Reflex war: "Ehrlich, wen interessiert das?"

Wen interessiert, ob die Abgebildeten das sind, für das man sie zuerst hält, oder das, was sie auf den zweiten Blick sind? Wen interessiert, ob der Säugling im Kinderwagen des Nachbarn ein Junge oder ein Mädchen ist? Wen interessiert, ob sich Männer und Frauen - gemessen an der althergebrachten Vorstellung - auch wie solche verhalten? Seltsamerweise, so scheint mir, sind das in erster Linie die Traditionalisten. Sie sind diejenigen, die für alles eine Schublade brauchen. Die unbedingt ermitteln müssen, ob gute Autofahrkünste für eine Frau typisch oder untypisch sind. Die unbedingt festlegen wollen, was die meisten Männer oder Frauen tun und was an dem Verhalten einzelner als abweichend gewertet wird. Denen es nicht ausreicht, Menschen zu kennen, die so sind, und andere, die anders sind.

Ich bin keine Freundin derjenigen Feministinnen, die immerzu auf die chronische Benachteiligung der Frauen pochen und das schlichtweg Böse immer bei den Männern suchen. Gegen solche Vertreterinnen in der Genderforschung wendet sich Martensteins neuester Artikel unter anderem, und das tut er zu Recht. Zugleich bemerke ich aber in seinem Geschreibsel zum wiederholten Mal eine seltsame Mischung aus Herablassung und Ungerechtigkeitsparanoia, mit der er seine eigenen hellsichtigen Momente gleich selbst gründlich wieder zerstört.

Eine offensichtlich grundlegende Schwierigkeit besteht wohl darin, das, was Individuen tun, können und fühlen, nicht gleich in einen Geschlechtszusammenhang zu stellen. Den Menschen in der Kochschürze oder im tiefergelegten Auto zu sehen, ist das offensichtliche Problem. Es ist ein in der Wissenschaft anerkanntes und durchaus auch probates Mittel zum Erkenntnisgewinn, aus Beobachtungen Rückschlüsse zu ziehen auf eine Gesetzmäßigkeit. Wenn nun aber die Mehrheit der Kochschürzenträger weiblich ist und die Mehrheit der Fahrer von tiefergelegten Autos männlich, warum muss man dann so anmaßend sein und daraus ein Gesetz ableiten? Nämlich dasjenige, dass den Männern das risikofreudige, denkbefreite Protzen mit Statussymbolen und den Frauen die hausgebundene, nährende, sorgende Tätigkeit bereits in den Genen liegt? Das ist ungefähr so logisch wie zwischen der globalen Erwärmung und dem Verschwinden der Piraten auf den Weltmeeren einen Zusammenhang herzustellen, obwohl man beobachten kann, dass beides stattfindet. Zumindest sollte die Wissenschaft in der Lage sein, ihre aus Beobachtungen gewonnenen Erkenntnisse stets kritisch in Frage zu stellen und zu überarbeiten.

Überhaupt halte ich es für problematisch, etwas zum Gesetz zu erklären. Diese Anmaßungen zu hinterfragen und stattdessen die Frage nach der sozialen Konstruktion der Verhältnisse aufzuwerfen ist ein großes Verdienst der Genderforschung, auch wenn sie sich nebenbei oder anschließend bisweilen gründlich vergaloppiert hat.

Ich las neulich bei Journelle einen tollen Artikel über das "Normale" und die Vielfalt, den ich sehr erfrischend fand. Ständig müssen wir werten, und auch die Kategorisierung der Geschlechter beinhaltet eine solche Wertung, ganz gleich, ob sie je nach "Eigenschaften" von Mann und Frau positiv oder negativ ausfällt. Die Werterei beginnt schon bei der Kategorisierung in "normal" und "unnormal", in diesem Fall für Mann und Frau, und gesellschaftliche Sanktionen folgen auf dem Fuße.

Eigentlich ist es vollkommen gleichgültig, ob es beispielsweise für eine Frau als normal oder unnormal erachtet wird, sich in ein Automobil zu setzen und im Wortsinne um die gesamte Welt zu fahren. Clärenore Stinnes jedenfalls erachtete es als für sich möglich und erstrebenswert und tat es. Darin war sie authentisch.

Diejenigen, die sich in die genetische Determination von Verhaltensweisen verbeißen, verbauen sich und ihren Mitmenschen eine ganze Bandbreite von individuellen Möglichkeiten. Das ist, was mich so sehr ärgert. Konservative und Biologisten versuchen verkrampft, die Möglichkeiten, die uns die Biologie mitgibt, zur Verhaltensmaxime zu erheben, die sie nicht ist. Dann werden - unter dem Deckmäntelchen des besseren Verständnisses für das andere Geschlecht - pauschale Statements über typisches Männer- und Frauenverhalten abgegeben, und schon wird aus dem Kerl der schlechte Zuhörer und aus der Frau die dreidimensional verwirrte Aneckerin. Ausgemachter Blödsinn, wenn man mich fragt. Ich kann ein Kind kriegen, aber ich muss es nicht wollen. Mein Nachbar könnte einen Hammer in die Hand nehmen und ein Spielhäuschen zimmern, aber er muss es nicht wollen. Mein Neffe kann ein toller Fußballer werden, aber er muss es nicht wollen. Meine Freundin kann einen großen Kleiderschrank voller schöner Sachen haben, aber sie muss es nicht wollen.

Mal davon abgesehen, dass es schön wäre, gar nicht mehr werten zu müssen und einfach akzeptieren zu können, wie Journelle sehr passend bilanziert, steht man doch grundsätzlich eher vor der Frage, ob man selbst ganz persönlich mit den Eigenschaften des Gegenübers zurechtkommt oder nicht. Mir wäre so ein tiefergelegter Protzbrocken in meinem Leben ganz und gar nicht recht, weil ich Menschen mag, die wissen, wer sie sind und auf Show verzichten können. Und wäre mein Mann des Zuhörens nicht fähig, so wären wir wohl nicht zusammen. Dasselbe gälte auch für meine Freunde und Freundinnen - sie wären keine solchen, wenn sie solche Charakterzüge besäßen.

Was mich aber am meisten stört ist, dass bei der (angeblich naturwissenschaftlich-evolutionistisch begründeten) Argumentation der Geschlechter-Kategorisierer vollkommen unter den Tisch fällt, was man an Erkenntnissen in der Epigenetik hinzugewonnen hat. Dass nämlich eine genetische Fundierung vieler Merkmale zwar möglich ist, aber das Aktivieren und Abrufen bestimmter genetischer Codes sich immer auch nach den Umweltverhältnissen richtet, in denen ein Mensch gezeugt, geboren und aufgezogen wird. Was in der Steinzeit (angeblich) gegolten hat, muss im letzen Weltkrieg nicht mehr gegolten haben. "Ist halt so!" ist ein Argument, das einfach nicht mehr zieht. Wir verändern uns fortwährend, sonst würden wir auch gar nicht in der Lage sein, zu überleben.

Ich werde nicht bestreiten, dass es Männer und Frauen gibt, und dass ein Mann ein Mann ein Mann ist und eine Frau eine Frau eine Frau (und mancher Mensch alles mögliche dazwischen). Insofern ist Herr Martensteins Befürchtung, wir würden alle zu geschlechtslosen Schnecken, von denen man nicht mehr weiß, was sie sind, wohl eher unberechtigt. Mit dem Verhalten ist es etwas anderes. Dass der Besitz eines Penis beispielsweise das leidenschaftliche Tragen von Stöckelschuhen nicht ausschließt, sieht man an Jorge Gonzalez (was auch immer der Einzelne von ihm halten mag). Extrem untypisch, ja, zweifelsohne. Aber der lebende Beweis dafür, dass hier überhaupt nichts biologisch determiniert ist. Auch, wenn manche da vielleicht erst einmal eine gründliche Recherche fordern würden, wie der Hormonstatus des Knaben ist und ob seine Frau Mama in der Schwangerschaft eventuell absurde Dinge getan hat, die den armen Fötus-Jorge von der vorgezeichneten typischen Entwicklungsbahn geschubst haben - weil man ja für alles Abweichende bitte immer eine Erklärung braucht, sonst fühlt man sich unsicher.

Mann oder Frau, das interessiert mich nicht wirklich. Die Frage ist lahm. Viel interessanter ist die Frage, was ich da für einen Menschen vor mir habe, was ihn auszeichnet, was er fühlt und denkt, wer er ist. Das setzt natürlich eine gewisse Offenheit des Herzens und des Kopfes voraus. Ist die gegeben, dann werden auch Fragen danach, ob Homosexuelle gute Eltern sein können oder Mami eine Rabenmutter ist, weil sie ihr Kind in die Kita gibt, zweitrangig. Das könnten wir uns dann schenken. Ich schätze, das dauert nur leider noch eine ganze Weile.

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